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Blick eines Linksrheinischen auf den deutschen Osten »Wir sind ein Volk!«

»Wir sind das Volk« und dann »Wir sind ein Volk!« waren die Parolen im Jahr 1989. Und sie stimmten beide, heute wie damals. Mit ihrer trotzigen Prägnanz überlagerten sie die Besorgnisse vor den direkten und den nicht vorhersehbaren Konsequenzen des Aufbegehrens. Sie waren Statement und zugleich Ausdruck hoffender Erwartung.

Der »Westen« hatte 1989 in jeder Hinsicht gewonnen: ideologisch und ökonomisch. In der alten Bundesrepublik blickte man mit einer Mischung von Bewunderung, Neugier, aber auch mit Selbstbewusstsein und einem Schuss Überlegenheitsgefühl – schlimmstenfalls herablassend – auf die neuen Bundesrepublikaner. Letzteres aber zu Unrecht, denn – trotz aller ideologischen Bemühungen der Staatsführung – waren die gebliebenen Literat/innen wie Christa Wolf von internationalem Rang, war die klassische Musik- und Theaterszene breiter in der Bevölkerung verankert als im Westen. Ost- und Westpop hatten die gleichen Themen und Instrumente, in der Bildenden Kunst hatte der sozialistische Realismus längst ausgedient. Und wichtiger noch: Die Lebensziele der großen Mehrheit beiderseits der Grenze waren identisch: Familie, gute Wohnung, sichere Arbeit, Auto, Urlaub – allerdings im Osten meistens eine Nummer kleiner.

»Der Transformationsprozess war schmerzhaft und vielfach ungerecht.«

Der Vereinigungsprozess, erheblich kostenintensiver als von Helmut Kohl angekündigt, ramponierte und zerstörte geradezu die ostdeutsche Wirtschaft, wie von Oskar Lafontaine vorhergesagt. Der Transformationsprozess war schmerzhaft und vielfach ungerecht. Es gab mehr Verlierer als Gewinner. Die daraus zu Recht abgeleitete Sonderrolle, durch den Ostbeauftragten der Bundesregierung bis heute noch unterstrichen, kann mit Blick auf die realen Verhältnisse nur noch bedingt reklamiert werden. Unwuchten bestehen natürlich weiter. Zumindest den Saarländern ist das nicht fremd. 1957 musste das Saarland sich als erstes Beitrittsland damit abfinden, dass die großen Unternehmensentscheidungen im Nachkriegs(west)deutschland bereits getroffen, ebenso die Standorte der Gemeinschaftseinrichtungen der Republik festgelegt waren.

Nun war es an den neuen Bundesländern, sich im föderalen System zu behaupten, in dem die einzelnen Glieder für ihre Gemeinwesen kämpfen, auf eigene Rechnung oder in Bündnissen, wenn sich Interessen bündeln lassen – so wie aktuell die von der Stahlindustrie mitgeprägten Länder sich zusammentun, oder vor einiger Zeit noch die Kohleländer NRW und Saarland und aktuell NRW im Verbund mit den ostdeutschen Braunkohlerevieren. Zusammenarbeit der neuen Länder ist in der Ministerpräsidentenkonferenz-Ost institutionalisiert, die zum Beispiel 2022 in Berlin eine gemeinsame Interessenvertretung der ostdeutschen Länder zur Wasserstoffforschung vereinbarte. Verletzte Interessen sind vermutlich in der Verweigerung der Gebührenerhöhung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch Sachsen-Anhalt mit im Spiel. Bei einer anderen Verteilung der Institutionen und Aufgaben im MDR wäre die Haltung möglicherweise eine andere gewesen. Es ist ja kein Zufall, dass Bremen, Hamburg und Saarland immer die ersten bei einer Ratifizierung der Gebührenvorlagen sind.

