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Gespräch mit der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi über die Herausforderungen 2023 und die Ansatzpunkte der Gewerkschaften »Wir werden ums Tariftreuegesetz kämpfen«

.NG|FH:Frau Fahimi, wie geht’s dem Land?

Fahimi: Es geht uns besser als viele es prognostiziert haben. Gerade auch unsere europäischen Partner sind eher erstaunt darüber, wie gut wir bislang durch diese Krise kommen. Wie sehr es gelingt, Stabilität reinzubringen – für die Privathaushalte wie für die Wirtschaft. Aber die Sorgen bleiben verständlicherweise groß und die Belastungen leider hoch.

Die Kritik aus anderen EU-Ländern an den deutschen Stützungsprogrammen ändert an diesem Urteil nichts?

Insbesondere die Folgen für die energetische Versorgung in den Ländern der EU sind zum Teil sehr unterschiedlich. Auch bei uns ist ja bei Weitem nicht alles rosarot. Wir sind und bleiben in einer angespannten Lage. Deswegen wird es 2023 darauf ankommen, den Übergang zu schaffen – aus dem Krisenmodus raus und hin zu einer echten dynamischen Modernisierung der Wirtschaftsstruktur, aber auch zur konsequenten Absicherung von Beschäftigung. Wir sind in einer Phase ähnlich wie in der Nachkriegszeit vor 75 Jahren. Damals musste es in der alten Bundesrepublik sehr grundsätzliche Entscheidungen geben, wie das Modell Deutschland aussehen sollte. So grundsätzlich sind wir heute als Gesellschaft wieder gefragt.

Ist die Stimmung in der Gesellschaft dynamisch genug, um solche großen Themen anzupacken?

Psychologie spielt immer eine große Rolle, auch in der Wirtschaft. Dort wird die Debatte gerade durch die Sorge um die industrielle Basis bestimmt. Bleibt sie stabil oder gehen wichtige Elemente in der Krise verloren? Wie vermeidet man einen drohenden Dominoeffekt, wenn einzelne Branchen oder Unternehmen aufgrund der Energiepreise nicht mehr wirtschaftlich produzieren können? Deutschland ist dazu gerade in sehr dynamischen Aushandlungsprozessen innerhalb Europas und auch mit den USA. Mein Eindruck ist: Viele Standortfaktoren werden zurzeit schlechter geredet, als sie es sind.

Und die Stimmung bei den Beschäftigten?

Die ist so, wie wir sie seit einigen Jahren kennen: ambivalent. Es gibt viele berechtigte Sorgen, wie die wirtschaftlichen Schäden infolge des Krieges zu überwinden sind und wie man gleichzeitig unsere Wirtschaft für die Zukunft gut aufstellen kann – bei Weitem nicht nur mit Blick auf die Industrie. Da geht es auch um die sozialstaatliche Infrastruktur. Ich denke zum Beispiel an die anhaltende Diskussion über die Zukunft des Gesundheitswesens. Auf der anderen Seite erleben wir Belegschaften, die geradezu einfordern, dass die Unternehmen mehr in die Modernisierung der eigenen Standorte investieren und selbst auch in hohem Maße bereit sind, durch Anpassungsqualifizierungen ihre Arbeitsplätze zu sichern.

Somit gibt es zwei große Baustellen: die Reform der Sozialsysteme und die Modernisierung der Wirtschaft selbst. Eine Zwickmühle für die Gewerkschaften, weil beides viel Geld kosten wird?

Nein. Es sind zwei verschiedene Themen. Und beide müssen zusammenkommen, wenn es gut werden soll. Die Absicherung einer Gemeinwohlwirtschaft ist anderen Logiken unterworfen als die Absicherung einer wettbewerbsfähigen Privatwirtschaft. Die Wirtschaft braucht richtige Rahmenbedingungen, Planungssicherheit und Anreize für Business-Modelle. Pflege, Gesundheit, Erziehung und soziale Dienste müssen dem privaten Markt dagegen eher entzogen werden. Zumindest sofern es Aufgaben der Daseinsvorsorge sind, die aus Beitrags- und Steuermitteln finanziert werden. Dann ist nicht nachvollziehbar, warum daraus erzielte Profite privatisiert werden sollen – oft genug auf Kosten der Beschäftigten und der Qualität des Angebots. Sofern die öffentliche Hand dieses Angebot nicht selbst sicherstellt, muss es zumindest gemeinwohlorientiert passieren.

