NG|FH:Pandemie, Klimakrise und nun auch noch Krieg – hat die EU schon verstanden, wie brenzlig die Lage auch für sie selbst und ihre Zukunft ist?
Schulz: In den Institutionen der EU ist das vielen bewusst. Die Regierungschefs, die Kommission, das Parlament: Da ist die dramatische Entwicklung der vergangenen Monate sehr genau verstanden worden...
...aber im Brüsseler Routinebetrieb wird selten deutlich, dass all die aktuellen Krisen geradezu schreien nach mehr, nach einem konsequenteren Europa.
Die Europäische Union ist kein Bundesstaat, wie es ihre Gegner, die sie zerstören wollen, mit ihrer Propaganda gerne behaupten. Solche Gegner sind zum Beispiel die Regierungen in Polen und in Ungarn. Sie ist ein Bündnis souveräner Staaten. In den bisherigen Vertragsstrukturen wird die staatliche Souveränität garantiert – auf die nun ja diejenigen am meisten pochen, die umgekehrt finanziell am meisten von den Gemeinschaftsgeldern profitieren. Diese staatliche Souveränität findet ihren Ausdruck im Vetorecht. Davon machen Zerstörer wie Viktor Orbán fleißig Gebrauch, sogar jetzt in der aktuellen Krisensituation. Mittel- und langfristig wird die EU das aufgeben müssen, um handlungsfähig zu bleiben angesichts der Größe der Herausforderungen.
Aus Sicht der Zerstörer darf sie nie mehr werden als ein Staatenbund?
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil schon 1993 ausdrücklich den Begriff eines Staatenverbundes gewählt. Die EU ist ein Novum, angesiedelt zwischen Staatenbund und Bundesstaat. Das ist eine neue Entwicklung der regionalen Integration, die im 20. Jahrhundert begonnen hat. Sie lässt sich weiterentwickeln, ohne zum Bundesstaat zu werden, aber auch ohne sich den Zerstörern von außen und innen auszuliefern. Deshalb hoffe ich, dass wir bei den Vertragsrevisionen, die aus meiner Sicht dringend anstehen, die Mehrheitsentscheidung wirklich zum Grundprinzip machen können – auch in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Kann es sein, dass diese nächsten Schritte auch deshalb so schwerfallen, weil mit der Osterweiterung Länder hinzukamen, die in der EU eher die Garantin ihrer nationalen Befreiung sahen, statt weitere Internationalisierung zu wollen?
Das gab es sicher auch, aber für die große Mehrheit war es damals anders. In Polen, in Tschechien, in Ungarn: Überall gab es in den Regierungen überzeugte Europäer, die zwar den Aspekt der Befreiung sahen, geknüpft aber an die Aufnahme in einen demokratischen Staatenverbund mit dem Ziel, die Prinzipien dieser westlichen Wertegemeinschaft auch in ihren Ländern zu verankern. Länder, die bis dahin Diktaturen gewesen waren.
Wenn andere – wie Herr Orbán in Ungarn oder Herr Kaczyński in Polen – sich heute auf diese Freiheitsidee berufen, in ihrer alltäglichen Politik aber genau das Gegenteil der individuellen westlichen Werte praktizieren, sieht man den Widerspruch zu den Beitrittsjahren. Damals ging es zugleich um eine Freiheitsbewegung und einen Demokratisierungsakt. Was daraus für heute folgt? Wir dürfen im Kampf um Demokratie und Freiheit nicht den Rechten das Feld überlassen.
Wenn nun angesichts der aktuellen Herausforderungen auch Vertragsrevisionen – also Änderungen der EU-Verträge – angepackt werden: Was müssten dabei die wichtigsten neuen Impulse sein? Und wie realistisch ist das?
Das Europaparlament hat ja ausdrücklich einen Konvent zur Revision der Verträge gefordert, also steht das jetzt auf der Tagesordnung. Ich sehe dabei inhaltlich vor allem drei Punkte.
Erstens: Wenn die EU ein weltweiter politischer Akteur sein will, braucht sie die Aufgabe des Vetorechts in der Außen- und Sicherheitspolitik. In anderen Politikfeldern haben wir das ja schon – mit einem Entscheidungsmechanismus, der garantiert, dass ein bestimmter Prozentsatz der Staaten zustimmt, mit dem zugleich eine Mehrheit der Gesamtbevölkerung der EU repräsentiert wird.
