NG/FH:Frau Bentele, der Sport sieht sich als Brückenbauer in der Gesellschaft – stimmt das noch?
Verena Bentele: Der Sport ist eines der Bänder, von denen die Gesellschaft zusammengehalten wird – und es ist ein wichtiges Band. Im Sport haben die Menschen die Möglichkeit zu gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnissen, er ermöglicht gemeinsame Emotionen, bringt Menschen aus unterschiedlichen Schichten und mit unterschiedlichen Geschichten und Fähigkeiten zusammen. Davon geht eine große Kraft aus, nicht zuletzt zur Inklusion und Integration. Die Begegnungen im Sport sind oft unkomplizierter als in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Das ist großartig für eine lebendige Gesellschaft.
Hat die Strahlkraft nicht eher abgenommen?
Das kommt darauf an, wohin Sie schauen. Die Nachfrage nach einem niedrigschwelligen Vereinssport im gesellschaftlichen Alltag ist riesig. Zu sehen ist aber auch, dass wir über viele Probleme im Sport diskutieren müssen - hinsichtlich einer Ökonomisierung des Sports oder über die Schwierigkeiten in der Gewinnung von Ehrenamtlichen. Und es gibt Sportgroßveranstaltungen, die derzeit in Teilen der Gesellschaft ein Akzeptanzproblem haben – wenn etwa extra dafür Sportanlagen errichtet werden und wenn der Kommerz mehr im Vordergrund steht als der Sport.
Polarisiert das dann, statt zusammenzuführen?
Diese Debatte polarisiert sehr. Ich finde das schade, weil dabei leicht der Zauber des Sports verloren geht.
Das ist dann ja eine Debatte über die Realität des Spitzensports. Ist der inzwischen zu abgehoben von der Gesellschaft?
Er wirkt manchmal vielleicht ein wenig abgekoppelt, was auch damit zu tun hat, dass er im Leben vieler Menschen keine große Rolle spielt. Umso wichtiger ist es, dass die Begeisterung für Sport wieder einfacher erlebt werden kann. Schön finde ich zum Beispiel, dass inzwischen Wettkämpfe teils mitten in der Stadt ausgetragen werden, nicht im abgeschlossenen Stadion, nur zugänglich für die, die teure Tickets kaufen. Das heißt auch in der Diskussion um Großveranstaltungen, dass diese mehr mitten in der Gesellschaft stattfinden sollten. Es muss mehr erkennbar werden, dass sich auch der Sport auf den Weg gemacht hat in Richtung Nachhaltigkeit und soziales Engagement. Wichtig wäre aber, dass das nun auch von vielen in der Gesellschaft wahrgenommen wird.
Stehen dagegen nicht die Erfahrungen mit dem internationalen Sport, der vielfach ziemlich schamlos als Image- und Machtfaktor für problematische Regime benutzt wird?
Sport ist politisch, gerade und besonders, wenn Menschen für Ihr Land starten. Natürlich kommt es deshalb auch darauf an, für welche Werte wir stehen. Da geht es nie nur um ein schönes Siegerfoto mit einer Goldmedaille. Neben der politischen Seite stören sich viele Menschen, gerade in Deutschland, auch an der massiven Ökonomisierung des Sports. Sport wird immer stärker wirtschaftlich betrachtet. Wenn es dann auch noch Korruptionsvorwürfe rund um die Vergabe von Großereignissen gibt, lenkt das natürlich vom Wesen des Sports, von Begeisterung und schönen Momenten, ab. Die Gehälter von Fußballspielern oder auch die immensen Ablösesummen dort, sind für viele andere Menschen unwirklich. Sport ist heute ein Milliardengeschäft, das können wir auch als leidenschaftliche Sportler nicht zurückdrehen. Umso wichtiger ist es mir, dass Sport für viele Menschen zugänglich, erlebbar und eine persönliche Bereicherung ist. Das gilt natürlich auch für den Sport, den wir selbst betreiben.
Lässt sich der Widerspruch auflösen?
