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Eine Selbstbezichtigung Wir sind dann mal weg

»Ihr habt euch in gemachte Betten gelegt«, sagte der Vater. Es ist lange her; er wird um die 50 gewesen sein, mitten im Leben. Und es lag kein Vorwurf in seinen Worten. Eher schon war Stolz herauszuhören. »Wir haben euch behütet und gefördert, so gut wir nur konnten.« Genau das hatten sich seine Jahrgänge zum Ziel gesetzt: »Unseren Kindern soll es mal bessergehen.« Er selbst war noch aus dem Gymnasium an die Front verfrachtet worden, aus Schlesien nach Italien. Als der Krieg vorüber war, hatte er seine Heimat verloren. Was er besaß, waren die Hose, die er trug, und die Schuhe dazu. Das Abitur musste er später nachholen.

»Aber ihr durftet bei Null anfangen«, erwiderte der Sohn. Wer bei Null anfängt, kann etwas ganz neu aufbauen. Was er als Realität seiner eigenen Zeit erlebte, klang wie die Anklage gegen ein bitteres Schicksal: Konkurrenzkampf, Entfremdung, ein bis zum Überdruss gesättigtes Publikum. »Die, für die wir eigentlich arbeiten«, so sagte er, »bekommen wir nie zu Gesicht. Bestenfalls in Form einer Statistik aus der Buchhaltung: Achtung, die Marktanteile stagnieren«.

Was aus der Konstellation dieser beiden unterschiedlichen Positionen erwächst, ist ein historisch wohl einmaliger Katalog von Erwartungen und Ansprüchen. In ihrer Summe definieren sie einen Status, den keine Generation sich allein erarbeiten kann. Die Flugreise in den Urlaub gehört zur Grundausstattung, Erdbeeren im Januar, Fleisch von riesigen Farmen dort, wo einmal Regenwald stand, der Wein dazu aus Südafrika. Ein Kleiderschrank wie ein Operettenfundus, ein Monsterauto, zweieinhalb Tonnen schwer, fast 20 Liter Super auf 100 Kilometer. Und wehe, einer stellt solches Glück infrage.

Nun gehört ein bisschen Konsumkritik zu jeder gepflegten Konversation. Geschenkt! Die eigentliche Vermessenheit liegt im Anspruch auf Dauer. Worin er begründet liegt? In der lebenslangen Erfahrung von Wachstum als Normalzustand. Und in einem Denken, das keine Alternativen erlebt hat und deshalb auch keine zulässt. Da ist es nur konsequent, die Berechtigung auf künftigen Wohlstand in einem kunstvoll geschnürten Paket aus Anwartschaften und Verträgen zu sichern. Den Preis dafür zahlen andere. Das funktioniert nach dem Schneeballsystem. Was aber bleibt, ist das moralische Restrisiko, am Ende doch noch so etwas wie Reue zu empfinden: Wir hätten so vieles so viel anders machen sollen!

Gesicherte Ansprüche, über jeden Zweifel erhaben

»Denkt endlich an die Enkel!«, fordert daher der Starnberger Publizist Wolf Schneider in einem kürzlich erschienenen Essay. Auf wenigen Seiten nimmt der Autor Maß an dem französischen Diplomaten Stéphane Hessel und seinem Aufruf »Empört Euch!«, welches im französischen Original (Indignez-vous!) 2010 erschien. Hessel war damals 93 Jahre alt, aber die rücksichtslosen Methoden, mit denen der Turbokapitalismus die globalen Finanzen mal eben vor die Wand fuhr, trieben ihn auf die Barrikaden. Und die Leser rissen ihm das Buch aus den Händen: Viereinhalb Millionen verkaufte Exemplare, übersetzt in 40 Sprachen.

Bei Schneider ist es der drohende Kollaps der politischen und ökologischen Systeme, der seinen Zorn weckt. Der Autor ist 94. Die Streitschrift widmet er seinen 14 Enkeln und Urenkeln. So weit ist es gekommen: Auch die Hochbetagten müssen noch einmal die Initiative ergreifen. Ihre unmittelbaren Nachfolger stehen da wie ertappte Sünder, nie erwachsen geworden: eine Generation der egozentrischen Versager.

Das Gespräch zwischen Vater und Sohn fand vor knapp 40 Jahren statt. Der Sohn war Journalist geworden wie der Vater, aber bestimmt wurden solche Debatten zwischen den Generationen auch in den Familien von Lehrern, Metzgern, Opernsängern oder Zahnärzten geführt: Immer ging es für die einen um die Notwendigkeit ihrer Dienste, für die anderen eher um die Not, für diese Dienste weiterhin Abnehmer zu finden. Da hatte sich etwas in sein Gegenteil verkehrt; wo ein Bedarf gestillt war, war nun Wachstum das Maß des Fortschritts. Und wenn der alte Journalist davon erzählte, wie sich seine Leser in aller Herrgottsfrühe vor dem Tor der Druckerei drängten, um die frische Ausgabe einer nun endlich freien, unzensierten Zeitung zu ergattern, dann waren das für den Sohn kaum vorstellbare Zeiten. Wirklich irre! Wie gern hätte er einen Teil seiner vertraglich zugesicherten Altersversorgung dafür hergegeben, so etwas auch mal zu erleben – ohne die Prozessoptimierer und die Sparkommissare der eigenen Gegenwart.

