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Tag der offenen Tür der Bundesregierung 2019 © picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Nachdenken über die Zukunft des Staates »Wir stehen auf der Kippe«

Lucke: Das Grundproblem der neuen Ampelkoalition zeichnet sich schon jetzt ab, nämlich dass sie ihre eigenen Ankündigungen nicht umsetzen kann. »Mehr Fortschritt wagen« lautet das Motto über dem Koalitionsvertrag, in bewusster Anknüpfung an »Mehr Demokratie wagen«, unter das Willy Brandt seinen erste sozialliberale Koalition gestellt hat. Damals, 1969, war das eine eminent zeitgemäße Botschaft. Sie stand für die gesellschaftliche Demokratisierung und Fundamentalliberalisierung gegenüber einer noch immer autoritären Staatsgewalt. Heute dagegen erleben wir einen Staat in ausgesprochener Hilflosigkeit, der sich gegenüber den massiven Individualinteressen kaum mehr durchsetzen kann, ob im Fall von Corona oder auch in der Klimakrise.

Meng:Und doch ist es die Stunde des Staates, gerade wegen der Pandemie und der vielen anderen großen Krisen, von der Klimafrage bis hin zur Bedrohung der Ukraine. Es ist dringend nötig, in dieser Lage zu fragen, was Fortschritt sein soll, wo wir umsteuern müssen und wo konsequentes Handeln nötig ist. Am Bedarf für eine anspruchsvollere staatliche Politik kann überhaupt kein Zweifel sein. Die Frage ist nur, ob es ausreicht, mal eben Forderungen an den Staat zu stellen und sich danach wieder zurückzulehnen.

L: Mit dem großen Wort von der Stunde des Staates haben wir uns aber leider schwer geirrt. Das beste Beispiel erleben wir gerade. Wenn ein Staat an der Einführung einer Impfpflicht scheitert, sogar einer nur berufsbezogenen, zeigt dies, dass auch Minderheiten in unserer Gesellschaft, die sich einer Impfung verweigern, staatliches Handeln verhindern können, indem sie das Gesundheitssystem zum Erliegen bringen könnten. Ich sehe darin eine dramatische Entwicklung, zum Schaden aller.

M:Man kann das Argument aber auch umdrehen und sagen: Wenn das die gesellschaftliche Lage ist, macht es keinen Sinn, auf einen starken Staat zu setzen und mehr Durchregieren zu verlangen. Denn das führt dann ja geradewegs in die Blamage. Es müsste doch viel eher darum gehen, wie die Gesellschaft insgesamt mehr Verantwortung übernehmen kann, statt alles nur beim Staat abzuladen.

Offenkundig gab es ja bei manchen wirklich die Illusion, man könnte alleine mit staatlichen Vorschriften entlang der allgegenwärtigen Virologenempfehlungen alle erreichen und so die Pandemie bekämpfen – statt mindestens genauso stark auf eine Bürgerbewegung der Solidarität zu setzen. Die Polarisierung kommt nicht nur von rechts, wo manche sich jetzt das Mäntelchen der Freiheit umhängen. Sie kommt zu einem Teil auch daher, dass es liberale Intellektuelle gibt, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was für sie verantwortliches Verhalten bedeutet.

L: Das Problem besteht darin, was man unter liberal versteht. Heute existiert eine reaktionär wirtschaftsliberale »Gegenöffentlichkeit«, die von Tichys Einblick bis hin zur Bild-Zeitung reicht, die vor allem auf einer antistaatlichen Grundhaltung basiert…

M:...solange sie nicht selbst regieren, liberal sind die jedenfalls nicht…

L: In der Tat. Nehmen wir jemanden wie den Chefredakteur von Springers WeltN24. Er zeigt, dass es manchmal kein weiter Weg ist vom Anarchosyndikalisten, der er mit 15 Jahren gewesen sein will, bis zum neoliberalen Anti-Staats-Agitatoren. Das Ziel, dass der Staat möglichst schwach sein sollte, damit er möglichst wenig durchsetzen kann, geht weit über die Coronakrise hinaus. Auch in der Klimadebatte hoffen manche, dass der Staat schnell scheitert. Schauen wir den Springer-Verlag an, insbesondere Bild und Bild live, da gibt es keinerlei Interesse an erfolgreichen staatlichen Maßnahmen, sondern lediglich Fundamentalopposition von rechts, bei der jeden Tag ein neuer Regierungspolitiker durchs mediale Dorf getrieben wird.

