NG/FH: Herr Mützenich, es sind so viele Menschen unzufrieden wie selten – was passiert da gerade?
Rolf Mützenich: Es ist auf jeden Fall eine schwere Zeit für alle im Land. Die Sorgen um die Zukunft beginnen mit dem Wissen darum, dass sich die Arbeits- und Wirtschaftswelt verändern muss. Wer heute einen Job hat, mag sich relativ sicher sein. Wichtig ist aber auch, dass wir mit einem klaren »Ja« antworten können, wenn es um die Zukunft unserer Söhne und Töchter geht.
Ist die Wirtschaftslage denn wirklich so dramatisch und prägend, wie es die Interessenverbände behaupten?
Sie ist nicht dramatisch – aber Wandel bedeutet immer auch, dass man sorgenvoll in die Zukunft blickt. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, es ist auch nichts Schlimmes. Mein Vater war Maschinenschlosser, da gab es oft genug Grund zur Sorge und Aufgeregtheit. Aber heute ist es ein Strukturwandel, der sich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt.
Was ist der Kern dieser Transformation? Wirklich nur die Wirtschaft oder die Lebenskultur insgesamt?
Natürlich geht es da nicht nur um die Wirtschaft. Es geht sehr generell um die stärkere Individualisierung von Arbeit, die zum Beispiel nicht mehr immer nur in gemeinsamen Räumen des Produktionsbetriebes stattfindet. Deshalb wird zum Beispiel das Leben auf dem Land wieder attraktiver, weil man auch von zu Hause aus – alleine oder in Gruppen – arbeiten und wirtschaften kann. Das hat dann wieder Auswirkungen auf das kulturelle Umfeld und auf das Verständnis von Arbeit selbst.
Ist inzwischen nicht die Kluft zwischen Stadt und Land offenkundig?
Vielleicht wird die traditionelle Kluft durch den Wandel der Arbeitswelt sogar geringer, weil die Lebenswirklichkeit in Stadt und Land von den Menschen nicht mehr zwingend und unmittelbar als gegensätzlich wahrgenommen wird.
Angesichts der Wahlergebnisse stehen aber doch grüne Urbanität und traditionelles Landleben gegeneinander – oder ist das schon wieder ein Klischee?
Es ist so pauschal gesagt ein Klischee. Wir sollten vorsichtig sein, nicht von oben herab die tatsächliche Vielfalt auszublenden. Auch in der Politik wird gewiss immer wieder mit Klischees gearbeitet, um sich selbst zu orientieren und auch, um der eigenen Anhängerschaft Orientierung zu geben. Ich selbst sehe das aber viel offener, viel pluralistischer.
Ist das Land denn so pluralistisch? Die Lagerbildung ist offenkundig, quer durch alle Themenbereiche…
Die Lagerbildung gibt es, aber diese Lager sind durchlässig. Das ist ja zum Beispiel eine der großen Herausforderungen der Gewerkschaften: Ein Teil der Kollegenschaft neigt zur AfD hin – das bedeutet aber doch nicht, dass sich daran nichts ändern lässt. Die Herausforderung liegt darin, die Attraktivität vermeintlich einfacher, aber eben falscher und auch nicht zielführender Antworten zu erschüttern. Das war übrigens immer schon die Herausforderung der Arbeiterbewegung.
Was bedeutet: Wir brauchen eine Friedenspolitik nicht nur nach außen, sondern auch nach innen?
Ich scheue mich, den Begriff des inneren Friedens so einfach neben den des äußeren Friedens zu stellen. Zu meiner Grundhaltung hat immer gehört, dass es Konflikte zwischen Arbeit und Kapital gibt und weitergeben wird, die man nicht einfach befrieden kann. Da geht es darum, gegensätzliche Interessen zu sehen und aus dem Gegeneinander zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen. Frieden nach außen ist da etwas ganz anderes. In der aktuellen Polarisierung geht es eher darum, dass unsere freie politische Ordnung angegriffen ist und es zentral wichtig wird, dass die große Mehrheit in der Gesellschaft aktiv zu dieser Ordnung steht.
Wo war da eigentlich der Kipppunkt? So richtig neu sind viele der heutigen Fragestellungen ja nicht. Nach Jahrzehnten engagierter politischer Bildungsangebote neigen plötzlich ausgerechnet viele Junge zu den Rechtspopulisten. War da irgendwo ein Fadenriss?