Ein paar Jahre später, es war wohl kurz vor der Jahrtausendwende, saßen er und ein Kollege, beide gut bezahlte Angestellte eines marktführenden Großverlags, in einer todschicken Kantine und stocherten in ihrem Mittagessen. Soeben hatte ihr Arbeitgeber angekündigt, für die neuen Mitarbeiter des Hauses ab sofort keine Betriebsrente mehr anzusparen. Zusagen an die bisherige Belegschaft würden eingehalten, na klar, aber jetzt stünden unsichere Zeiten bevor. Die Konkurrenz auf einem Markt, damals an der Schwelle zur digitalen Revolution, dulde solche Wohltaten nicht mehr. »Oh je«, orakelte da der Kollege zwischen zwei Löffeln Mousse au Chocolat, »irgendwann werden die jungen Leute uns als Luxusrentner die Treppe runterschubsen«.

Liebe Nachfolger: Es wäre dann wohl so weit. Die Babyboomer erreichen das Rentenalter. Der Boom setzte 1955 ein, der Krieg lag ein Jahrzehnt zurück, die internationale Gemeinschaft begann, sich wieder zu öffnen. Man war wieder wer. Das Fußballwunder von Bern im Jahr zuvor, das Wirtschaftswunder: Es gab jede Menge Anlass, voller Hoffnung nach vorn zu schauen; der Blick nach hinten hätte ohnehin nur das Grauen wieder wach werden lassen. Was folgte und anhielt bis zum Beginn der 70er Jahre waren die geburtenstärksten Jahrgänge in der Geschichte des Landes. Und nun werden die ersten 65 Jahre alt. Sie haben in einer langen Folge von sorgsam getakteten Fünftagewochen ihre Ansprüche aufgetürmt, gestützt von Arbeitgeberzuschüssen, bezahltem Urlaub und Weihnachtsgeld, vertraglich gesichert, moralisch und sozial über jedes Zweifeln erhaben. Zumindest in den Augen derer, die diese Ansprüche demnächst auch einfordern werden.

Nach uns die Sintflut?

Es ist also Zeit zum Bekenntnis: Wir haben so viel falsch gemacht; wahrscheinlich mehr, als einer einzelnen Generation zusteht. Wir haben nicht nach der Vergangenheit gefragt, haben ihre Dämonen ignoriert – weshalb sie jetzt zurückkehren. Und wir haben den Fundus der eigenen Geschichte an Erfahrung, ihr Wissen und ihre Lektionen nicht zur Kenntnis genommen. Auch an die Zukunft haben wir nicht allzu viele Gedanken verschwendet, mal abgesehen von unseren Forderungskatalogen. Wir waren uns ja selbst genug und haben unterm Strich deutlich mehr genommen als gegeben.

Jetzt hinterlassen wir unseren Nachkommen eine Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten ist, voller Konflikte, viele von ihnen ausgelöst durch den Kampf um Rohstoffe, die wir zur Erhaltung unserer Gewohnheiten einfordern. Die Option des Verzichts haben wir nie gelernt. Höchstens mal mit dem E-Bike ins Wochenende statt zum Shopping nach New York. Ein bisschen Energiesparmodus ist ja gerade angesagt, zumal, wenn’s Spaß macht. Dafür haben wir die Natur mit Asphalt versiegelt und die Vorräte aufgebraucht. Wir haben das Klima bis an den Rand des Infarktes beansprucht und tun es munter weiter. Wir kaufen Nahrungsmittel und Klamotten in Massen, um davon einen großen Teil schnell wieder tonnenweise auf den Müll zu werfen. Was wir hinterlassen, ist ein System am Rande des Zusammenbruchs, ein Klima, das wahrscheinlich nicht mehr zu retten ist, und ein Meer voll mit Plastikmüll.

Zum guten Schluss hat die pharmazeutische Industrie unser Sexualleben befreit: 1970, der Pillenknick machte dem Babyboom ein Ende. Gottlob, denn allzu viele Nachkommen hätten der freien Entfaltung unserer Bedürfnisse ohnehin nur im Wege gestanden.

Wir haben es alles kommen sehen. Spätestens seit jenem Tag in der Betriebskantine, an dem die nächste Generation einfach abserviert wurde. Und wir haben es geschehen lassen. Wir hatten ja die unbefristeten Arbeitsverträge, die Versorgungszusagen und die übertariflichen Löhne. Unsere Nachfolger? Müssen eben sehen, wie sie klarkommen mit dem was wir übriggelassen haben: Berufsbiografien ohne Perspektive, einen Planeten am Rande der Erschöpfung und einen Wohlstand auf Pump. Abzustottern, falls das noch möglich ist, von unseren sehr verehrten Erben. Die jungen Leute um Greta Thunberg und die Bewegung »Fridays for Future« werden alle Hände voll zu tun haben.

Wir aber sind dann mal weg. Kleine Kreuzfahrt vielleicht? Die Seele baumeln lassen. Bitte vergesst nicht, unsere Rente pünktlich anzuweisen. Ach, und dies noch: Bevor ihr selber geht – räumt doch noch ein bisschen auf.

Wolf Schneider: Denkt endlich an die Enkel! Eine letzte Warnung, bevor alles zu spät ist. Rowohlt, Hamburg 2019, 80 S., 8 €.

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