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Zu Armin Nassehis Theorie der digitalen Gesellschaft Wir sind immer schon digital gewesen

Als sich um 1800 das Lesen von Büchern in breiteren Bevölkerungsschichten durchsetzte, wurde diese Entwicklung durchaus nicht als positiv wahrgenommen – die Idee, dass das Lesen eine sinnvolle Beschäftigung für alle sein könnte und Menschen klüger und gebildeter macht, war noch nicht gedacht worden. Vielmehr sahen die gebildeten Eliten eine krankhafte »Lesesucht« um sich greifen, die gerade Frauen und der einfachen Bevölkerung erheblich schade, auch da das Lesen ihnen Flausen in den Kopf setze und sie von ihren eigentlichen Aufgaben abhalte. Über eineinhalb Jahrhunderte später hatte man dann Angst vor der »Fernsehsucht«, die gerade Kinder treffen könnte, und noch einmal ein paar Jahrzehnte später, am Anfang des 21. Jahrhunderts, wurde vor »digitaler Demenz« und »Internetsucht« gewarnt.

Mediale Veränderungen sind also immer schon von aufgebrachten Krisendiskursen begleitet worden, haben sich aber trotz der vielen skeptischen Stimmen stets durchsetzen können. Warum? Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, würde es wohl so formulieren: Weil sie funktioniert haben. Funktionalität schaltet Reflexion aus, da mögen manche noch so sehr vor einer Spaltung der Gesellschaft durch soziale Medien, vor dem gläsernen Menschen und einer drohenden Totalüberwachung oder vor den ökonomischen Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt warnen. Was funktioniert, setzt sich eben durch. Nur: Warum funktioniert eigentlich die digitale Technik so gut?

Genau diese Frage stellt sich Armin Nassehi in seinem Buch Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Fernab aller Euphorie oder Skepsis, die im Internet entweder die Utopie eines globalen Dorfes oder aber den Niedergang der Zivilisation sehen will, geht er mit sachlichem Blick der Frage nach: »Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?« Und stößt dabei auf eine so plausible wie überraschende Antwort: Die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft ist schon digital gewesen, bevor die Digitaltechnik entstanden ist. Nicht die Digitalisierung hat den Menschen die Welt digital sehen lassen, sondern die Digitaltechnik konnte an eine Gesellschaft anknüpfen, die längst schon digital gesehen hat. Indem er dies nachweist, entwickelt Nassehi tatsächlich eine »Theorie der digitalen Gesellschaft«.

Daten, so erläutert der Autor in den ersten Kapiteln – denen man gewünscht hätte, dass in ihnen der ein oder andere philosophische Exkurs unterblieben wäre, der die Lesbarkeit unnötig erschwert – verdoppeln die Welt. Indem die Welt noch einmal durch Daten, die dann miteinander kombiniert werden können, abgebildet wird, wird sie dupliziert. Und hier weist die digitale Technik eine strukturelle Parallele zur arbeitsteilig, also funktional differenzierten Gesellschaft auf. Auch diese moderne Form der Gesellschaft hat die Welt mehrfach verdoppelt, und zwar schon lange bevor irgendjemand an Digitalisierung dachte. In dieser Gesellschaft wurde es üblich, dass die Welt gleichzeitig in ganz unterschiedlichen Hinsichten beschrieben und beobachtet werden konnte: etwa aus einem ökonomischen, politischen, pädagogischen, ästhetischen, juristischen oder religiösen Blickwinkel. Jede dieser Perspektiven erzeugt eine spezifische Weltsicht, und all diese Weltsichten können gleichzeitig nebeneinander existieren.

Jede dieser Verdoppelungen der Welt machte die Welt einerseits komplexer, da eben immer mehr Perspektiven nebeneinander stehen, aber auch stabiler, da jede Verdopplungsform ihre eigenen Routinen und Ordnungen mit sich brachte. Hatte die Entstehung der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft also alte Stabilitäten umgestoßen, die es in vorangegangenen, hierarchisch geordneten Gesellschaftsformen gab, brachte sie doch auch neue Ordnungen hervor. Nach wie vor gab und gibt es nicht nur Milieus und gesellschaftliche Gruppen, deren Wahrnehmung und Verhalten bestimmten Mustern folgen, sondern auch funktional unterschiedliche Bereiche mit je eigenen Routinen. Eine Wahl etwa folgte in der modernen Gesellschaft bestimmten Mustern: Erst führte man Wahlkampf, in dem man die Wähler/innen durch politische Gestaltungsvorschläge und vielleicht auch etwas Charisma zu überzeugen versuchte, dann wurde gewählt.

Quer zu dieser funktionalen Verdoppelung breitete sich nun die Digitalisierung als weitere Verdoppelung der Welt aus – und stört seither bestehende Routinen. Ein Wahlkampf kann jetzt durch den Zugriff auf die verdoppelte Welt in Datenform ganz anders geführt werden: Noch genauer und gezielter kann man nun nicht mehr nur soziale, sondern auch statistische Gruppen ausfindig machen und ansprechen. Man konnte Personengruppen, die Wechselwähler/innen sein könnten, ermitteln und gezielt mit passenden Versprechen für sich gewinnen.

