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© Foto: picture alliance / Shotshop | Antonio Gravante

Wir müssen reden

Die Wahl liegt nun mehr als einen Monat zurück und die Ergebnisse sind bis ins kleinste Detail analysiert. So kam die – letztlich wahlentscheidende – Stärke der Sozialdemokraten bei den Über-60-Jährigen für viele überraschend, während die CDU vor allem im Osten, dem ehemaligen Stammland Helmut Kohls, Stimmen verlor. Für die nachhaltigste Aufmerksamkeit, werte Erstwählerinnen und Erstwähler, hat jedoch Eure Wahlentscheidung gesorgt und das, obwohl Eure Altersgruppe insgesamt nicht einmal 4 % aller Wahlberechtigten ausmacht. Denn mehr als die Hälfte von Euch hat das Kreuz bei den Grünen oder der FDP gesetzt, worin auch immer das verbindende Angebot an Eure Generation besteht. Im Individualismus vielleicht?

Die Grünen haben in Eurer Altersgruppe der Um-die-20-Jährigen im Vergleich zu 2017 zweistellig zugelegt, die Freien Demokraten konnten ihr Erstwählerergebnis von damals glatt verdoppeln, bei den Männern auf erstaunliche 27 % – während die Grünen eher von jungen Frauen gewählt wurden Dass die Partei von Spitzenkandidatin Annalena Baerbock bei der Generation Fridays for Future punkten kann, ist nicht weiter verwunderlich. Die Verflechtungen zwischen den Aktivist/innen und der Partei sind eng. Luisa Neubauer, das Aushängeschild des deutschen FFF-Ablegers, ist ein prominentes Mitglied der Grünen und auch auf kommunaler Ebene arbeiten Grüne und FFF zusammen. Da existiert durchaus eine kulturelle Nähe. Die Erklärung für das Wahlergebnis der FDP ist hingegen weniger monokausal. Nicht zuletzt war es wohl die geschickte Strategie der Partei, die spürbare Unzufriedenheit in der neuen Wählergeneration über den müden Gesamtauftritt der Politik in großkoalitionären Zeiten für sich zu nutzen.

Das Ergebnis ist ein Zeichen dafür, dass beide Volksparteien es verpasst haben, sich als attraktives Angebot für junge Menschen zu präsentieren. Die Grünen und neuerdings eben auch die FDP haben sich dagegen als besonders innovativ und zukunftsgerichtet dargestellt. Was aber auch die Frage aufwirft: Was genau sucht Ihr Erstwähler/innen eigentlich ausgerechnet bei einer FDP, die seit Jahrzehnten vor allem als verlängerter Arm der Wirtschaftslobby agiert? Digitalisierung und Wiederherstellung von Freiheitsrechten waren diesmal ihre Gewinnerthemen bei Euch. Dort ist es Ihr gelungen, zwei wesentliche Anliegen der jungen Wählerschaft aufzugreifen, wie taktisch motiviert dies auch immer gewesen sein mag.