Zweitens: Wir haben eine Austrittsklausel, aber wir haben keine Ausschlussklausel. Dass einer wie Orbán die EU immer wieder am Nasenring durch die Manege führen kann, ist nicht akzeptabel. Nur der niederländische Regierungschef Mark Rutte hat bisher deutlich ausgesprochen: Mit einem Mann wie Orbán hat Ungarn in der EU nichts verloren. Wir brauchen Mechanismen, die Obstruktion von innen künftig verhindern.
Drittens: Die beträchtliche Menge an Geld, die in der EU ausgegeben wird, muss noch strikter gebunden werden an die Einhaltung der EU-Verträge. Dass das funktionieren kann, sieht man am Beispiel Polen und der dortigen Justizreform. Die Regierung in Warschau feilscht immer noch, aber das Instrument des finanziellen Drucks ist sichtbar geworden.
Bei diesen drei Punkten fehlt die Forderung nach einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, das der französische Präsident befürwortet – also letztlich das Stichwort Kerneuropa...
Das wird oft falsch diskutiert. Wir haben ja ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wir haben Staaten im Schengen-Raum, andere sind es nicht. Manche sind im Schengen-Raum, aber nicht in der EU. Andere sind in der EU, aber nicht in der NATO. Es gibt privilegierte Partnerschaften der EU zu Nicht-Mitgliedstaaten. Viele Mitgliedstaaten sind im Euro, andere sind es nicht. Dänemark wiederum ist zwar nicht im Euro, hat seine Währung aber 1:1 an den Euro gekoppelt. Dort heißt der Euro also Krone. Schweden müsste rechtlich eigentlich in den Euro-Raum eintreten, hat aber eine Volksabstimmung dagegen – ein nicht geklärtes Problem. Das alles ist nichts anderes als ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten.
Sollten wir uns diese Debatte also sparen?
Es gibt da zwei Punkte. Der Euro-Raum ist tatsächlich eine besondere politische und soziale Schicksalsgemeinschaft, wie man jetzt auch angesichts der Debatte um die Zinserhöhungen der EZB sieht. Diese Staaten werden sich auf Dauer – insbesondere in der Haushaltspolitik – die Frage stellen müssen, ob sie sich von Ländern wie Ungarn oder Polen vorschreiben lassen, was sie tun können. Zum anderen werden wir in der Nachbarschaftspolitik eine Anbindung an den Binnenmarkt der EU brauchen, die stärker ist als der bisherige Vor-Beitrittsstatus, aber geringer als die Vollmitgliedschaft. Diese beiden Punkte sind es letztlich, die aktuell mit einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gemeint sind.
Bedeutet das, dass wir bei den Ländern des Balkans und demnächst auch bei der Ukraine faktisch noch lange nicht über Vollmitgliedschaft zu reden brauchen?
Diese Staaten werden auf Dauer Mitglieder der EU werden und werden müssen. Aber dann muss man die Zusagen auch einhalten, dass ihnen ökonomisch bis zum Zeitpunkt der Vollmitgliedschaft jetzt schon für die Menschen spürbar geholfen wird.
Aber diese Hilfen müssen gleichwohl an politische Bedingungen hinsichtlich Demokratie und Liberalität geknüpft werden, auch hinsichtlich der Abgrenzung von Putins Russland oder konsequenter Eindämmung des Einflusses von Oligarchen?
Das ist das, was ich meine. Wir müssen unsere Zusagen einhalten, aber wir müssen sie mit Werten verknüpfen. Wenn die Bedingungen nicht erfüllt werden, hat man natürlich das Recht, Zusagen auszusetzen. Wenn sie aber erfüllt werden, brauchen wir Verlässlichkeit bei der EU. Beispiel Nord-Mazedonien: Nach dem Ende des Namensstreits hat Griechenland sein Veto gegen einen Kandidatenstatus aufgegeben – aber Emmanuel Macron hat ein Veto eingelegt. Bulgarien blockiert den Prozess ebenfalls mit einem Veto. Das passt nicht zusammen, es ist kontraproduktiv. Das sind die Erschütterungen in der Glaubwürdigkeit der EU, mit denen Staaten am Ende in die Arme anderer getrieben werden.
Nun erwartet insbesondere die Ukraine ja, dass die EU auch sicherheitspolitisch eine Art Schutzraum wird. Geht das, Schutzraum zu sein ohne Schutzmacht werden zu wollen?