Das alte Problem moderner, funktional differenzierter Gesellschaften, das vor allem in der Komplexität der Gesellschaft, zugleich aber in ihrer Regelmäßigkeit liegt, kann durch die digitale Technik ganz anders und viel effektiver bearbeitet werden. Die Digitalisierung funktionierte und funktioniert aus genau diesem Grund. Darum setzt sie sich durch und lässt sich nicht durch argumentativ gut belegte Bedenken wegdiskutieren, auch wenn die Störungen alter Routinen, die sie hervorruft, durchaus von manchen als disruptiv wahrgenommen werden. Interessanterweise stört die digitale Technik diese Routinen deswegen, so Nassehi, weil sie bislang unsichtbare gesellschaftliche Muster sichtbar macht. Sie rüttelt damit auch an einer ganz grundlegenden Überzeugung moderner Gesellschaften, nämlich der, dass Bürgerinnen und Bürger autonome Subjekte wären. Wie die Datenverarbeitung deutlich macht, ist das nicht ganz der Fall. Vielmehr folgt das Subjekt in Denken und Handeln gesellschaftlichen Mustern. Durch die Digitaltechnik hat sich die Gesellschaft grundlegend neu entdeckt, so eine der zentralen Einsichten Nassehis.

Jede Form der Verdoppelung verändert aber die Welt auf spezifische Weise, auch die Digitalisierung bildet gesellschaftliche Muster nicht einfach ab wie sie sind, sondern formt sie neu mit, und zwar schon durch die medialen Eigenheiten der digitalen Technik. In einer immer komplexer werdenden modernen Gesellschaft hatten Massenmedien immer auch die Funktion der Synchronisation: Indem sie Informationen auswählten und sie in spezifischer Weise wiedergaben, haben sie dafür gesorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger die Welt ähnlich wahrnahmen. Alte Massenmedien waren dabei auch dadurch gekennzeichnet, dass sie die Rezipienten nicht mitreden lassen konnten: Indem sie so einen überschaubaren Raum für Widerspruch und divergierende Sichtweisen boten, konnten sie das Weltbild des Publikums formen und so Gemeinschaft durch eine gemeinsame Weltsicht herstellen. Das Massenmedium Internet stört schon aufgrund seiner Benutzeroberfläche auch diese Routine: In ihm kann Jede und Jeder frei mitreden, es bietet Platz für eine unüberschaubare Vielzahl an Positionen und Widersprüchen – insbesondere in den sozialen Netzwerken. Und je stärker die Möglichkeit zur Mitsprache zunimmt, desto mehr nimmt der gemeinschaftsstiftende, eine spezifische Sicht auf die Welt vorgebende Einfluss des Massenmediums ab.

Das Massenmedium Internet leistet also die Synchronisation, die die alten Medien leisten konnten, so nicht mehr. Dafür erzeugt es einen Überschuss an Daten, die auf unterschiedlichste Art und Weise, in der Regel für kommerzielle Zwecke, genutzt werden können. Das wird wiederum als Störung wahrgenommen, sehen doch viele dies als einen Eingriff in die Privatsphäre der User. Die Folgen sind hitzige Diskussionen um den Datenschutz. Doch auch diese Form der Datenerhebung in modernen Gesellschaften ist nichts Neues, sondern lediglich Fortsetzung schon etablierter Routinen: Schon die Kirchen erhoben im Beichtstuhl Daten über das Privatleben der Menschen, um es zu normieren, und auch der Staat erhebt schon seit dem 19. Jahrhundert Daten über seine Bevölkerung, griff also immer gezielt in deren Privatsphäre ein. Die Privatheit, die nun durch die Digitalisierung bedroht zu sein scheint, gab es Nassehi zufolge so nie.

An dieser Stelle kann man den interessanten, innovativen und angenehm unaufgeregten Blick auf die Digitalisierung kritisieren, den Armin Nassehis Muster anbietet: Indem erwähnt wird, dass es nicht ganz unproblematisch ist, wenn die Grenzen zwischen ökonomischen und politischen Akteuren verschwimmen, und dass es reale Gefahren digitaler Strategien für die Öffentlichkeit gibt, werden diese Entwicklungen doch vor allem als bloß modifizierende Fortführungen von längst Bestehendem normalisiert. Dabei gäbe es viele gute Gründe, einen klaren Unterschied zu machen zwischen der Datenerhebung durch ein Gemeinwesen, das auch dem Schutz aller Bürgerinnen und Bürger und ihrer Rechte dient, und der Datenerhebung durch private Unternehmen, die vor allem ihren eigenen Profit steigern wollen. Diese Unterscheidung sowie die sich daraus notwendiger- wie legitimerweise ableitende Kritik an digitaler Technik wischt Armin Nassehi in seinem Bestreben, einen rein systematischen Blick auf Digitalisierung fern aller Katastrophenrhetorik zu werfen, etwas zu lässig zur Seite.

Davon abgesehen ist Muster aber ein über weite Strecken gut lesbares und in allen Teilen stets aufschlussreiches Buch, das Digitalisierung und ihre historischen Kontinuitäten neu zu denken hilft. Denn die Digitalisierung, so zeigt Nassehis Theorie, ist nicht so sehr eine Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft, sondern vor allem ein Nachweis eben dieser ihrer Stabilität – schließlich sind die Menschen schon längst vor der Ausbreitung der Digitaltechnik digital gewesen.

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. C.H.Beck, München 2019, 352 S., 26 €.

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