Das bedeutet, zum Beispiel, Entprivatisierung des Gesundheitssystems?

Das wäre der richtige Weg.

Aber es braucht dann auch mehr öffentliches Geld dafür, die Verteilungsfrage stellt sich also?

Ja. Aber wir bezahlen jetzt schon die Folgen der Privatisierung als Gesellschaft letztlich teuer. Und ich sehe im Gesundheitswesen auch Effizienzreserven. Das System ist eines der teuersten der Welt. Man könnte sich stärker auf Behandlungsqualität konzentrieren, statt auf möglichst rentable, sprich: geldbringende Untersuchungen und Operationen.

Sogar der Minister nimmt das Wort Revolution in den Mund, aber von einem wirklich grundlegenden Reformkonzept ist noch wenig zu sehen...

Ein leistungsfähiger Sozialstaat ist nicht nur ein politischer Anspruch, sondern eine zwingende Bedingung für gute wirtschaftliche und soziale Zukunft. Das ist eine Frage der sozialen und ökonomischen Vernunft. Ich betone das, weil unter dem aktuellen Veränderungsdruck die Industrie und das private Gewerbe sehr stark im Fokus stehen und manche dabei vergessen, wie wichtig aber auch dafür Sozialstaat und Daseinsvorsorge sind. Deutschland, die globalisierteste Volkswirtschaft der Welt, muss die Themen in dieser Umbruchphase zusammendenken und nicht hintereinander. Wenn die Beschäftigten nicht sehen, in welche Zukunft wir uns gemeinsam und insgesamt weiterentwickeln, sind ihre Sorgen nur zu berechtigt.

Die Globalisierung wird inzwischen ja vielfach kritisch gesehen – wie ist die Gewerkschaftshaltung dazu?

Wir halten nichts von leichtfertigen und häufig oberflächlichen Deglobalisierungsdebatten. Wir stehen für einen regelbasierten Multilateralismus. Aber natürlich sind in den vergangenen Jahren Abhängigkeiten entstanden, die man kritisch überprüfen muss. Es mangelt an Diversifizierung bei den Lieferanten von Rohstoffen und auch bei wichtigen Bauteilen. Da kommt zu vieles nur aus einer Richtung und birgt Klumpenrisiken, die unterschätzt wurden – nicht nur beim Erdgas. Das ist aber kein zwingendes Ergebnis von Globalisierung, sondern von allein preisgetriebenen Entscheidungen vieler Unternehmen: Hauptsache billige Zulieferer.

Deglobalisierung hilft nicht, um aus risikoreichen Abhängigkeiten rauszukommen. Was hilft, sind verlässliche Partnerschaften mit vielen Ländern weltweit, die am besten mit ähnlichen Zielen und Standards arbeiten, wie wir sie verstehen. Auf der Basis guter Handelsabkommen schaffen wir für Partner in der Welt Klarheit und können stabilere Lieferketten aufbauen. Mit Partnern, die auf Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Klimaschutz und soziale Standards setzen. Darauf drängen wir im Übrigen auch in den Betrieben, in denen wir mitbestimmen.

Mitbestimmung als weltwirtschaftliches Steuerungsinstrument?

Selbstverständlich – das ist der Zweck von Mitbestimmung. Unsere verfassungsrechtliche Aufgabe ist die Gestaltung von Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen. In einer globalisierten Welt gilt das dann auch über die deutschen Grenzen hinaus. Allerdings brauchen wir dafür dringend eine Modernisierung der Mitbestimmung und die Beendigung von Tarifflucht und Mitbestimmungsverweigerung.

Und die Rolle des Gesetzgebers?

