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Kritische Anmerkungen zu den Thesen für ein »neues Jahrhundert Sozialer Demokratie« Wo ist die makroökonomische Kompetenz?

Die Zeitschrift Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte hat begonnen, Vorschläge für eine programmatische Erneuerung der SPD zu entwickeln. Der Versuch, eine neue Rolle der Sozialdemokratie in einem veränderten Kapitalismus zu beschreiben, ist angesichts der Krise der europäischen Sozialdemokratien begründet. Dadurch wird es möglich, eine kontroverse Debatte zu führen, die auch darauf zielt, zu erkennen, warum die deutsche SPD, aber auch andere europäische Sozialdemokratien wichtige ökonomische und soziale Veränderungen in der jüngeren Vergangenheit offensichtlich falsch eingeschätzt hatten. Damit meine ich zwei große Prozesse, die in der Regel als Globalisierung/Internationalisierung bzw. als Finanzialisierung des entwickelten Kapitalismus bezeichnet werden. Meine These lautet, dass in den sozialdemokratischen Parteien, aber auch in den Gewerkschaften, die Prozesse der Globalisierung und ihre Folgen für die Handlungsmöglichkeiten des Nationalstaats überschätzt und die Auswirkungen einer zunehmenden Finanzialisierung der Wertschöpfung, also der Kapitalbildung durch unproduktive Arbeit im sogenannten Finanzmarkt-Kapitalismus, unterschätzt worden sind.

Deshalb möchte ich gegen einige der Thesen, die in der Ausgabe 3/2018 von Mitgliedern der SPD-Grundwertekommission in dieser Zeitschrift erschienen sind, Einwände erheben. Dabei konzentriere ich mich auf das diesen Thesen zugrunde liegende Bild des gegenwärtigen Kapitalismus, anders gesagt, auf die Kapitalismustheorie, die darin enthalten ist.

Den »Kapitalismus als solchen« (These 7) gibt es nicht. Insofern ist es eine unzulässige Vereinfachung von der Rolle des Kapitalismus in der Europäischen Union zu sprechen. Aus der sogenannten »Varieties of Capitalism«-Forschung (Peter Hall/David Soskice) wissen wir, dass sich historisch unterschiedliche Kapitalismus-Typen entwickelt haben. Bekannt ist auch die Unterscheidung zwischen »rheinischem« und anglo-amerikanischem Kapitalismus geworden (Michel Albert). Aus der ökonomisch ungleichen Entwicklung in der Europäischen Union sollten wir wissen, dass die Nationalstaaten und ihre wirtschaftspolitischen Modelle oder Pfade eine große Rolle bei der Entwicklung und weiteren Vertiefung ökonomischer und sozialer Ungleichheiten gespielt haben. Das gilt besonders für das von Deutschland verfolgte Exportmodell eines stabilitätsfixierten Handelsmerkantilismus, der traditionell auf ständige und hohe Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse gerichtet ist und diese Fixierung ab ungefähr 2000 weiter ausgebaut hat. Diese Unterschiede werden in dem Kapitalismusbild der Thesen völlig ausgeblendet. Auch die ökonomische und politische Hegemonie Deutschlands in der Europäischen Währungsunion, die sich in der Krise um die hohe Staatsverschuldung Griechenlands 2005 offen gezeigt hatte, wird nicht erwähnt. Es kommt hinzu, dass auch das Ausmaß der Finanzialisierung der Wertschöpfung in den verschiedenen Varianten des Kapitalismus und der Offenheitsgrad der nationalen Volkswirtschaften gegenüber der Weltwirtschaft unterschiedlich sind. Der Begriff Kapitalismus markiert hier eine theoretische Abstraktion, deren Unbestimmtheit es gerade nicht ermöglicht, die Ansatzpunkte für Veränderungen anzugeben.