M:Ich sehe zwei mögliche Antworten auf die aktuelle Krise. Die eine: Der Staat muss sich dann eben wieder durchsetzen. Das beginnt damit, dass er sich selbst wieder ernster nimmt und Verbindlichkeit einfordert. Aber dann sind wir von der Wiederkehr repressiver Verhältnisse nicht weit entfernt. Schließlich waren und sind die bürgerlichen Freiheitsrechte immer auch Abwehrrechte gegenüber staatlicher Bevormundung. Sehr unabhängig davon, ob der Staat es nun gut meint oder nicht, auch ob er oder ratgebende Virologen in der Sache Recht haben oder nicht. Da ist zuletzt vieles eingeschränkt worden, was uns heute eigentlich ausmachen sollte. Die andere Antwort wäre aber, dass die Gesellschaft selbst sich wieder mehr zutraut, dann im Unterschied zum Liberalismus aber auch soziale Verantwortung übernimmt, statt sich zurückzuziehen aufs Private.

L: Ich bin durchaus für einen stärkeren Staat im Sinne größerer Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit. Anfang der 70er Jahre, zu Beginn der sozialliberalen Ära, diagnostizierten Soziologen die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft. Damit war gemeint, dass die Gesellschaft nicht ohne den Staat auskommt, etwa was den Ausbau der Sozial- und Bildungseinrichtungen anbelangt. In der Coronakrise erleben wir das Gegenteil, nämlich die Gesellschaftsbedürftigkeit des Staates. Der heutige Staat kommt ohne das Zutun der Bevölkerung nicht mehr aus. Wenn die Gesellschaft nicht mitzieht, etwa sich nicht impfen lässt, ist er schachmatt.

M:Vielleicht müssen wir den Kreis jetzt größer ziehen. Punkt eins: Wenn wir Staat sagen, denken wir immer Nationalstaat, zunehmend sogar. Der Föderalismus wird bis in die Medienwelt hinein als Flickenteppich abgetan, die europäische Ebene wird ignoriert – obwohl fast alles, was der Staat tut, letztlich parallel zu den Nachbarländern passiert. Wir verengen das Denken und spielen allen in die Hände, die in Wahrheit den autoritären Staat wollen.

Punkt zwei: In diesem Nationalstaatsgefühlsdenken wird nicht vom Bedarf her, sondern vom System her argumentiert. Rentenpolitik gegen die Überlastung der Rentenversicherung, Coronapolitik gegen die Überlastung des Gesundheitssystems. Die gab es bisher an keiner Stelle, aber es wird als handlungsleitendes Argument ständig wiederholt. Das ist, mit Verlaub, ziemlich menschenfern, viel zu instrumentell. Mir fehlt vor lauter Systemdenken der gesellschaftliche Blick. Ich vermisse aber auch, dass mehr Menschen sich dann engagieren, um den Staat von der Gesellschaft her zu bewegen und nicht umgekehrt.

L: Meines Erachtens haben wir zu lange die gesellschaftliche Brille aufgehabt. Ich denke an die Frage, was eigentlich einen Verfassungspatriotismus ausmacht, den wir uns ja wünschen. Der ist lange primär staatskritisch gedacht worden, in Verteidigung der Zivilgesellschaft und ihrer Grund- und Menschenrechte…

M:…aber bitte, das war nach Jahrhunderten des Obrigkeitsstaates doch ein ungeheurer kultureller Fortschritt!

L: Momentan schlägt es aber ins Gegenteil um, weil die staatlichen Institutionen zu schwach oder jedenfalls zu überlastet sind, von den Gesundheitsämtern über die Polizei bis zu den Gerichten.

M:Unser Hauptproblem ist da eher, dass die sehr technische Funktionsfähigkeit des Staates nachlässt. Dass Verwaltungsabläufe viel zu lange dauern, Finanzmittel nicht abfließen, Ämter ineffektiv und schon überhaupt nicht digital organisiert sind – und bei allen Reformideen immer nur nach mehr Personal gerufen wird.

L: Ist das nicht zu einfach gedacht? Faktisch schieben wir dem Staat ständig neue Aufgaben zu. Wenn etwa die Ampelkoalition eine sozial-ökologische Marktwirtschaft umsetzen will, hat der Staat plötzlich die Aufgabe, eine vorher »nur« als sozial definierte Marktwirtschaft mal eben fundamental umzubauen. In der Tat eine Jahrhundertaufgabe. Das gilt auch für die Digitalisierung, mit der dem Staat ein völlig neuer Raum zugewiesen wird, den es nicht nur technisch zu regeln, sondern auch zu verrechtlichen gilt.