Millionen Menschen pilgern ja jedes Wochenende ins Stadion, gerade der Profifußball ist für sie die wichtigste Leidenschaft. Für mich als Sportlerin ist daher die beste Art, das aufzulösen: Wir müssen mehr über den Sport selbst sprechen. Welche Bedingungen brauchen Sportlerinnen und Sportler? Wie können alle Menschen Sport treiben? Wie können Profis Sport und Karriere unter einen Hut bringen? Darum muss es doch vor allem anderen gehen. In der Öffentlichkeit ist viel zu wenig Thema, was man im Sport an Fähigkeiten lernt, welche positiven Erfahrungen das fürs Leben bringt, übrigens auch als Qualifikation für den Beruf. Selbst das ist ein Thema, an dem sich zeigt: Sport ist Gesellschaft – und Sport ist politisch.
Ist die Sportpolitik richtig aufgestellt, wenn sie zugelassen hat, dass die Wahrnehmungen so weit auseinanderdriften?
Wir haben vergangenes Jahr bei den Special Olympics in Deutschland, den Weltspielen für Menschen mit geistiger Behinderung, gesehen, wie sich Sport und Gesellschaft zusammenführen lassen. Die Sportlerinnen und Sportler aus der ganzen Welt waren in Deutschland unterwegs. Die Menschen in den Gastgeberorten und die Sportlerinnen und Sportler haben sich so kennengelernt. Begegnungen schaffen: Das ist zentral. Wir sollten auch immer den Menschen selbst die Chance geben, aktiv etwas mitzumachen – und nicht nur auf den Tribünen zuzuschauen. Und wir müssen die Bedingungen für das Ehrenamt verbessern. Das sind sportpolitische Grundanliegen, über die wir wirklich etwas ändern könnten.
Ist der Sport da manchmal zu selbstfixiert?
Sport und Gesellschaft sind ja nicht zwei verschiedene Welten. Wir sollten da kein Gegeneinander aufbauen. Das bedeutet aufseiten des Sports: Er muss sich stärker auch damit beschäftigen, was heutzutage in einer kritischen Gesellschaft gewollt ist. Bei einer Bewerbung um Olympische und Paralympische Spiele ist das geradezu zwingend. Da sollten wir zeigen, wie die Menschen im Land mitgenommen werden können. Ich wünsche mir Spiele in Deutschland – Spiele, auf die sich die Menschen freuen. Der Sport hat sich da auf einen neuen Weg gemacht. Jetzt ist es an uns, Leute mit in die Diskussion zu holen, die kritisch bis skeptisch sind. Nicht nur diejenigen, die sowieso mit dem Herzen dabei sind.
Nicht nur Leute wie Sie?
Ja, ich glühe für den Sport. Er hat mein Leben geprägt und gestaltet, mich muss niemand mehr vom großen Wert des Sports überzeugen. Als jemand, die nicht sieht, habe ich durch den Sport so viel an Unabhängigkeit gewonnen, so viel an Anerkennung erlebt: Ich würde es gerne vielen anderen Menschen ermöglichen, solche Erfahrungen zu machen.
Ist die Unterstützung der Bundesregierung für eine deutsche Olympiabewerbung diesmal ausreichend?
Ich als ehemalige paralympische Sportlerin wünsche mir ein klares Bekenntnis bis hinauf zum Bundeskanzler – und dann natürlich tatkräftige Begleitung der Wirtschaft und aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. Für ein Sportfest, auf das wir uns gemeinsam freuen und das unvergesslich ist. Dazu gehört auch eine Verlagerung der Wettkämpfe, zum Beispiel aus der Sportstätte hinein in die Stadt.
Ist es eigentlich noch zeitgemäß, dass die Paralympischen Spiele organisatorisch getrennt von den Olympischen Spielen zwei Wochen später stattfinden?
Diese Diskussion gibt es immer wieder. Bei Olympischen Spielen kommt dann immer das Argument, dass dort die Wettkampfkalender sehr voll sind und der paralympische Sport nicht untergebracht werden kann. Bei anderen großen Wettkämpfen gibt es inzwischen erste Versuche, parallel olympische und paralympische Sportarten durchzuführen, das gefällt mir sehr.