Wegen dieser analytischen Unschärfe ist es nur konsequent, zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass der Kapitalismus national, europäisch und global, sozial und ökologisch gebändigt werden muss (These 6). Was hier fehlt, ist die Frage, welche Rolle im Rahmen dieser Bändigung die Wirtschaftspolitik, hier verstanden als die Kombination von Finanz-, Sozial- und Geldpolitik, zu spielen hat. Nur mit einer qualitativ anderen Wirtschaftspolitik wird die Überwindung der gegenwärtig noch herrschenden neoliberalen Austeritätspolitik, die in Deutschland sogenannten ordoliberalen Grundsätzen folgt, möglich sein. Dann kann die extreme Exportorientierung der deutschen Unternehmen und der sie unterstützenden Wirtschafts- und Finanzpolitik durch eine Politik, die an makroökonomischen Anforderungen ausgerichtet ist, ersetzt werden. Das bedeutet keinen absoluten Rückgang des Exports, sondern eine Stärkung der Binnenwirtschaft durch höhere Löhne und mehr öffentliche Investitionen. Makroökonomische Gesichtspunkte bedeuten hier, dass sich die Wirtschaftspolitik wieder an den Zielen von Vollbeschäftigung, Verringerung der hohen ökonomischen und sozialen Ungleichheiten und am Ziel eines Außenhandelsgleichgewichts orientiert. Wird das als Aufgabenstellung nicht gesehen, bleibt es bei politischen Leerformeln, wie der »Bändigung« des Kapitalismus. Es kann so nicht erkannt werden, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen getroffen werden müssen, um zu einer Bändigung eines Kapitalismus, den es nur in seinen nationalen Varianten und eben nicht »als solchen« gibt, zu kommen.

Die Ausblendung der makroökonomischen Dimension führt dazu, dass unter Digitalisierung eine »beschleunigte Revolutionierung von Wirtschaft, Lebenswelt und Politik« (These 8) verstanden wird. Die makroökonomischen Daten sprechen nicht für eine so umfassende Revolutionierung der Ökonomie, sondern eher von einem langfristigen Rückgang der Produktivitätsentwicklung in den »reifen« kapitalistischen Gesellschaften. Ökonomen wie Robert Solow sprechen von einem »Produktivitätsparadox«, weil sich die Digitalisierung der technischen Entwicklungen nicht in der Produktivitätsstatistik finden lässt. Eher sehen wir viele Anzeichen einer Verlangsamung oder sogar partiellen Stagnation des ökonomischen Wachstums in den reifen Wirtschaftsgesellschaften. Das Starren auf eine digitale Revolutionierung von Wirtschaft und Gesellschaft verstellt den Blick auf die Ursachen dieser Tendenz zur Stagnation. Insofern geraten wirtschaftspolitische Konzepte gegen die zunehmende Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung, die diesen Prozessen einer schwachen Entwicklung der Produktivität zugrunde liegen, aus dem Blickfeld. In der SPD wird in dieser Frage, wie in anderen ökonomischen Fragen auch, die gesamte Wirtschaft aus dem Winkel der Mikro- und nicht der Makroökonomie gesehen.

Das ist insofern bemerkenswert, weil wir spätestens seit den Untersuchungen von Thomas Piketty u. a. eine breite Debatte über die Ursachen von ökonomischer und sozialer Ungleichheit führen. Hier spielt auch eine Rolle, dass die SPD durch wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische (Fehl-)Entscheidungen an der Vergrößerung der sozialen und ökonomischen Ungleichheit zwischen 2000 und 2006 in Deutschland maßgeblich beteiligt war. Diese Entscheidungen haben den Druck auf die Löhne erhöht und bei der Verteilung der Primäreinkommen die Kapitaleinkommen zu Lasten der Arbeitseinkommen gestärkt. Das wiederum hat die Wettbewerbsposition der deutschen Unternehmen in einer makroökonomisch riskanten Weise ausgebaut, weil sich durch überproportional wachsende Leistungsbilanzüberschüsse in der Währungsunion enorme ökonomische Schieflagen aufgebaut haben, die eine hohe Gefahr für die ökonomische Stabilität des Euroraums bedeuten. Daher bleibt es völlig offen, ob und wie die deutsche Sozialdemokratie die europäischen Herausforderungen, die sie empathisch beschwört, wirtschaftspolitisch angehen will. Dass es zu diesen Problemen nahezu keine kritischen Fragen in der SPD gibt, hängt damit zusammen, dass die Partei in den vergangenen rund 30 Jahren ihre frühere makroökonomische Kompetenz weitgehend preisgegeben hat. Dazu einige Beispiele:

Das kann erstens daran abgelesen werden, dass die empirischen Daten über Arbeitskosten und Wettbewerbsfähigkeit seit 1995 zeigen, dass entgegen den weitverbreiteten Vorurteilen die internationale Wettbewerbsposition nie bedroht war. Sicherlich hat die Schocktherapie beim radikalen Umbau der früheren DDR-Wirtschaft die Arbeitslosigkeit deutlich erhöht und zu hohen sozialen Transfers geführt, aber das Exportmodell Deutschland war auch damals nicht bedroht.

