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Die Staatsoper Stuttgart geht auf die Suche nach der »Wahrheit« Wirklich wirklich

Leiden wir alle unter dem Anton-Syndrom? Dieses nach dem österreichischen Neurologen Gabriel Anton (1858–1933) benannte medizinische Phänomen bezeichnet die Unfähigkeit von Blinden, ihre Blindheit (an-)zu erkennen. Beim Anton-Syndrom fehlt den Erblindeten die Einsicht ihrer Krankheit: Sie imaginieren voll innerer Überzeugung ihre eigene Wirklichkeit. Auf Nachfrage beschreiben sie sehr konkret die Welt, die sie um sich herum »sehen«. Vieles von dem, das zu sehen sie physiologisch nicht in der Lage sind, erschließen sie sich beispielsweise durch Plausibilität.

Beim Versuch, die Wahrheit oder Wirklichkeit zu erkennen, sind auch vermeintlich Sehende oftmals vom Anton-Syndrom bedroht. Doch wie entsteht diese Blindheit für die eigene Blindheit? So lautete die Ausgangsfrage von Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaften an der Universität Tübingen, in seinem Vortrag »Illusionen der Wahrheit«, der die Gefahr der Gewissheit und die Nützlichkeit des Zweifels thematisierte und damit den Wirklichkeitskongress der Staatsoper Stuttgart eröffnete. Der Kongress wiederum bildete den Abschluss des erstmalig veranstalteten Frühjahrsfestivals der Stuttgarter Staatsoper. Ausgangspunkt waren die Neuproduktionen der Opern Nixon in China von John Adams und Der Prinz von Homburg von Hans Werner Henze. Während der erste Besuch eines US-Präsidenten in China vor allem als bildgewaltiges mediales Ereignis in die Geschichte einging, stehen in Henzes Oper die Träume eines Außenseiters, der sich seiner Rolle als Herrscher widersetzt, im Zentrum. So ging das Festival unter dem Motto »wirklich wirklich« Fragen nach Traum und Wirklichkeit, Realität und Illusion nach. Wie lassen sich Traum und Wirklichkeit voneinander unterscheiden? Und welche Wirklichkeit ist wirklich wirklich?

Eine klare Trennlinie zwischen Wahrheit und Wirklichkeit wurde dabei nicht gezogen – eine angesichts der in Religion, Philosophie und Geisteswissenschaften geführten Diskussionen über deren Abgrenzung und Gemeinsamkeiten nachvollziehbare Entscheidung. Tatsächlich gibt es unterschiedliche, einander geradezu widersprechende Sichtweisen: Existiert eine objektive Wirklichkeit dessen, »was ist«, und unterliegt es unserer kulturell geprägten Entscheidung, was wahr ist und was nicht? Oder verhält es sich genau umgekehrt: Ist Wirklichkeit unsere subjektive »Wahr-Nehmung«, nehmen wir sie also nur als wahr an? Doch unabhängig davon, für welchen Begriff wir uns entscheiden: Auf der Suche nach Wahrheit oder Wirklichkeit sind wir als Beobachtende mit unserer Geschichte, unseren Prägungen und Vorurteilen das Nadelöhr des Erkenntnisprozesses. Es existiert keine neutrale Position von außen, von der aus man etwas objektiv betrachten könnte: Wir sind immer mit dabei und stehen uns oftmals selbst im Weg.

Doch die Blindheit für die eigene Blindheit ist zunächst gar kein erkenntnistheoretisches Problem, sondern resultiert nach Pörksen aus vier Aspekten, die es uns erschweren zu erkennen, ob ein Sachverhalt wahr ist. Als erstes ist die kritiklose Akzeptanz von Autorität zu nennen. Der Hauptmann von Köpenick steht für das Phänomen, dass wir einer Uniform oder einem weißen Kittel Autorität, Wissen und Kenntnis der Wahrheit zuschreiben. Dazu gesellt sich zweitens eine Dämonisierung des Zweifels, wie sie etwa bei Sekten beobachtet werden kann: Wer zweifelt und einer Aussage nicht vollumfänglich zustimmt, wird ausgegrenzt. Auf die Informationskontrolle folgt oft die Sozialkontrolle: Viele Sekten schirmen ihre Mitglieder auch räumlich vom sozialen Zusammenleben mit Nicht-Sektenmitgliedern ab und ziehen sich von der Zivilisation zurück. Am Endpunkt der Manipulation steht dann die Gedankenkontrolle. Wer nicht dafür ist, ist dagegen – eine Sichtweise, die auch bei »Diskussionen« im Internet üblich geworden ist.