Ja. Und letztlich sehen wir gerade hier, dass es immer auch um eine kulturelle Auseinandersetzung geht, wie sie sicherlich nicht von Beginn an auf dem Schirm war. Dazu zählt nicht zuletzt, dass es bei jungen Menschen manchmal schlicht darum geht, etwas auszutesten oder zu provozieren. Das war in früheren Generationen nicht anders. Es hat noch nie gereicht, nur mit rationalen Fakten zu argumentieren. Aber das soll nicht heißen, dass wir die Entwicklung heute sozusagen eher spielerisch wahrnehmen sollten. Bei allen Verirrungen in Gewalt hinein, die es auch früher mal gab: Die Gefahr von rechts ist heute für die Grundfesten unserer Demokratie insgesamt sehr viel größer.
Gibt es heute auch einen Verlust an sozialer Erdung, an sozialer Heimat?
Früher war das soziale Auffangbecken jedenfalls größer, zumal durch die vielen großen Organisationen mit Traditionsbindungen. Die Frage nach politischer Heimat hatte deutlich mehr mit gemeinsamer kultureller Identität und mit Gemeinschaftserlebnissen zu tun. Heute sind die Auffangbecken sehr stark in den medialen Bereich gewandert.
Das Ich ist schon an die Stelle des Wir getreten?
Das sagen die Älteren schnell und manchmal auch etwas überheblich. Mir fällt jedenfalls auf: Die früheren Mitmachangebote waren in diesem sozialen Sinn beständiger.
Sind wir schon an dem Punkt, an dem man um einen Kern der Gesellschaft bangen muss, der noch einsteht für das Ganze der Demokratie?
Das ist die Auseinandersetzung, in der wir stehen. Der Begriff der politischen Mitte gefällt mir dabei nicht so sehr. Aber dass wir ein Zentrum brauchen, das für viele Menschen anziehend ist, halte ich für entscheidend. Ein Zentrum andererseits, das so plural ist, dass es die Möglichkeit gibt, sich dort mit sehr unterschiedlichen Ansichten zu bewegen. Mir ist da wichtig, daran zu erinnern, warum es so gut und wichtig gewesen ist, Volksparteien zu haben: Sie haben die politischen Aushandlungsprozesse, die heute vorwiegend öffentlich und mit entsprechender Radikalität stattfinden, zunächst mal intern organisiert und strukturiert und auf Parteitagen am Ende auch befriedet. Dahin kann man nicht so einfach zurückkehren, aber die positiven Erfahrungen sollten wir doch bewahren und mit der Gesellschaft erörtern, wo bei unseren heutigen Abläufen Vorteile und wo Nachteile liegen.
Spürt man solche Bindungsverluste auch in der Arbeit der größten Regierungsfraktion?
Eine gewisse Kleinteiligkeit und Spezifizierung im politischen System hat auch in der Regierungsarbeit Platz gegriffen. Meine persönliche Maxime war immer: In der politischen Arbeit kann man es nie zu einem kompletten Meisterstück, zur perfekten Lösung schaffen, die keine Ecken und Kanten mehr hat und zu 100 Prozent funktioniert…
…und trotzdem wird intern jetzt immer alles immer nochmal neu infrage gestellt und nochmal neu austariert?
Ich sehe manchmal eine Erwartungshaltung in Regierung und Parlament, Meisterstücke zu produzieren. Das wird nie gelingen, weil es neue Herausforderungen und Interessengegensätze am Ende verhindern. Nehmen wir das berühmte Gebäudeenergiegesetz: In der fachlichen Anlage des zuständigen Ressorts war es so gedacht, dass die Klimaziele auf diese Weise mathematisch exakt erreicht worden wären. Allerdings ohne mitzudenken, dass man dafür auch einen sozialen Konsens braucht. Das ist es, was im heutigen Aushandlungsprozess von Politik zu schnell verloren geht.
Mehrheit ist Mehrheit – eine geradezu historische Schwäche der Linken?
Immer war das eine Schwäche der Linken, die Konservativen waren da immer großzügiger. Mit der ständigen Gefahr links, dass Lösungen stark aus Sicht der politischen Fachlichkeit gedacht werden, aus Sicht der großen Apparate. Wir müssen aber immer möglichst viele mitnehmen auf dem Weg.
Ist so eine komplexe Koalition wie die Berliner Ampel von innen betrachtet eigentlich genauso nervtötend, wie sie von außen oft wirkt?
