»Die digitale Welt verändert alles, wir leben in Zeiten zerstörerischer Innovationen« – so ist es dieser Tage oft zu hören und zu lesen, auf Digitalisierungskongressen ebenso wie in Zeitungsartikeln, aus dem Mund der Kanzlerin vernahm man vor ein paar Jahren noch, die Digitalisierung sei für uns alle Neuland. Eine neue Ära bricht zweifellos an. Diese gibt es in zwei Varianten: als Dystopie einerseits, mit düsteren Visionen einer zukünftigen Welt, in der Menschen von digitalen Superintelligenzen unterjocht sein werden (Bücher wie Nick Bostroms Superintelligenz: Szenarien einer kommenden Revolution oder Klaus Mainzers Künstliche Intelligenz – Wann übernehmen die Maschinen? oder Hollywoodfilme wie Ex Machina von Alex Garland aus dem Jahr 2014), und es gibt sie als Utopie einer schönen neuen Welt der Freiheit und der Mitmenschlichkeit (etwa das Buch Robot: Mere Machine to Transcendent Mind von Hans Moravec oder Steven Spielbergs Film A.I. – Künstliche Intelligenz von 2001).
Bei genauerer Betrachtung stellt man allerdings fest, dass ein Großteil der digitalen Zukunftsmusik alles andere als neu ist und Obsessionen, Ängste und Hoffnungen spiegelt, die seit Jahrhunderten in unserer westlichen Kultur präsent sind. In der westlichen Kulturgeschichte hat es immer wieder Konstruktionen eines solchen als anders und fremd markierten Gegenübers gegeben. Von der Antike, in der sich die Griechen des Feindbilds der Barbaren bedienten, über die Renaissance und die europäische Aufklärung, in der Indigene der neuen Welt als einerseits wildes, andererseits aber auch faszinierendes Gegenüber herhalten mussten, bis hin zu dem fiktiven Gegenüber des Außerirdischen, der vor allem von den späten 70ern bis in die 90er Jahre hinein in unserer Popkultur präsent war.
Die Konstruktion des Roboters bzw. der künstlichen Intelligenz (KI) im 21. Jahrhundert passt gut in diese projektive Praxis. Und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass wir in Hollywoodfilmen, aber auch in Sachbüchern, wieder dieselben zwei altbekannten stereotypen Beschreibungen vorfinden, die zuvor schon auf Barbaren, Außerirdische und Indigene projiziert worden waren. So existiert das Bild des »bösen Roboters« (etwa das des Killerroboters, das von Tesla-Chef Elon Musk beschworen wird) genauso wie das des »guten Roboters« (wie etwa beim Chatbot »Mitsuku«, der als zuverlässige freundliche Freundin präsentiert wird).
In seinem Aufsatz Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken beschreibt Sigmund Freud das, was er als »animistisches Denksystem« beschreibt. Dessen Grundlage sei der kindliche Glaube an die Allmacht eigener Gedanken. Wenn Erwachsene animistisch denken, also etwa Unbelebtes für belebt halten, dann zeuge dies, so Freud, von einer Regression, also einem Rückfall in kindliches Wunschdenken.
Wenn nun also manche Wissenschaftler die These vertreten, dass Roboter genauso denken und fühlen werden wie Menschen und wir sie in naher Zukunft als gleichberechtigte Personen wahrnehmen müssen (ein erster Schritt in diese Richtung erfolgte, als die Europäische Kommission dem Gesetzgeber empfahl, Robotern, bzw. sogenannten autonomen Softwaresystemen, den Status einer »E-Person« zu verleihen), dann wird unter dem Deckmantel von Rationalität und Wissenschaftlichkeit sowie getrieben von wirtschaftlichen Interessen der Versicherungsbranche im KI-Diskurs eine Form des modernen Animismus praktiziert.
In der Fiktion gibt es dafür einen Vorläufer, und zwar die Figur des Nathanael, dem Protagonisten aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, einem jungen Mann, der sich in eine mechanische Puppe verliebt, weil er glaubt, in ihr eine tiefe Seele zu finden. Interessanterweise wird der Wahn Nathanaels in der Erzählung von einem wissenschaftlichen Gerät befördert, dem Perspektiv, durch das er Olimpia, die »Tochter« seines Professors, die sich später als Holzpuppe erweist, immer wieder ansieht. Die Interpretation liegt auf der Hand: Wissenschaft – wenn sie falsch betrachtet wird – kann zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität, bzw. sogar zu Wahnvorstellungen führen. Die Geschichte endet übel – wie die meisten, in denen Unbeseeltes beseelt wird.
Dass neue Technologien die Träume der Menschen beflügeln, ist nicht neu. So träumte etwa AEG-Gründer Emil Rathenau Ende des 19. Jahrhunderts davon, wie Elektrizität die Welt erlösen würde, weil sie dem Menschen Zeit gäbe, nachzudenken und besser zu werden. Und Henry Ford war sogar der Meinung, dass das Auto, damals »Kraftwagen« genannt, die Menschheit auf eine neue Stufe ihrer Existenz heben und am Ende den Weltfrieden hervorbringen würde, denn »wenn alle alles haben, wird Freiheit und das Paradies auf Erden kommen«, so Ford. Seine Äußerung »Wir sind im Begriff in eine neue Ära einzutreten, eine neue Erde wie sie die Propheten seit urdenklichen Zeiten ersehnt haben«, könnte auch von einem religiösen Führer – oder eben einem Silicon-Valley-Propheten – stammen.