Kult der Pseudoskepsis

Genau der gegenteilige Umgang mit Zweifel ist noch gefährlicher und derzeit sehr in Mode: der Kult der Pseudoskepsis. Das methodische Infragestellen führt letztendlich zur Umdeutung von Faktischem zu bloßer Meinung. So zweifelt etwa die sogenannte »Birther«-Bewegung in den USA an, dass Barack Obama in den USA geboren wurde oder Christ ist. Beweise, wie etwa seine Geburtsurkunde oder die Geburtsanzeige in der Zeitung, werden als mögliche Fälschungen angesehen. Das Anzweifeln von Fakten ist die Grundlage von Verschwörungstheorien oder Geschichtsumdeutungen. Wenn eine Kampagne über ausreichend mediale Präsenz verfügt, wie sie in den sozialen Medien rasch erreicht werden kann, werden immer mehr Menschen mit der »Wahrheit« erreicht, dass Kondensstreifen am Himmel eine Bedrohung seien oder der Klimawandel nicht existiere. Das uns Menschen eigene Bedürfnis nach Bestätigung schließlich sorgt dafür, dass wir uns aus der Vielfalt an Meinungen nur zu gerne genau diejenigen Stimmen heraussuchen, die unsere eigenen Vorurteile oder Erwartungen unterstützen. Gerade im Internet kann man so durch das Ausblenden (Wegklicken) anderslautender Ideen und Meinungen recht schnell in eine Selbstbestätigungsblase geraten und der Illusion einer Mehrheit für die eigenen Ansichten erliegen. Auf diese Weise kann es einer kleinen Gruppe von »Meinungsmachern« gelingen, durch gezieltes Streuen von (Falsch-)Informationen in den richtigen Kanälen eine ungeheure Wirkung zu entfalten.

Doch wie gehen wir nun ganz lebenspraktisch mit dieser Situation um? Können wir der Blindheit für unsere eigene Blindheit überhaupt entkommen? Gibt es eine Möglichkeit, Wahrheit von bewusster Falschmeldung zu unterscheiden? Der Versuch, diese Fragen prinzipiell zu beantworten, führt letztendlich zwischen die Fronten des seit Langem andauernden Disputs von Realisten und Konstruktivisten. Während Erstere davon ausgehen, dass es eine einzige Realität gebe und das Erkennen von Wahrheit möglich sei, wenn man nur immer weiter falsifiziere und Schicht um Schicht Falsches abtrage, bis schließlich der wahre Kern eines Sachverhalts übrig bleibe, stellen Letztere die Existenz einer einzigen Wahrheit insgesamt infrage: Wahrheit sei eine Konstruktion der jeweiligen Beobachter. In Reinform angewandt bieten beide Positionen keine Hilfe für unseren Alltag: Während in dem einen Fall die Wahrheit durch immer tiefergehendes Suchen und Forschen unerreichbar zu werden droht, besteht im anderen Fall der Annahme rein subjektiver Konstruktion die Gefahr der Beliebigkeit.

Zwischen Realismus und Konstruktivismus bietet Pörksen den »Situationismus« – nicht als Lösung eines unlösbaren Dilemmas, sondern als konkrete Handlungsoption. Unentscheidbare Fragen, so Pörksen, führten zu Freiheit, aber auch zu Verantwortung. Dystopisches Denken scheint derzeit in unseren westlichen Gesellschaften übermächtig zu werden. Dies entbindet uns nicht von unserer Verantwortung, in einem vorgegebenen Rahmen der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen und uns den Versuchen, Fakten zu relativieren, entgegenzustellen. Innerhalb eines festen Bezugssystems wie etwa der Mathematik bleibt zwei plus zwei auch dann vier, wenn sich eine scheinbare Mehrheit dafür ausspricht, dass es fünf sei. Natürlich sind andere Bezugssysteme wie etwa die Beurteilung historischer Ereignisse bei Weitem nicht so eindeutig determiniert wie Aussagen in der Mathematik. Dennoch: Unsere Entscheidung darf je nach Situation mal mehr dem einen Pol (Realismus), mal mehr dem anderen (Konstruktivismus) zustreben, sollte aber immer begründet und begründbar sein.