Die Europäische Union ist zunächst mal eine Schutzmacht für Demokratie. Deshalb denke ich, dass die ukrainische Debatte auch eine Debatte über die kulturelle und politische Identität des Landes ist. Es ist heute eindeutig demokratieorientiert und nach Westen gerichtet. Eine militärische Schutzmacht ist die EU ganz sicher nicht. Sie wird ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aber auch in diese Richtung entwickeln müssen.
Also soll sie es werden, muss sie es werden?
Man braucht diese Frage nur mit der Novemberwahl 2024 in den USA verknüpfen, um zu sehen, wo die Herausforderung liegt. Sollte dann wieder Donald Trump oder ein ähnlich denkender Mensch Präsident werden, die NATO erneut für obsolet erklären und America first propagieren, dann sind unsere mittel- und osteuropäischen Partner ganz schnell in einer Situation, in der sie die EU sehr viel dringender brauchen, als sie heute denken. Es gibt in Mittel- und Osteuropa inzwischen schon viele Leute, die das so sehen und deshalb bereit sind, eine Weiterentwicklung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu fördern.
Auch mit dem Risiko einer immer dominierenderen Rolle militärischen Denkens?
Unsere Ausgangsfrage war, ob die Europäische Union sich über die Bedeutung und Tragweite der jetzigen Krisen im Klaren ist. Wenn die Antwort darauf Ja bleibt, ist man relativ schnell bei dieser zweiten Antwort: Mehr Verteidigungsfähigkeit ist noch keine Militarisierung. Militarisierung wäre eine militärisch unterlegte Außenpolitik, wie sie die USA oder China betreiben. Das ist nicht die Aufgabe der EU. Aber sich wehren zu können gegen einen militärischen Angriff auf unser Demokratiemodell: Das ist sogar eine Pflicht.
Aber eine gewisse Dynamik, wenn erst mit dem Ausbau von Militär begonnen wird, gibt es doch auch? Kann dann der zivile Ansatz der bisherigen Außenpolitik unter die Räder kommen?
Zu den Leuten, die da »Vorsicht, Vorsicht« sagen, gehöre ich auch. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Jetzt muss die Verteidigungsfähigkeit ausgebaut werden – doch wer glaubt, damit den Vorrang der Diplomatie, der zivilen Konfliktlösung, der Stärkung multinationaler Organe hinter sich lassen zu können, macht einen fatalen Fehler. In dem Maße, wie wir uns militärisch stärken, müssen wir unsere Entwicklungszusammenarbeit und unser multilaterales Engagement als Europäische Union stärker machen als je zuvor. Das ist im Überlebensinteresse unseres Demokratiemodells. Und wir müssen zwingend den Ländern helfen, die von negativen Auswirkungen unserer Sanktionen gegen Russland betroffen sind. Sonst verschwindet die Hoffnung auf Demokratie in diesen Ländern.
Reden wir uns damit die Dinge nicht schön, weil auch reiche Länder das Geld nur einmal ausgeben können und der Erwartungsdruck in Richtung auf mehr Militärausgaben jetzt massiv aufgebaut wurde?
Den Eindruck habe ich zumindest in der Bundesrepublik nicht. Wir wollen auch den Entwicklungshaushalt deutlich erhöhen und entsprechende Umschichtungen sollte es genauso im EU-Haushalt geben. Ich bin da eigentlich zuversichtlich, denn die progressiven Kräfte sind in den Regierungen Europas ja in der Mehrheit – und wir haben kapiert, dass es diese Gleichzeitigkeit geben muss.
Ist eine europäische Armee, von der jetzt wieder öfter die Rede ist, eigentlich eine richtige oder eine falsche Vision? Oder ist auch das eine falsche Debatte?
Mit einer europäischen Armee ist nichts anderes gemeint als das, was es in der NATO auch gibt: Souveräne Staaten haben ihre eigenen Armeen, aber die sind miteinander in einer tiefen Kooperation verbunden und es muss nicht jeder für sich alleine jede militärische Fähigkeit einkaufen. Es wird nicht so sein, dass irgendwann in Brüssel ein Generalstab der europäischen Streitkräfte sitzt.
Auch beim anderen großen Thema, der Klimakrise, steht die Frage im Raum, ob wir uns Illusionen machen, weil das Geld nicht für alles zugleich reichen wird. Ist die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie in der europäischen Klimapolitik wirklich realistisch? Stehen wir da mit der beginnenden Inflation nicht vor neuen Zielkonflikten?