Viele Silicon-Valley-Größen – allen voran Galionsfiguren wie Elon Musk oder Reid Hoffman (Mitgründer von LinkedIn) – verstehen sich in der Tat nicht nur als reine Geschäftemacher, sondern auch als Heilsbringer. So wie früher die puritanischen Prediger Amerikas, zum Beispiel John Winthrop, angekündigt hatten, es werde ein vorbildhafter Ort sein, auf den sich die Augen der ganzen Welt richten werden, sind es jetzt 400 Jahre später die Unternehmer und Entwickler aus dem Silicon Valley, die verkünden, dass dort Dinge entstehen werden, die die gesamte Menschheit beglücken und auf eine höhere Stufe ihres Seins heben werden.
Erlösung oder digitale Hölle?
Wenn man sich die Rhetorik der Digitalisierungspropheten ansieht, fällt ins Auge, wie sehr eine allgemeine Digitalisierung unserer Lebenswelt mit einer Erlösungshoffnung einhergeht, einer neuen Form des modernen Millenarismus, also des Glaubens daran, dass unsere Welt unweigerlich auf eine Apokalypse hinsteuere, nach der Christus wiederkehrt, um ein neues tausendjähriges Reich einzuläuten. Mit den technologischen Neuerungen der Digitalisierung geht der Millenarismus eine neue Verbindung ein und schafft so die Vision einer »technologischen Eschatologie«, wonach die Menschheit von der digitalen Technik erlöst werden wird. Glaubt man etwa dem Informatiker und Ex-Google-Mitarbeiter Ray Kurzweil, dann wird die Apokalypse in Form einer Kontrollübernahme durch KI bereits im Jahre 2045 stattfinden, was laut Moravec für uns Menschen großartig sein wird, weil uns die Maschinen ermöglichen werden, unsere Sterblichkeit zu überwinden.
Das vollständig digitalisierte Paradies ist nicht nur Paradies, sondern auch ein Schlaraffenland, in dem uns Roboter als digitale Sklaven alle unangenehmen Arbeiten abnehmen, um uns ein Leben der Freizeit und Muße zu ermöglichen. Darüber hinaus ist es aber auch ein diesseitiges Paradies, in dem der Mensch seine Verletzlichkeit und Sterblichkeit überwunden hat – dies verkünden zumindest Transhumanisten wie der KI-Forscher Hans Moravec. Er glaubt, dass durch eine Verbindung von Mensch und Maschine in naher Zukunft unsterbliche Individuen erschaffen werden. Zu guter Letzt ermöglicht das digitale Paradies auch eine Welt der Transparenz, der Eindeutigkeit und der Allverbundenheit. Eine Welt, die alles auf Knopfdruck verfügbar macht. Eine Welt ohne Mehrdeutigkeiten. Eine Welt, des Entweder-oder, in der alles klar und durchsichtig ist. Es ist das große Absolute, nach dem sich der Mensch schon immer gesehnt hat.
Natürlich gibt es als Pendant zu den Erlösungs- und Paradieshoffnungen auch die Furcht vor einer digitalen Hölle. Diese Furcht schlägt sich in Science-Fiction-Filmen nieder, in denen eine Welt imaginiert wird, die vollständig digitalisiert ist. In einer dieser digitalen Höllen wird mithilfe digitaler Technologien eine faschistische Diktatur geschaffen. Dies sehen wir in Filmen wie Tron: Legacy (2010) oder auch in dem filmischen Meisterwerk Matrix (1999). Eine andere Horrorvorstellung ist die einer digital ökonomisierten Welt, in der die Interessen von Konzernen über die von Menschen gestellt werden, wie dies etwa in Ridley Scotts Film Blade Runner aus dem Jahre 1982 imaginiert wird. Nicht zuletzt zeigt sich in diesen Filmen auch die immer wiederkehrende Angst vor einem totalen Kontrollverlust, die sich mit der Angst vor dem totalen Verlust der Privatsphäre mischt wie etwa in Matrix. Das Gemeinsame dieser Narrative ist jeweils die Hilflosigkeit und Passivität, mit der der Mensch der digitalen Technik gegenübersteht. In dem einen Fall, weil sie ihn erlösen – im anderen Fall, weil sie ihn verdammen wird.
In einer Zeit aber, in der Probleme wie Umweltzerstörungen, Klimakatastrophen oder Terrorismus unser Bewusstsein zu überfluten drohen, ist mit einer solchen Einstellung niemandem geholfen. Digitalisierung sollte als das angesehen werden, was sie ist: eine Technik, die manches in unserem Leben erleichtern soll, so wie es die Elektrizität und das Automobil tat. Dabei sollte man aber nicht die Risiken aus dem Auge verlieren und den kulturellen Preis, den wir für ihre Vorteile zahlen. Wir sollten also weniger ein vermeintlich kommendes Paradies oder alternativ die auf uns wartende Hölle im Auge behalten als vielmehr unser Leben auf dieser Erde hier und jetzt humaner, inklusiver und sozialer gestalten. Nicht Digitalisierung um ihrer selbst willen sollte daher das Thema der Stunde sein, sondern digitaler Humanismus. Ein digitaler Humanismus geht davon aus, dass sich an der conditio humana nichts Wesentliches ändert. Er weiß, dass es nicht die Technologien sind, die darüber entscheiden, wie wir leben und wie nicht, sondern der Mensch und seine politische, ökonomische und kulturelle Praxis.
Digitale Humanisten machen sich zum Ziel, nur jene Digitalisierungen zu fördern, die das menschliche Leben menschenwürdiger machen. Sie vergessen nicht, dass ein menschenwürdiges Leben darin besteht, Respekt vor anderen zu wahren, ohne seine eigene Autonomie zu verlieren – Aufgaben, die in unsere Hände gehören und nicht an IT-Propheten delegiert werden dürfen. Oder, um es mit dem britischen Brexit-Slogan zu umschreiben: Let’s take back control!
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