Man muss sich jedenfalls daran gewöhnen. Man muss das aber auch nicht verdammen. Es sind immer wieder Lernprozesse, die ich gerne mitmache. Kompromisse sind das Wesen der Demokratie. Dass das manchmal auch erschöpfend ist und wirkt, liegt auf der Hand.
Besonders erschöpfend war ja die Aufgeregtheit, nachdem Sie vom Einfrieren des Ukrainekrieges gesprochen hatten. Haben Sie diese harschen Reaktionen überrascht?
Nicht die Kritik hat mich überrascht, die habe ich ja auch herausgefordert. Mich hat der Furor überrascht, mit dem sie über das Ziel hinausgeschossen ist...
…vielleicht genau deshalb, um diese Debatte zu tabuisieren?
Mag sein, dass manche das im Sinn haben. Aus einer Skandalisierung kann nun mal keine ernsthafte Diskussion werden, sicherlich gehört das heute auch zum politischen Repertoire. Das fordert einen, immer wieder. Gleichwohl stelle ich die Frage immer wieder: Kann es neben militärischen Mitteln nicht auch andere Mittel geben um auf den Krieg und dessen Ende einzuwirken. Das ist Realpolitik.
Nun wirken weltweit die offenen Demokratien manchmal sehr isoliert und die großen autoritären Blöcke kooperieren. Liegt das nicht wie eine Käseglocke über jeder kleinen innenpolitischen Debatte?
Da findet sich Neues – und wo sich Neues findet, entstehen Unruhe und Orientierungslosigkeit. Ganz praktisch: Wenn man mit Menschen zusammenkommt, die aus dem Globalen Süden kommen, sagen viele von denen: Der Krieg in der Ukraine ist Euer Krieg. Andere sagen: Kriege, wie dort einer stattfindet, haben wir jahrzehntelang durch Euer Mittun aushalten müssen. Jetzt müsst ihr das auch aushalten. Wenn man sie dann um eine gewisse Konstruktivität bittet, sagen sie: Das geht nur, wenn ihr respektiert, dass wir die Mitgestalter der internationalen Ordnung der Zukunft sind. Und einige, die dritte Gruppe, sagen: Endlich zeigt sich, dass 500 Jahre weiße Vorherrschaft durch den Westen zu Ende gehen. Wenn wir nicht begreifen, dass dies vielerorts das Bild gegenüber dem Krieg in der Ukraine ist, werden wir es nicht schaffen, Partner an unsere Seite zu holen, die uns unterstützen, diesen Krieg zumindest mal in einen Nicht-Krieg zu überführen.
Wir leben also, weltpolitisch betrachtet, in einer Umbruchsituation von historischem Ausmaß?
Definitiv. Aber sie wäre auch ohne den Ukrainekrieg gekommen. Er wirkt jedoch als Katalysator. Durch ihn ist die Gefahr der Eskalation umso größer geworden.
Ein neuer Blick auf die Welt: Ist es das, was dem Westen fehlt?
Ja, jedenfalls bei Einigen. Deswegen kann ich nichts damit anfangen, wenn manche sagen, es sei nur eine Art »Kalter Krieg 2.0«. Das meint ja im Grunde, dass sich bei uns nichts ändern muss und wir in die alten Reflexe zurückkehren. Im übrigen war der Kalte Krieg außerhalb Europas nun wahrlich keine friedliche Periode.
Was wären die Eckpunkte einer neuen weltpolitischen Orientierung?
Am besten wäre natürlich, wenn sich mehrere Zentren so austarierten, dass es zu einem gewissen Gleichgewicht kommt. Ich befürchte aber, dass wir an einem ganz zentralen Kipppunkt sind.
Hat der Westen da die großen ehemaligen Entwicklungsländer, die sich als BRICS-Staaten zusammengeschlossen haben, schon verloren?
Nicht in dem Sinne, dass sie schon einen festen neuen Block bilden. Einige fühlen sich in diesem neuen Bündnis auch gar nicht unbedingt wohl. Umso wichtiger ist, dass wir ihnen Kooperationsangebote auf Augenhöhe machen. Nicht zuletzt, um ihnen ein besseres Gefühl der eigenen Rolle in der sich herausbildenden internationalen Ordnung zu geben.
Wie lässt sich in einer solchen neuen Welt die Rolle der Sozialdemokratie definieren?