Wettrennen zwischen Illusion und Gewöhnung

Um die Macht der Bilder und das Eintauchen (Immersion) in virtuelle Welten ging es im Vortrag von Oliver Grau, Professor für Bildwissenschaften an der Donau-Universität Krems. Mark Zuckerbergs Vision virtueller Räume oder die Datenbrille »Google Glass« versprechen das Eintauchen in emotionale Erlebniswelten – für viele Menschen ersehnter Wunschtraum, für viele andere eine Horrorvorstellung. Doch die Geschichte der Versuche, sich mithilfe von Bildwelten in künstlichen Realitäten zu verlieren, reicht lange zurück. Schon die dreidimensionalen Darstellungen in Renaissance-Fresken waren nichts anderes als der Versuch, die Betrachter zu überwältigen und in den Raum hineinzuziehen. Von 360-Grad-Panoramen des 18. und 19. Jahrhunderts wird berichtet, dass es manchen Besuchern vom Betrachten der illusionären Landschaften schwindlig wurde. Und im Medium des Films entwickelt sich die Technik mit IMAX und 3-D immer rasanter, um den Eindruck von Realität täuschend echt zu imitieren. Erstaunlicherweise jedoch folgt offenbar auf den ersten Schockzustand recht bald ein Gewöhnungseffekt. Die Schwindelgefühle beim Betrachten gemalter 360-Grad-Panoramen sind schon lange jenseits unserer Vorstellungskraft.

Das Wettrennen zwischen Illusion und Gewöhnung ist bislang immer zugunsten der Gewöhnung ausgegangen – und damit auch zugunsten einer klaren Trennlinie von Schein und Wirklichkeit. Doch ist eine Dystopie wie beispielsweise im Film Matrix denkbar? Dass wir etwa aufgrund direkter Erzeugung illusionärer Welten in unseren Hirnzellen nicht mehr in die Realität zurückfinden? Und wie würden wir uns in einer solchen Situation entscheiden, wenn wir vor der Wahl stünden: Würden wir uns, so das Angebot in Matrix, für die blaue Pille entscheiden und in der Welt der Illusion verbleiben? Oder würden wir die rote Pille nehmen, aus unserer Blindheit erwachen und eine Wahrheit erkennen, von der wir nicht wissen, was sie eventuell an Schrecken bereithält? Vermutlich scheitern wir beim Versuch, Wahrheit zu erkennen, nicht nur am prinzipiellen Unvermögen, sondern mindestens ebenso oft an unserem Willen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Manch schöner Schein ist so viel angenehmer als die raue Wirklichkeit.

Doch wie verhält es sich mit Wirklichkeit und Immersion im Bereich der Kunst? Dort verschränken sich die beiden Bereiche in besonderer Weise. Ist doch in Schauspiel und Musiktheater die Herstellung von Illusion geradezu der Endzweck aller künstlerischen Bemühungen. Und kaum ein Genre bietet bessere Voraussetzungen für vollkommene Immersion als die Musik. Richard Wagners Musiktheater steht für einen Höhepunkt immersiver Kraft: So befördert etwa das Verschwinden des sichtbaren Orchesters unter einem Deckel das Eintauchen ins Kunstwerk. Wenn Kunst nicht nur Verdoppelung und Abbild der Wirklichkeit ist, sondern eine eigene Welt erschafft, bilden Illusion und Wahrheit keine Gegensätze, sondern können im besten Falle aufeinander folgen. Und ebenso wie in spiritueller Praxis die bewusste Versenkung als Schlüssel zur Wahrheit angesehen wird, kann die immersive Kraft von Musik zu neuen Erfahrungen führen, die jenseits des gesprochenen Wortes liegen.

Besonders gut war dies in der Performance Dialog/Daehwa des Duos »Perspektivenbox«, bestehend aus Ui-Kyung Lee und Julian Siffert, zu erleben. Im ersten Teil ihrer Darbietung berichteten sie abwechselnd von ihren Erfahrungen von Fremdheit während ihrer Auslandsaufenthalte, weil es ihnen nicht möglich war, die fremden Sprachen in all ihren Feinheiten zu verstehen. Bei ihrem Vortrag nahmen sie das Mikrofon jeweils so tief in den Mund, dass es für die Zuhörenden fast unmöglich gewesen wäre, den Inhalt der gesprochenen Worte zu verstehen, wenn nicht zeitgleich Untertitel an die Wand projiziert worden wären. Im zweiten Teil übertrugen die Ausführenden das Gefühl des Nicht-Verstehens in Musik. Vor dem Hintergrund eines gleichbleibend klingenden elektronischen Tons versuchten sie mit Geige und E-Gitarre, sich diesem Ton und einander anzunähern, was jedoch wegen der zunehmenden Verstimmung der Instrumente misslang. Beim Zuhören stellte sich mehr und mehr ein fast körperlich spürbares, verzweifeltes Gefühl von Verständnis des Nicht-Verstehens und Aneinander-Vorbeiredens ein, wie es ein bloßes Referieren von Fakten niemals vermocht hätte. So machte das Eintauchen ins klingende Geschehen eine tiefere Wahrheit wirklich wirklich.

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