Es gibt keine offenen Prioritätenentscheidungen mehr, wenn es um den Klimawandel geht. Es ist eindeutig, dass der Klimawandel uns alle bedroht. Unsere individuelle Lebensführung, unsere Demokratiemodelle. Der Planet ist in Gefahr. Deshalb hat der Kampf gegen den Klimawandel oberste Priorität. Man kann ja nur verständnislos den Kopf schütteln, wenn große Autokonzerne die Beschlüsse des Europaparlaments zum Ende des Verbrennungsmotors begrüßen, während gleichzeitig die FDP und der ADAC dazu Nein sagen. Da muss man sich fragen: In welcher Welt leben die eigentlich?
Die Prioritätenfrage ist geklärt. Und was die Finanzierung angeht, gilt doch: Jede Generation hat Schulden aufnehmen müssen, um die Zukunft zu sichern. Wenn der Planet bedroht ist, ist es keine angemessene Antwort, über eine Schuldenbremse zu diskutieren. Wir müssen der nächsten und übernächsten Generation eine lebenswerte Welt hinterlassen. Es geht gar nicht anders, als das, was dazu nötig ist, über Kredit zu finanzieren.
Die Inflation wird in anderen – vor allem den südeuropäischen – Ländern noch sehr viel gravierendere Auswirkungen haben als in Deutschland. Muss da nun auch die EU noch deutlich verstärkt Kredite aufnehmen, um da etwas auszugleichen?
Die Antwort ist ganz einfach. Wenn der Wiederaufbaufonds der EU, der ja eine Kreditbasis hat, jetzt nur den Banken über höhere Zinsen zugutekäme, würde seine Wirkung verpuffen. Ich denke, dass wir angesichts von Inflations- und Zinsentwicklung sehr bald über die Aufstockung des Fonds reden müssen. Und das wird auch geschehen, denn das Geld muss in die Wirtschaft investiert werden und nicht nur zur Finanzierung steigender Zinsbelastungen der einzelnen Staaten dienen.
Anpassung heißt Ausweitung?
Ausweitung und Verschiebung der Prioritäten. Der EU-Kommission wird man sagen müssen, dass Defizitkriterien, die außer Kraft gesetzt wurden, gerade jetzt nicht wieder in Kraft gesetzt werden müssen. In der jetzigen Entwicklung muss man sich wirklich fragen, ob ein Wachstums- und Stabilitätspakt, der fast 30 Jahre alt ist, heute noch Gültigkeit haben kann. Nach meiner Ansicht ist er in seiner ursprünglichen Form nicht mehr haltbar.
Zurück zur globalen Rolle der bisher so selbstfixierten EU: Ist nicht auch das ein eher zwiespältiges Thema, eines mit Risiken und Gefahren? Wäre eine Weltmacht Europa wirklich wünschenswert?
Ja, wir sind zu selbstfixiert. Und wir müssen dringend darauf achten, dass die EU in der veränderten Welt handlungsfähig wird. Dass sie das nicht wie ein einheitlicher Staat kann, ist klar. Es wird eine andere Form der weltweiten Einflussnahme sein. Aber die Europäer dürfen sich keine Illusionen machen: Die Mehrheit der Staaten sind keine Demokratien europäischer Provenienz. Deshalb ist unser Demokratiemodell nicht weltweit verankert, es basiert auf der vom Staat garantierten individuellen Freiheit, auf der Würde der Einzelnen und dem gegenseitigen Respekt.
Russland und China sind Mächte, die dieses Modell nicht wollen und auch Trump führte die USA im entgegengesetzten Sinne, mit Respektlosigkeit, Intoleranz und Würdelosigkeit. Also muss Europa, wenn es sich selbst behaupten will, ein weltweit handelnder Player werden.
In einem Kampf der Systeme künftig, mit Europa als einer Art Führungsmacht?
Absolut, zumindest was die Prinzipien anbetrifft. Es ist ja nicht so, als würden die Völker dieser Erde auf Diktatoren warten. Es ist das Interessante an unserer Entwicklungszusammenarbeit, dass unsere Prinzipien das sind, was die Menschen weltweit wollen. Das europäische Modell stößt zwar nicht bei den Diktatoren, aber bei den Völkern auf Gegenliebe. Wenn die Völker aber das Gefühl haben, dass die Diktatoren ihnen eine bessere Lebensgrundlage bieten als die Demokratien, dann werden die Demokratien verlieren.