Nostalgischer Rückgriff auf Tradition und Heimat

Wir sind ein Volk! Wir sind aber auch Bayern, Württemberger, Pfälzer, Hessen, Sachsen, Thüringer, Mecklenburger, Bremer, Hamburger und so weiter; mit unterschiedlichen Wurzeln in der Vergangenheit. Hier leben kulturelle Besonderheiten aus vergangenen Jahrhunderten weiter, materialisieren sich in Dialekten und Gebräuchen, so auch in den ostdeutschen Ländern, die sich bewusst – an den Wappen erkennbar – mit einem historischen Bezug definiert haben. Dort erstarkten viele vom Einheitsstaat ins Abseits gedrängte Institutionen, wie etwa die Kirchen. Besonders im ländlichen Bereich lebten Traditionen wieder auf und verbanden sich mit dem Heimat-Begriff, der auch heute noch en vogue ist.

Dieser nostalgische Rückgriff kollidiert mit den Erfordernissen einer Gesellschaft, in der die Mobilität und Veränderungsbereitschaft zu den Grundbedingungen gehört. In welcher Weise ist Identität und Zugehörigkeit an welche Heimat gebunden? Wer in Connewitz lebt ist an erster Stelle Leipziger, aber auch Sachse, Ostdeutscher, Deutscher, Europäer und letztlich auch Teil der einen Welt. So gewinnen wir Standort und Halt und zugleich Öffnung und Teilhabe.

Die regionalen Besonderheiten und Traditionen schlagen sich auch in den parteipolitischen Szenerien nieder. In Bayern erreichten die Mitte-rechts-Parteien bei der letzten Landtagswahl eine klare Zweidrittelmehrheit. Die SPD ist dort schon lange – bis auf München – marginalisiert. Für Sachsen sieht es in den Umfragen vergleichbar aus. Andererseits erlangten die Mitte-links-Parteien bei der Bürgerschaftswahl 2020 in Hamburg fast Dreiviertel der abgegebenen Stimmen. In den aktuellen Umfragen liegen sie noch immer bei 60 Prozent.

Antifaschismus in Ost und West

Wer sich Ernst Blochs Beschreibung der Ungleichzeitigkeit in einer Gesellschaft vergegenwärtigt, hat damit einen Schlüssel, um viele gesellschaftliche Phänomene in der Republik zu verstehen. Vor 70 Jahren war die Grundhaltung in der Gesellschaft in Westdeutschland konservativ, paternalistisch, nationalistisch, auch rassistisch. Erst mit Richard von Weizsäckers Rede im Jahr 1985, 40 Jahre nach der Kapitulation, konnte die »Niederlage« als Akt der Befreiung von der Diktatur umgedeutet werden. Der fortschreitende Generationswechsel trug zu diesem Paradigmenwechsel bei, dem bis heute einige immer noch nicht folgen wollen.

In der DDR war der Antifaschismus konstitutives Element der Gesellschaft und des politischen Systems, verbunden mit dem Bezug zur Aufklärung und zur deutschen Klassik, mit der Gewissheit, das bessere Deutschland zu sein. Diese Lesart zerschellte an der Ineffektivität des Systems und verendete geradezu in verzweifelten Rettungsbemühungen einer gescheiterten Elite mit Einmauerung, Spitzelwesen und Intoleranz.

»Es sind Besonderheiten geblieben, die angeblich nicht in die aufgeklärte Gegenwart passen.«

Die Menschen in den neuen Bundesländern mussten sich nach der Wende in einem neuen System zurechtfinden. Das ist – ungeachtet der tiefen Brüche und Verletzungen – durchaus gelungen, allerdings nicht so, wie von der westdeutschen Mehrheit erwartet. Da sind Besonderheiten geblieben, die angeblich nicht in die aufgeklärte Gegenwart passen. In vielen politischen Äußerungen finden sich die Spuren der alten Bundesrepublik: ein noch anders gestrickter Begriff von Nation und Identität. Da steht das Regionale hoch im Kurs und deutsch zu sein bestimmt noch stärker das Bewusstsein, als die ebenso bedeutsame Identität als Europäer.

Die Vereinigung fand eben nicht – wie vorher lange als politisches Ziel formuliert – unter dem Dach eines europäischen Hauses statt, sondern war eine zutiefst nationale Lösung. Es bedurfte und bedarf schon einer starken Veränderungsbereitschaft, um dann gleich den nächsten Schritt nach Europa zu tun. Das fiel in den westlichen Bundesländern leichter, die schon über einen längeren Zeitraum die europäische Perspektive akzeptiert und in den Grenzräumen umgesetzt hatten.