In den Debatten über die Einführung des Euro ging es zweitens auch um die Frage, ob die Eurozone ein optimaler Währungsraum werden könne? Bereits bei der ordoliberalen, also strikt stabilitätsorientierten Regulierung der Eurozone spielte diese Frage keine Rolle mehr, obwohl damals bereits klar war, dass diese Währungsunion unter diesen Stabilitätskriterien kein optimaler Währungsraum werden kann. Erst heute, ausgelöst durch eine Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron wird wieder über die Frage gemeinsamer ökonomischer Institutionen diskutiert. Die SPD hat diese Fragen eines optimalen Währungsraums nie diskutiert und sie öffnet sich den Vorschlägen von Macron auch nicht aus einer makroökonomisch geprägten Überzeugung, sondern aus ihrer unzweifelhaften politischen Empathie für Europa.

Die SPD hat drittens einer Verfassungsänderung für eine Schuldenbremse und damit implizit ordoliberalen Glaubenssätzen zugestimmt. Aus makroökonomischer Sicht ist diese Schuldenbremse grober Unfug. Sie blockiert den Staat in seinen Möglichkeiten, die öffentliche Infrastruktur zu erhalten und auszubauen. Sie verringert die Möglichkeiten einer risikolosen Kapitalanlage für Privathaushalte und Pensionskassen. Sie verhindert in schweren Konjunkturkrisen eine antizyklische Fiskalpolitik, mit der ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit gebremst werden kann. Dass die SPD in der Regierung dem ordoliberal motivierten Vorschlag der Schuldenbremse gefolgt ist, kann nur dadurch erklärt werden, dass ihr die Finanzierung der Staatsverschuldung in letzter Instanz durch die Geldschöpfung der zuständigen Zentralbank nicht bekannt ist.

Und viertens war die SPD nicht in der Lage, die makroökonomisch richtige expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den deutschen Diskussionen zu begründen und damit zu verteidigen. Das liegt daran, dass die SPD – wie nahezu die gesamte politische Linke – geldpolitisch nicht auf der Höhe der Zeit ist. Die Prozesse der Geldschöpfung aus dem Nichts, von den Geschäftsbanken durch die Schöpfung von Giral- oder Buchgeld, von den Zentralbanken durch die Schöpfung von Zentralbankgeld werden, obwohl in der ökonomischen Theorie seit vielen Jahrzehnten bekannt und viel diskutiert, in der SPD ganz überwiegend nicht gekannt. Das führte zu der falschen Sicht, dass es in den Krisen der Eurozone nicht, wie es den Fakten entspricht, um die Vergabe von aus dem Nichts geschöpften Krediten, sondern um das Weiterreichen von Steuergeldern gegangen sei, ein vor allem in Deutschland sehr populäres ordoliberales Vorurteil. Solche Vorurteile, die auch in der SPD populär sind, haben eine europäische Politik gegen die Krise massiv erschwert und antieuropäische Ressentiments verstärkt.

Wir sind in der SPD nach wie vor in der Situation, dass die makroökonomischen Dimensionen von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik völlig ausgeblendet werden. Dadurch kommt es zu einer Unterschätzung der Rolle und der Handlungsmöglichkeiten von Nationalstaaten für die wirtschaftliche Entwicklung von kapitalistischen Gesellschaften. Sowohl die Fixierung auf einen als reale Größe nicht existierenden globalen Kapitalismus wie auf eine bevorstehende digitale Revolutionierung der Gesellschaften führen zu einer Überschätzung bzw. sogar Dämonisierung solcher Prozesse. Das verkürzt von vornherein die Handlungsmöglichkeiten einer makroökonomisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik entscheidend. Insofern wird zu wenig gesehen, welche Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaat bei der Gestaltung einer digitalen Wertschöpfung hat und es wird unterschätzt, welche Möglichkeiten nationale Politik bei der Regulierung der internationalen Märkte hat. Diese Handlungsmöglichkeiten vergrößern sich, wenn es gelingt, auf der europäischen Ebene die Wirtschafts- und Finanzpolitik stärker zu koordinieren. Das Neuerfinden der Bedeutung makroökonomischer Zusammenhänge im Rahmen der politischen Erneuerung der SPD kann eine Chance sein, die schwere Krise der Europäischen Union und der Währungsunion zumindest in den ökonomischen Aspekten effektiv zu verringern.

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