Deutschland muss ein demokratischer Rechtstaat bleiben und beweisen, dass dieser gerade in einer Zeit großer Herausforderungen die beste Gesellschaftsform ist – und dass er handlungsfähig ist. Das erfordert agile Steuerungsformen, die nicht allein auf Parlament und Staatshandeln fixiert bleiben. Um alles, was wir in Betrieben klären, muss sich die Politik nicht mehr kümmern. Sie könnte es auch gar nicht in dieser Tiefe, so zielgenau und effizient. Und: Was nutzt ein Gesetz, wenn ich dessen Durchsetzung kaum kontrolliere? Die Überprüfung von Verordnungen und Gesetzen ist eine der Hauptaufgaben der Betriebsräte. Mitbestimmung ist Demokratie und eine Gelingensbedingung für die Modernisierung.

Stimmt eigentlich die verbreitete These, dass die Demokratie an Akzeptanz verliert?

Ich sehe kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Demokratie als gesellschaftliches Prinzip, sondern eher verbreiteten Frust und Unzufriedenheit wegen misslingender staatlicher Steuerung und Dienstleistung. Noch nicht mal unbedingt mit Blick auf die Bundesebene, sondern oft genug in persönlichen unmittelbaren Erlebnissen mit Behörden. Die Überkomplexität vieler Regelungen, lange Wartezeiten, komplizierte Formalien – so erleben viele Menschen einen Staat, der sie ausbremst oder blockiert. Die Digitalisierung könnte da eine Verbesserungschance sein, zumal der Fachkräftemangel auch im öffentlichen Dienst behoben werden muss. Oder one-stop-shops. Vereinfachung und Entbürokratisierung bedeutet eben nicht einfach Deregulierung, sondern effiziente Organisation.

Ist die Ampelregierung eigentlich insgesamt bei den vielen großen Fragen ein Bündnispartner oder sortiert sich das je nach Koalitionspartei?

Wir haben jedenfalls insgesamt gute und intensive Gespräche, in denen der Austausch mit Arbeitgebern und Gewerkschaften gleichermaßen wichtig ist. Im besten Sinne der Sozialpartnerschaft eint uns ja auch einiges mit den Arbeitgebern, etwa wenn es um leistungsfähige Nachhaltigkeitsstrategien geht oder um Standortsicherung. Wenn es um den Einsatz öffentlicher Gelder geht, um Arbeitsplatzsicherung und die Prioritäten der künftigen Entwicklung haben wir miteinander noch viel zu klären.

Die Prioritäten der FDP bleiben ganz andere als die der Gewerkschaften, etwa wenn›s ums Abschöpfen von Zufallsgewinnen geht…

Das Finanzministerium setzt doch gerade die Richtlinie der EU dazu um. Das war im Übrigen auch eine unserer Forderungen. Und: Die FDP führt ja nicht diese Bundesregierung. Wir sind mit vielem sehr zufrieden, was die Bundesregierung von unseren Vorschlägen aufgenommen hat, zum Beispiel bei der Entlastung der privaten Haushalte oder mit der Preisbremse im Energiebereich. Ganz wichtig: Die Unterstützung der Wirtschaft durch eine Subventionierung von Energiepreisen ist an Standort- und Beschäftigungsvereinbarungen mit uns Gewerkschaften gebunden. Das haben wir durchgesetzt. Und das ist auch unser Auftrag: Die Menschen sehnen sich in diesen unsicheren Zeiten nach einer Schutzmacht, die die richtigen Prioritäten setzt.

Wo liegen die gewerkschaftlichen Schwerpunkte 2023?

Wir werden immer wieder zeigen, wie wichtig starke Gewerkschaften sind, die Tarifverträge abschließen. Und wie wichtig starke Betriebsräte und Aufsichtsräte sind, die mitentscheiden bei Investitionen und bei der Standortsicherung. Wie wichtig die Kraft der Solidarität ist. Sie ist das alte und immer wieder erfolgreiche Rezept der Gewerkschaften. Wir müssen füralle Lösungen finden, wie die Transformation gelingen kann. Das verstehe ich unter einem sozial gerechten Übergang in eine klimaneutrale Gesellschaft.

War es aus gewerkschaftlicher Sicht eine gute Idee, in den Tarifgesprächen 2022 auch das Regierungsangebot eines steuerfreien einmaligen Festbetrags zu nutzen?