Die Digitalisierung ist ein Projekt, das seit Jahren ohne nennenswerte Fortschritte im Berliner Schaufenster stand. Die eklatante Lücke zwischen Ankündigung und Wirklichkeit haben Erstwähler/innen besonders gespürt, denn sie sind diejenigen, für die Themen der Digitalpolitik wie beispielsweise der schleppende Breitbandausbau oder veraltete Technik in den Schulen unmittelbare Konsequenzen haben. Noch schwerer dürfte aber die Debatte um die pandemiebedingten Einschränkungen der Freiheitsrechte wiegen. So waren es vor allem junge Menschen, die in den zentralen Bereichen ihres Alltags Restriktionen hinnehmen mussten. Orte der sozialen Teilhabe wurden geschlossen, darunter die Universitäten, Clubs und Sportvereine. Dennoch wurden die Einschränkungen ohne größere Proteste hingenommen, auch um ältere Menschen zu schützen. Trotzdem spielten die Nöte der Jugend in der öffentlichen Debatte viel zu selten eine Rolle. Studienanfänger/innen wurden im wahrsten Sinne des Wortes allein gelassen, Abiturfeiern ersatzlos gestrichen und spontane Zusammenkünfte junger Menschen als »Coronapartys« gebrandmarkt – während in den meisten Firmen und Büros weiter in Präsenz gearbeitet wurde. Die FDP hat daraus ein Freiheitsthema gemacht, sich als nicht-rechte Alternative zum Mainstream inszeniert und das immer wieder adressiert. Der Lohn dafür war das Ergebnis bei den Erstwähler/innen, die dieses Thema als zentrales Anliegen begriffen haben. Denen sich die FDP als Mitstreiterin auf einem möglichst schnellen Weg zurück zur Normalität angeboten hatte. Allerdings eher abstrakt, vom konkreten Handeln in den von ihr mitgetragenen Landesregierungen abgesehen. Eine weitere Erklärung: Die FDP hat es verstanden, soziale Medien in ihre Wahlkampfstrategie zu integrieren. Ihre Forderungen nach mehr Digitalisierung hat sie auch dadurch unterstreichen können. So verwundert es nicht weiter, dass der erfolgreichste deutsche Politiker auf TikTok – der Lieblingsplattform der jungen Generation – Thomas Sattelberger von den Freien Demokraten ist. Dort erklärt er seinen Millionen Zuschauern freiheitliche Werte, Vorzüge einer liberalen Steuerpolitik oder er nimmt an sogenannten »Trends« teil, die er nonchalant mit seiner politischen Agenda verknüpft. Auch Spitzenkandidat Christian Lindner, an dem vor vier Jahren das Ende der Groko gescheitert war, hat sich in den sozialen Medien plötzlich ein junges Image gegeben. Beispielsweise mit einem eigenen Wahlaufruf an die Jugend, mit viel Lockerheit (die ihm sonst nicht gerade eigen ist) in die Kamera eines jungen Fans gesprochen, der im Netz Millionen Menschen erreicht hat. Dieserart inszenierte Kommunikation findet dabei auf Augenhöhe und ohne paternalistischen Unterton statt – das stellt im Vergleich zu den übrigen Parteien, auch den Grünen, eine Besonderheit dar. Und doch ist es dieselbe, die alte FDP. Klar, dass die Freiheitssehnsucht zuletzt besonders groß war. Aber ist Euch wirklich bewusst, für welche Interessen diese Partei vor allem steht? In der Steuerpolitik für die Schonung der großen Vermögen, in der Sozialpolitik unter der Überschrift Eigenverantwortung gegen solidarische Lösungen?

Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann beschreibt Eure, hier muss ich fast sagen: unsere Generation als individualistisch, selbstbewusst und zielorientiert. Diese individuellen Ziele – das spielt der FDP in die Karten – sind bei vielen von uns tatsächlich in erster Linie ökonomischer Natur. Obwohl doch rund um die Pandemie so viel gegenseitige Rücksicht und Solidarität spürbar war.
Viele von Euch haben sicher auch den Eindruck, dass der Weg zum Wohlstand mit den althergebrachten Mitteln unrealistisch geworden ist. Dass sich die ökonomischen Verhältnisse in der Gesellschaft verfestigt haben. Die Frage ist dann aber, wie wir darauf reagieren, um das wieder zu ändern. Manch einer zeigt da neuerdings ein reges Interesse an neuen Formen passiven Einkommens. Ob es Investitionen in Kryptowährungen sind, ETFs oder verschiedene Formen des Netzwerk-Marketings, die junge Generation ist geschäftstüchtig wie selten eine vor ihr. Aber ist das ein Weg, der uns gemeinsam voranbringt? Insbesondere junge Männer sind anfällig für die Versprechen, die die vielen selbsternannten Finanz-Influencer ihnen auf Plattformen wie Instagram oder YouTube machen. Neoliberale Forderungen nach Steuererleichterungen und Deregulierungen der Finanzmärkte sind aus diesen Ratgebervideos kaum wegzudenken. Darüber hinaus versuchen die diesbezüglichen Meinungsmacher nicht einmal, ihre Nähe zur FDP zu verschleiern. Der Unternehmer Karl Ess (360.000 Abonnenten auf YouTube) beispielsweise hat seine Wahlentscheidung in einem knapp 90-minütigen Video ausführlich erklärt. Dass junge Leute von den geforderten Steuererleichterungen und Deregulierungen gar nicht selbst im propagierten Maße profitieren würden und der Online-Trading-Markt auch ein hohes finanzielles Risiko birgt, verblasst dabei leicht neben der Aussicht auf die schnelle finanzielle Unabhängigkeit. Aber diese selbstbewusste, zielgerichtete und risikofreudige Vorgehensweise deckt sich mit dem Bild, das Jugendforscher von uns jungen Menschen zeichnen – und sie passt perfekt zur Gedankenwelt der FDP. An dieser Stelle bieten sich auch für die geschlechtsspezifischen Unterschiede Erklärungen an. So sind Frauen insgesamt weniger anfällig für ökonomische Versprechungen und das Narrativ vom Selfmade-Millionär. Wobei »weniger« in diesem Falle heißt: immer noch zu 16 %. Für den Großteil der jungen Frauen ist jedoch eine klimabewusste Politik das zentrale Anliegen. Männer hingegen, so die Einschätzung der Forscher, wählen eher egoistisch motiviert und weniger sozial. Dieses Auseinanderfallen zwischen ökologisch-gemeinwohlorientierten Wählerinnen und ihren ökonomisch-leistungsorientierten männlichen Gegenparts ist verblüffend deutlich – und das wirft, in die Zukunft gedacht, viele neue Fragen auf. Als plausibler Deutungsansatz des Erstwählerergebnisses diesmal, aber vor allem als Projektion in eine noch ungewisse Zukunft hinein. Denn es müsste in dieser Zukunft doch vor allem darum gehen, beides zusammenzuführen: Individualität und sozialökologische Verantwortung. Wie wir das (wieder) hinbekommen, auch mithilfe unserer und nachfolgender Generationen: Vor allem darüber müssen wir reden. Insgesamt ist zudem erkennbar, dass die klassischen sozialen Themen, insbesondere der Auf- und Ausbau gemeinsamer sozialer Sicherungssysteme, in der Selbstwahrnehmung und im politischen Denken der Jüngeren an Relevanz verloren haben. Nun sind Parteibindungen unter uns jungen Menschen verhältnismäßig gering, von ideologisch gefestigten FDP-Wählern muss also noch lange nicht die Rede sein. Aber jeder Trend manifestiert Standpunkte, zeigt Hoffnungen und Befürchtungen. Und irgendwo zwischen der dogmatischen Forderung, dass dem Klimaschutz alles unterzuordnen wäre, und der nicht minder unrealistischen Vorstellung einer modernen, egoistischen Leistungsgesellschaft, in der der Staat kaum noch in Erscheinung tritt, wird sich unsere Debatte bewegen müssen. Eine, die wahrlich spannend wird, wenn wir sie denn zu führen bereit sind. Und vielleicht ist da ja das Gemeinsame der beiden jugendlichen Gegenpole: Es geht um eine gute Zukunftssuche – in einer Zeit, in der den Jungen dafür meist wenig Raum gegeben wird. Was da dann sogar Hoffnung macht: Es spricht alles für eine Regierung unter Einschluss der beiden von den Erstwählern präferierten Parteien. Wenn das kein Redezwang ist! Aber nicht nur vor der Kanzlerwahl, hier ist etwas aufgebrochen, das die Gesellschaft noch über Jahre hinweg beeinflussen wird. Es bleibt daran zu arbeiten, dass es gelingt und ein neuer Bogen in Richtung zukunftsfähige, die Gesellschaft wieder zusammenführende Politik gespannt werden kann. Nicht nur beeinflussen, sondern prägen heißt das neue Credo, auch in Hinblick auf die Politisierung der heranwachsenden Generation.

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