Ich wünsche mir, dass die Sozialdemokratie innerlich die Fähigkeit und gleichzeitig auch die Selbstdisziplin findet, die großen Herausforderungen glaubhaft anzupacken, personell und gedanklich. Und dass sie gleichzeitig bereit ist, die daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikte nicht weg zu moderieren, sondern Entscheidungen zu suchen und durchzusetzen. Sie hat ja gezeigt, dass sie sich dabei immer wieder erneuern kann. Wenn ich meine Fraktion betrachte, macht mir das durchaus Mut: Sie besteht aus vielen Jüngeren, Älteren mit einem großen Erfahrungsschatz und einem gemeinsamen Willen zum Erfolg und zur Solidarität.
Was konkret hat sich durch diese Verjüngung verändert?
Zunächst mal war es wichtig, die jungen Abgeordneten gut auf die Ausschüsse zu verteilen, orientiert an ihren thematischen Interessen und Fähigkeiten. Und ihnen damit zu ermöglichen, dass sie sich in all ihrer Fachlichkeit in die Arbeit vertiefen können – ohne darüber aber den großen Bogen zu vergessen. Da habe ich nach zweieinhalb Jahren den Eindruck, dass das gut gelungen ist. Und bin immer wieder überrascht, mit welch interessanten Ideen die Fachdiskussionen dann in die Fraktion hineingetragen werden. Das ist ein großes Pfund.
Aber wird der große Bogen denn überhaupt noch geschlagen in dieser auf Spezialisierung ausgerichteten Politik?
Man muss ihn immer wieder einfordern. Nehmen Sie die Haushaltsberatungen: Da erlebe ich Lösungsvorschläge, mit denen wir sehr gut zeigen können, was wir Sozialdemokraten warum tun. Zum Beispiel beim Elterngeld. Wenn wir uns nun daran machen, die Betriebsverfassung zu modernisieren, wird deutlich werden, warum es immer noch eine hohe Bedeutung hat, dass die Arbeit sich der Interessen des Kapitals erwehren kann. Vielleicht kommt es im politischen Diskurs zu wenig vor, auch weil vieles immer so sehr fachlich diskutiert wird. Und doch stellt sich bei jeder kleinen Lösung immer die Frage: Was hat das eigentlich für einen Vorteil für alle?
Beispiel Haushalt: Da geht es im großen Bogen letztlich doch längst um die Handlungsfähigkeit des Staates?
Das ist der große Bogen. Da muss uns auch niemand etwas beibringen. Aber wir haben in der Koalition zwei Partner, die über die Rolle des Staates als Korrekturinstanz ganz anders denken als wir.
Konsequenz?
Dass wir in der Koalition deutlich machen, wie wichtig in einer solchen Umbruchsituation ein Staat ist, der kritische Entwicklungen auffängt und aktiv gestaltet. Weil wir die Stabilität der Gesellschaft erhalten und wieder stärken müssen. Nicht zuletzt, weil Frustrationserfahrungen sehr schnell auch in Ablehnung der Demokratie oder sogar innere Gewalt umschlagen können.
Ist denn irgendeine Mehrheit in Sicht, in der das leichter würde?
Mehrheiten sind heute so volatil, dass sich alles schnell ändern kann. Fest hingegen steht, dass sich die langjährige konservative Hegemonie jetzt wieder zu Wort meldet und darauf setzt, ihre alte Rolle zurückzugewinnen, während auf der äußersten Rechten Blasen entstanden sind, in denen rationale Argumente überhaupt nicht mehr ankommen. In den ostdeutschen Ländern kommt oftmals die Vorstellung hinzu, man sei um sein Leben betrogen worden.
Wie umgehen mit dieser Lage, nach Wahlen und vor Wahlen, bei wachsender Stärke der Rechtsextremen in vielen kommunalen Parlamenten?
Nicht aufgeben und vor allem eine Lehre aus der Geschichte beherzigen: Wir müssen sehr deutlich machen, was es bedeuten würde, wenn eine rechte Front sich in den Institutionen festsetzen würde. Ob das wirklich passieren kann? Darüber entscheiden in erster Linie die Konservativen. Wenn deren Entscheidung aus den Niederlanden, mit einem Mann wie Wilders zusammenzuarbeiten, sich auch in Deutschland verfestigt, wird es sehr schwer für unser Land. Die Sozialdemokratie wird eine solche Entwicklung jedenfalls hart bekämpfen.
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