Warum denn nicht? Es ist im Übrigen keine Neuerfindung; nur die Steuerbefreiung ist neu. Solche Zahlungen ersetzen nicht die tabellenwirksamen Tarifsteigerungen, sondern sind ein zusätzliches Element, das wir kreativ nutzen können, nicht nur mit einem Betrag auf einen Schlag, sondern auch als Entlastung über einen längeren Zeitraum. Das ist vielfach aufgenommen worden – deshalb sehe ich darin einen Erfolg. Gleichzeitig gilt: Die Erwartungen der Beschäftigten sind enorm. Wir wollen, dass die hohe Inflationsrate vollständig abgefedert wird. Allerdings muss die Politik durch Entlastungspakete helfen, die Preisschocks aufzufangen.

Und die weiteren Erwartungen an die Politik?

Wir fordern von der Bundesregierung ein klares Signal zur Stärkung von Tarifbindung und Mitbestimmung. Eine neue EU-Richtlinie sieht vor, dass alle Mitgliedstaaten mindestens 80 Prozent Tarifbindung sicherstellen müssen. Spätestens jetzt ist ein nationaler Aktionsplan dazu überfällig. Ich begrüße außerordentlich, dass die Regierung an das Vergaberecht für öffentliche Aufträge herangehen will und zukünftig öffentliche Aufträge davon abhängig macht, ob eine Tarifbindung vorliegt. Aber das muss dann auch für alle Versorgungsaufträge des Bundes gelten, etwa für die Bundesagentur für Arbeit. Und auch für Wirtschaftssubventionierungen generell. Keine Staatsknete mehr für Unternehmen auf der Tarifflucht. Die gesellschaftlichen Folgeschäden sind zu groß.

Ein Problem besonders im Osten?

Ja. Dort ist die Lage deshalb so extrem angespannt, weil ein Versprechen der deutschen Vereinigung nicht gehalten worden ist – das der gleichwertigen Lebensbedingungen, wozu Mitbestimmung und Tarifbindung natürlich auch gehören. Aber viele Entscheidungen damals waren damit verbunden, in Ostdeutschland Unternehmen anzusiedeln, die ausdrücklich von Mitbestimmung und Tarifbindung befreit waren. Deshalb haben wir diese dramatische Lage im Osten bis heute und die extreme Abhängigkeit auf dem Arbeitsmarkt vom Mindestlohn. Umso wichtiger ist es, bundesweit das zu erreichen, was wir in Westdeutschland vor dem Fall der Mauer hatten: weit über 90 Prozent Tarifbindung.

Wie kann das praktisch erreicht werden?

Bundesgesetze gelten im Osten wie im Westen. Mit einem echten Tariftreuegesetz, das alle öffentlichen Aufträge an Tarifbindung koppelt, würden wir vieles verändern. Wir werden sehr darum kämpfen, das zu erreichen. Es geht da nicht um Gewerkschaftsmacht. Es geht um ein breites Verständnis, dass die Lohnentwicklung die Verteilungsfrage Nummer eins ist. Wir dürfen eine Entwicklung in eine Zwei-Einkommensklassengesellschaft nicht zulassen, also Beschäftigte mit und ohne Tariflohn. Gerechte Verteilung ist nicht allein eine Frage der sozialen Mindestleistung für Arme, sondern ob alle Beschäftigten einen gerechten Lohn bekommen.

Sind dies eigentlich Zeiten, in denen die Gewerkschaften Arbeitskämpfe engagiert führen können – oder droht bei vielen ein Wegducken vor Konflikten?

Es ist eine Zeit, in der die Beschäftigten einen so großen Problemdruck spüren, dass sie zu Arbeitskämpfen durchaus bereit sind. Aber Streik ist kein Selbstzweck. Wir haben natürlich erst einmal das Ziel, uns am Verhandlungstisch zu einigen. Aber den Arbeitgebern ist schon klar, wie die Stimmung in den Betrieben ist. Wir arbeiten stets mit der Kraft der Solidarität aus den Betrieben.

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