Im deutschen Südwesten ist es gelungen, die Beziehungen zu dem einstigen Erbfeind Frankreich in normale, ja freundschaftliche Bahnen zu lenken. Grenzüberschreitend organisiert man die Großregion SaarLorLux. Ein östliches Gegenstück ist die Wirtschafts- und Kulturregion Sachsen-Böhmen-Niederschlesien, in der Sachsen, Polen und Tschechien grenzüberschreitend zusammenarbeiten wollen. Diesen zentralen europäischen Raum mit Leben zu füllen, ist angesichts der Sprachenproblematik eine ambitionierte Aufgabe. Die Europa-Universität Viadrina ist dafür ein leuchtendes Vorbild.

»Eine nationalistische und rassistische Grundstimmung hat es in Teilen der alten Bundesrepublik immer gegeben.«

Wenn die hohen Zustimmungswerte zur AfD in Ostdeutschland auch viele Westbürger verstören, sei daran erinnert, dass es eine nationalistische und rassistische Grundstimmung in Teilen der alten Bundesrepublik immer gegeben hat, die aber nur selten virulent wurde. Zwischenzeitliche Höhenflüge von NPD und Republikanern belegen das. In Teilen der AfD materialisieren sie sich erneut. Rechte Positionen waren auch in den etablierten Parteien zu finden. Erich Mende von der FDP war stolz auf sein Ritterkreuz. Alexander Gauland leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei unter Ministerpräsident Walter Wallmann, gleichzeitig führte der erzkonservative Alfred Dregger bis 1991 die CDU-Bundestagsfraktion. Nicht von ungefähr verlieh man seiner Richtung den Spitznamen »Stahlhelmfraktion«. Wohlgemerkt: bis 1991!

Grenzen des politischen Meinungsstreits

So bleibt die Frage: Wenn nicht alle so denken und reden, wie der politische und mediale Mainstream es gerne hätte, wo endet der Anspruch auf Respekt? Die Grenzen des politischen Meinungsstreits werden aktuell immer enger gezogen, Abweichungen vom Mehrheitskonsens werden negativ etikettiert, als nicht tolerabel empfunden bis hin zu Verbotsforderungen. Darüber entscheiden aber letztlich Gerichte auf der Basis des Grundgesetzes und nicht Regierungen oder der Verfassungsschutz.

Wie damit umgehen? Um diesen Verwerfungen auf die Spur zu kommen, haben Olaf Scholz und Juli Zeh auf einer gemeinsamen Veranstaltung am 30. Januar 2024 Hinweise gegeben. Juli Zeh bemerkte, dass in ihrem Umfeld – sie lebt in Brandenburg auf dem Land – die Zahl der Rechtsextremisten sehr gering sei, die Zahl der AfD-Wähler/innen aber sehr groß. Das passte gut zu Scholz, der zusicherte, man werde sich der AfD mit Argumenten entgegenstellen.

Unbequeme Zeiten, ohne Zweifel. Aber: Wenn man den Weitwinkel nimmt, bleibt die Tatsache, dass die gar nicht mehr so neuen Bundesländer längst Sehnsuchtsorte für die anderen Regionen sind. Die Verhältnisse haben sich zurechtgerüttelt. Berlin ist die unumstrittene Hauptstadt und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich der prägende Schmelztiegel des modernen Lebensgefühls weder in München, noch in Köln oder Hamburg befindet, sondern ausgerechnet in der ehemaligen Hauptstadt der DDR.

Menschen aus dem Landesinneren, die ohne Gebirge und Küsten leben müssen, beneiden Mecklenburg-Vorpommern um die Lage an der Ostsee, um 350 Kilometer Küste und außerdem noch 2.000 Seen. Brandenburg punktet zu Recht mit Potsdam und dem Spreewald. Sachsen-Anhalt bietet Brocken, Magdeburg und Wittenberg, Thüringen Rennsteig, Wartburg und Weimar, Sachsen das pulsierende Entwicklungswunder Leipzig, das legendäre Elbflorenz Dresden und die sächsische Schweiz. Wir sind tatsächlich ein Volk!

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