M:Das Schneckenverfahren im Bundestag beim Thema Impfpflicht ist das Gegenbeispiel. Das Parlament nimmt sich Zeit aus Rücksicht auf sich selbst – und vor allem die FDP –, während die Argumente längst alle auf dem Tisch liegen. Das ist wieder dieses Systemdenken in den Institutionen, das einen kirre machen kann. Im Notfall werden dann Vorentscheidungen an Expertenkommissionen delegiert, hinter denen man sich versammeln kann.

L: Weil die Politiker wissen: Sie selbst bekommen es faktisch nicht durchgesetzt. Und wenn sie sich mal etwas trauen, siehe die Ankündigung einer allgemeinen Impfpflicht, mündet das schnell in die eigene Ohnmacht. In der sogenannten Orientierungsdebatte im Bundestag beeindruckte mich am meisten die Rede einer jungen Grünen aus Sachsen. Ihr Befund lautete: Wenn wir die Impfpflicht im Osten angesichts von 20 bis 30 Prozent harter Coronaleugner durchzusetzen versuchen, haben wir faktisch keine Chance – und verstärken zudem die gesellschaftliche Polarisierung.

Das ist ein Offenbarungseid. Selbst wenn die Politik eine Impfpflicht für notwendig erachtet – und das ist parteiübergreifend der Fall –, wird sie im realen Leben nicht durchgesetzt werden. Und was passiert prompt? CDU und CSU geben das Vorhaben auf, Söder und Merz vorneweg. Das ist machtpolitisch durchaus clever, den schwarzen Peter spielen sie damit der Ampelkoalition zu, aber für das Ansehen der Politik insgesamt verheerend.

M:Die Union fordert beim Kanzler eine Führung ein, zu der sie selbst in keiner Weise in der Lage war und ist. Sie bedienen eher sehr traditionelle Macho-Erwartungen, wenn es um Führung geht – und man sieht ja, wie das medial funktionieren kann, wo destruktive Debatten meistens mehr ziehen als konstruktive. Leise Führung, wie könnte das gehen? Diese Antwort wird Olaf Scholz sichtbar geben müssen, ob ihm laute Töne nun liegen oder eher nicht. Auf dem Markt der Tagesaktualitäten dominiert in Sachen Führung noch sehr unhinterfragt ein äußerst traditionelles Staatsverständnis, auch Joe Biden in Washington hat ja damit zu kämpfen. All die Potentaten und Diktatoren, die weltweit im Sattel sitzen, bedienen so etwas sehr selbstverständlich.

L: Das Problem ist: Wenn man etwas ankündigt und es dann nicht durchzieht, wird man umgehend abgestraft. Ich sehe daher Debatten über die Ampelkoalition auf uns zukommen, die alles andere als gemütlich werden, wenn der Staat die Gutmeinenden nicht auch noch verlieren will. Schauen wir nur auf das Klimathema, wo die nächsten Enttäuschungen bereits warten.

M:Die Parole »mehr Staat« ist offenkundig also keine brauchbare Antwort.

L: Allein sicherlich nicht. Es muss so etwas geben wie eine aufgeklärte Staatsneigung. Eine Bereitschaft, dem Staat zu Hilfe zu kommen. Das alte Gegeneinander – hier der böse repressive Staat und dort die gute liberale Gesellschaft – liefert uns keine brauchbare Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht begreifen, dass die staatliche Verteidigung des Allgemeinwohls ihr Mitziehen verlangt, kommen wir nicht über die Runden.

M:Aber es gibt einen Schritt davor, von dem der Blick auf den Staat ablenkt: Die Einzelnen müssen sich wieder mehr für die Meinungsbildung in der Gesellschaft verantwortlich fühlen und nicht nur für ihr direktes Umfeld, räumlich wie ideologisch verstanden. Das ist der Kern der aktuellen Demokratiefrage. Dann erst helfen neue Dialogformate, dann erst hilft mehr ernsthafte Beteiligung der Zivilgesellschaft. Und zwar durch Einbeziehung von Erfahrungen und Kompetenzen, bitte nicht nach dem Losprinzip wie in manchen modischen Modellen.

L: Es gab da zuletzt jahrzehntelang eine fatale Gewaltenteilung. Wir alle haben uns zurückgelehnt, denn »Mutti Merkel« machte das schon. Deshalb brauchten wir uns um den Staat und seine Institutionen vermeintlich nicht weiter zu kümmern.