Oder auch dann, wenn Europa sich mit seinem Anspruch übernimmt?
Das ist richtig, aber diesen Eindruck hatte ich bisher nicht.
Nun diskutiert Europa nach innen aber ständig über die eigenen Demokratiedefizite. Wollen wir dauernd zu viel an uns selbst ändern?
Wenn wir unsere inneren Widersprüche nicht aufheben, führt das immer weiter zur Lähmung der EU. Im Prinzip ist es nichts anderes als das, was das Europaparlament dauernd fordert. Wir brauchen dringend eine Reform in Richtung mehr demokratischer Handlungsfähigkeit – und deshalb führt an der Debatte darüber auch kein Weg vorbei.
Wird Europa in diesen Zeiten eigentlich gut geführt?
Wenn man es auf die Institutionen in Brüssel bezieht, beantworte ich das mit einem klaren Nein. Aber man muss natürlich auch sehen, dass die Institutionen in Brüssel immer nur so stark sind, wie die Staats- und Regierungschefs sie sein lassen. Insofern ist das immer eine doppelte Frage...
...die auch doppelt gemeint ist. Mangelt es nicht insgesamt an starken Führungsfiguren mit positiver Ausstrahlung?
Die Antwort ist da nicht ganz leicht. Die Präsidentin der Kommission muss sich natürlich immer darüber im Klaren sein, dass sie 27 Machthaberinnen und Machthabern gegenübersitzt. Das braucht die Fähigkeit zur Diplomatie einerseits und zum Klartext andererseits. Was überhaupt nicht geht, ist der Versuch sich durchzulavieren.
Letzteres als Beschreibung von Frau von der Leyen?
Die Einsetzung der jetzigen Kommissionspräsidentin ist nicht das Resultat der Europawahl, sondern Ergebnis eines Deals, von dem man nicht genau weiß, wie er zustande kam. Eingestielt jedenfalls von Frau Merkel und Herrn Macron. Damit hatte Frau von der Leyen von Beginn an erhebliche Legitimationsschwierigkeiten. Die Mehrheit für sie im Europaparlament war ein Zugeständnis an die reale machtpolitische Lage. Eine Belastung für die Präsidentin ist das geblieben.
Aber sie hat zu Beginn ihrer Amtszeit dann eine Reihe größerer Projekte ins Schaufenster gestellt. Der Green Deal, die Wiederaufbaufonds nach Corona, die Digitalisierung, die Demokratiedebatte. Ist das vom Ansatz her ein guter Weg?
Das wird man erst am Ende der Amtszeit sehen. Aber außer den Oberschlauen in Deutschland, die es immer schon wussten, hat nach der Europawahl auch niemand geahnt, dass wir heute in einer Kriegssituation sind. Da ist es übrigens ziemlich paradox, dass in Deutschland über Naivität gegenüber Russland räsoniert wird, während eine Kommissionspräsidentin die EU führt, die lange Chefin der deutschen Armee war und in dieser Zeit – sehr vorsichtig ausgedrückt – nicht besonders durch weitsichtigen Ausbau der Verteidigungsfähigkeit aufgefallen ist.
Ist die EU durch diese Kriegssituation eigentlich letztlich gestärkt worden – oder ist sie nur gezwungen, irgendwie zu handeln, wie logisch und nachhaltig auch immer?
Das ist eine sehr spannende Frage. Es ist zu früh, zu beurteilen ob die EU durch den Krieg gestärkt oder geschwächt würde. Aber die Kriegssituation hat eines auf den Tisch gebracht: Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen. Eine starke EU, die nach innen und außen handlungsfähig ist, oder trotz der dramatischen weltweiten Veränderungen ein Weiter-so, ein sich Durchwursteln von Kompromiss zu Kompromiss.
Das ist eine Frage vor allem an einen Teil der osteuropäischen Staaten, die bisher ständig auf der Bremse standen. Lange Zeit die Tschechische Republik, die jetzige polnische Regierung, Ungarn schon lange. Die interessanteste Entwicklung dabei ist ja gerade, dass die internationale Kooperation der Ultranationalisten scheitert, wenn die Ultranationalisten anfangen, konkret zu werden. Dann haben sie nämlich ultranationalistische Interessen und die stoßen sich natürlich an den Interessen der anderen Nationalstaaten. Das kann man bei Herrn Orbán gerade wunderbar beobachten. Deshalb meine Empfehlung: Gemeinsam sind wir stärker als alleine.
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