Wenn es um Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Bereichen geht: Die Kultur wird immer genannt, aber steht dem nicht eine ständige Konkurrenz um Geld im Weg?
Ich wünsche mir sehr, dass Sport und Kultur mehr Gemeinsamkeit zeigen, dass sie sich auch mehr vernetzen. Beide wollen ja etwas Ähnliches, wollen Köpfe und Herzen erreichen, Menschen zusammenbringen, Perspektivwechsel ermöglichen. Beim Sport konkret: dass Menschen über sich hinauswachsen, dass sie etwas Neues lernen, andere Menschen treffen. Die finanzielle Konkurrenz steht dem manchmal entgegen. Wichtig wären mehr finanzielle Verlässlichkeit und Planbarkeit für beide. Wünschenswert ist vor allem eine Vernetzung wichtiger gesellschaftlicher Bewegungen, das kann allen mehr helfen als schaden.
Trägt der Sport manchmal nicht einen zu einseitigen objektiven Leistungsbegriff vor sich her, ausschließlich fixiert auf die messbare Höchstleistung als Maßstab für alle – was ja schnell auch viele ausschließt?
Der Leistungsbegriff im Sport wird einerseits extrem auf Höchstleistung hin definiert. Andererseits gibt es immer mehr die sogenannten Fun-Sportarten, bei denen die Gemeinschaft und der Spaß im Vordergrund stehen. Das Spektrum zwischen einem negativ-einseitigen Leistungsbegriff und der positiven Chance, sich durch Leistung zu entwickeln, ist im Sport riesig. Für mich ist der Schlüssel: Wir dürfen als Leistung nicht nur den Rekord bewerten. Auch wenn jemand zum Beispiel nach einer Krankheit durch Sport wieder mehr Kondition aufbaut, ist das eine tolle Leistung. Es geht um weit mehr als um den Rekord, das wird zu wenig dargestellt. Erzählt wird lieber die Geschichte des Extremsportlers, der aus großer Höhe irgendwo runterspringt, geschrieben wird über Bestweiten oder -zeiten. Ich sage: Wir haben es in der Hand, welche Geschichten wir erzählen und lesen wollen.
Dann aber nochmal zum internationalen Spitzensport: Entwickelt der sich anderswo nicht gerade in solchen Fragen in eine gegenteilige Richtung?
Teilweise werden in anderen Ländern auch andere Debatten geführt. Zum Beispiel bei der Frage, ob es gut ist, einige wenige international erfolgversprechende Sportarten massiver zu fördern und andere dafür weniger – oder ob es wichtiger wäre, im Sport eine große Breite zu haben. Ich bin da sehr entschieden. Ich finde die Breite, die Vielfalt extrem wichtig. Ich finde, es sollten die Menschen Förderung bekommen, die sich reinhängen in ihren Sport und etwas bewegen, für sich und für andere. Deshalb müssen unbedingt auch die nichtolympischen Sportarten gefördert werden. Wir sollten froh sein über diese Vielfalt, die wir haben.
Und doch erschlägt der Fußball am Ende alles?
Oft. Aber der Fußball hat ja auch viel Positives. Weil so viele Menschen Fußball spielen und weil so viele Menschen den Fußball lieben.
Mit Blick auf den Sportsommer 2024, zuerst mit viel Fußball und dann mit Olympia/Paralympia: Was ist da die größte Chance und was die größte Gefahr?
Die größte Gefahr wäre, wenn diese Großereignisse wegen aktueller Entwicklungen unter einem negativen Stern stünden, beispielsweise wegen Dopingfällen oder enttäuschter Erwartungen. Das Positivste wäre, wenn die Menschen in Zeiten, in denen es sonst sehr viel um politische Krisen und riesige Herausforderungen geht, durch gute Nachrichten für den Sport positiv motiviert und begeistert wären.
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