M:Aber war es nicht auch ein Erfolg der Freiheitsbewegungen nach 1968, dass man staatsfern trotzdem politisch sein kann? Es ist falsch, etwas generell staatskritisch zu nennen, was mehr Liberalität, Offenheit und Vielfalt in diesem Staat zum Ziel hat und deshalb die bürgerlichen Freiheitsrechte gegen jede Aushöhlung verteidigt. Mehr Individualität? Wohl wahr, das war ein kultureller Fortschritt, lange Zeit auch verbunden mit mehr politischer Einmischung von unten. Dann, wir werden ja alle älter, war es irgendwann auch biografisch unser Staat. Wir hatten ihn offener gemacht, trotzdem sind viele müde und enttäuscht.

L: Für Jüngere als die 68er war der Staat nie vor allem repressiv. Heute haben wir es doch eher mit einem »progressiven Neoliberalismus« (Nancy Fraser) zu tun als mit einem autoritären Staat – als einer mächtigen Allianz derer, die primär individualistisch orientiert sind, wirtschaftlich und gesellschaftlich. FDP und Grüne versuchen denn auch so etwas wie eine neue, kleine Fundamentalliberalisierung: etwa im Adoptionsrecht, Ehe- und Steuerrecht bis hin zur Cannabis-Freigabe.

Die Devise lautet: Was einschränkt, soll weg. Die erforderliche Handlungsmacht der Institution Staat ist da kein Thema. Dabei stehen wir längst auf der Kippe. Staatsbeschäftigte sind überfordert und brennen aus. Und dieser Staat hisst auf vielen Feldern längst die weiße Fahne, beginnend bei den Schulen…

M: …wobei sich aber niemand den alten Schulkampf zwischen Gymnasien und Gesamtschulen zurückwünscht. Dieser Bildungskrieg ist unentschieden im Sand verlaufen und niemand vermisst ihn. Auch den alten linken Staatsglauben vermisst an dieser Stelle kaum mehr jemand. Die Schulen verstehen sich, wenn es gut geht, als Gemeinschaften aus Kindern, Eltern und Lehrenden. Da dann – sozusagen: staatsnah – Engagement hinzubekommen, natürlich im Streit um Prioritäten und Werte: Darum geht es. Weiße Fahnen sind da zum Glück noch nicht sehr verbreitet.

L: Trotzdem ist es ein Problem, wenn viele junge Leute ohne intrinsische, auch familiär geförderte Motivation in die Schule geschickt und sozusagen beim Staat abgegeben werden – während zugleich die kommerzielle Kulturindustrie mit all ihren neuen digitalen Versuchungen die Köpfe besetzt. Das alles schreit nach einem aktiveren Staat, damit wir im Bildungswesen nicht Abstiegsgeschichten, sondern wieder Aufstiegsgeschichten schreiben – was aber erneut gewaltige zusätzliche Aufgaben für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet.

M:Ich sehe aber auch wachsende Kreativität, wachsende Weltläufigkeit, zunehmende Vielfalt, mehr kulturellen Überblick und Fremdsprachenkompetenz. Nicht alle bleiben doof, wenn sie keine Bücher mehr lesen. Die entscheidende Frage ist, wie sich der Staat auch im Vorfeld von Entscheidungen viel mehr öffnen kann für den Diskurs in der Gesellschaft, statt nur vom eigenen hierarchischen System her zu denken.

Die Aktendeckelmentalität ist im Rückwärtsgang, dieses Stück Krise des Staates muss ja nicht schlecht sein. Nur erleben wir in den komplizierten Regelungsprozessen dann doch immer wieder, wie sie alle ihre Steckenpferde hochhalten und am Ende alles so kompliziert wird, dass es noch nicht mal mehr staatsintern funktioniert. Und jeder Anlauf zu einer größeren Reform des staatlichen Ganzen unter Einbeziehung von Föderalismus und Europaebene aus heutiger Sicht weltfremd unrealistisch wirkt. Das hat viele schon demotiviert.

L: In der Tat. Letztlich bräuchten wir wohl eine grundsätzliche Verständigung darüber, wie unser staatliches und gesellschaftliches Gemeinwesen beschaffen sein soll. Was macht heute eigentlich mündige Bürgerinnen und Bürger aus und wie können sie dazu beitragen, dass das Ganze funktioniert? Mit einem neuen Verhältnis zwischen Bürgern und Staat wäre da schon viel gewonnen. Am besten mit der Einsicht in die Notwendigkeit eines handlungsfähigen Staates zum Schutze der Freiheit aller – als Gegenbeweis gegen all jene, die jetzt von rechts her antistaatliche Gefühle mobilisieren und einsammeln.

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