Das Godesberger Programm war die Antwort auf eine neue Weltlage nach dem Ende des Naziregimes und eine neue Werteordnung im Grundgesetz. Die politische Konstellation der Weimarer Republik war überwunden, die wirtschaftliche Ordnung neu aufgestellt und die Sozialdemokratie brauchte eine Standortbestimmung gegenüber der Bundesrepublik. Es war die Grundlage für die Rolle der Sozialdemokratie bei der Modernisierung Deutschlands, ein Versprechen hinsichtlich sozialer Mobilität und einer Befreiung im Denken. Wenn ein Grundsatzprogramm nicht belanglos werden will, muss es hohe Anforderungen erfüllen, muss die richtige Flughöhe finden in einer sich rasant wandelnden Welt.
Wo steht Deutschland heute? Das Wirtschaftsmodell des größten und ökonomisch stärksten Landes in Europa bröckelt an allen Fronten. Es verliert Exportmärkte in China und den USA und zugleich den Anschluss an die technologischen Entwicklungen und muss sein Wachstumsmodell neu erfinden. Die wirtschaftliche Schwäche Europas hat tiefgreifende Folgen für seine geopolitische Positionierung, einschließlich seiner Verteidigungsfähigkeit. Ein Krieg ist so wahrscheinlich wie nie zuvor in der Zeit nach 1945.
Deutschland ist in den vergangenen 20 Jahren zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer weltweit geworden und hat einen Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von fast 29 Prozent. Deutschland liegt im Zentrum Europas und hat die meisten Nachbarländer. Als ehemals geteiltes Land ist es das Scharnier zwischen West- und Osteuropa. Deutschland hat mit dem Holocaust und im Zweiten Weltkrieg unfassbares Leid über die Welt gebracht und bis heute eine Verantwortung für die Schuld des Naziregimes. Deutschland hatte in den letzten 80 Jahren eine stabile liberale Demokratie entwickelt, die heute aber durch politische Polarisierung zunehmend unter Druck gerät.
Worauf es nun ankommt
Wie lautet die sozialdemokratische Antwort auf diese Lage? Gibt es eine? Wo sind die Schwerpunkte und wichtige grundsätzliche Konzepte für die Gestaltung der Zukunft? Ich möchte nur ein paar umreißen. Sie lassen sich aus der langen Tradition der Sozialdemokratie als Partei des Friedens, der Menschenrechte und der sozialen Demokratie, aber auch aus ihrer Erfahrung als zweitwichtigste Regierungspartei heraus ableiten. Die Liste ist nicht vollständig, man könnte noch weitere Problemfelder thematisieren, etwa die Folgen des Klimawandels und den Verlust an Biodiversität oder die demografischen Herausforderungen.
»Die Europäische Union muss ein zentraler politischer Raum für die Sozialdemokratie sein.«
Eine zentrale Frage der neuen geopolitischen Verhältnisse ist die Legitimation des russischen Angriffskriegs auf der Grundlage einer Theorie internationaler Einflusssphären. Es gibt in der politischen Debatte – auch in der SPD – eine unterschwellige und zum Teil explizite Argumentation, dass Russland aus einem eigenen Sicherheitsinteresse ein Recht hätte die Ukraine zu kontrollieren. Sie orientiert sich an einer Sichtweise, nach der die Welt von Großmächten in Einflusssphären aufgeteilt wird und dies höher zu bewerten sei als das Selbstbestimmungsrecht unabhängiger Staaten. Hierzu muss ein Grundsatzprogramm Position beziehen, da es eine Weltsicht mit fundamentalen Folgen ist.
Eine zweite große Frage ist die Gestaltung der Europäischen Union in einer neuen geopolitischen Lage. Die EU ist ein souveräner Akteur im Werden mit vielen Dauerbaustellen. Eine geschwächte EU lässt die Mitgliedstaaten schutzlos zurück. Die internen Konflikte und die Herausforderungen sind immens und die politische Legitimation schwindet. Die Antwort kann nicht einfach sein, mehr Europa zu fordern und praktisch nicht daran zu glauben. Die Europäische Union muss ein zentraler politischer Raum für die Sozialdemokratie sein; welche Schritte zur Stabilisierung der EU will sie gehen und welchen Plan verfolgt sie hinsichtlich einer Weiterentwicklung?
Bedrohungen der Demokratie
Populistische und rechtsextreme Kräfte bedrohen drittens die liberale Demokratie real. Der Glaube, dass ein Parteiverbot die massive Unzufriedenheit von Wählerinnen und Wählern mit dem Angebot der Demokratie beheben könnte, ist naiv. Die Parteienlandschaft hat sich in den letzten vier Jahrzehnten massiv verändert, beginnend mit den Grünen als postmaterielle Partei, die nicht mehr die sozioökonomische Verteilung als Ausgangspunkt hat. Die Parteiensysteme in allen liberalen Demokratien sind ausgefranst. Die rechtspopulistischen/rechtsextremen Parteien stellen die liberale Demokratie mit all ihren Facetten als Ganzes infrage. Diese radikalen Grenzüberschreitungen sind aber keine Parallele zu 1933, sondern Teil einer fundamentalen Umwälzung der Repräsentation politischer Interessen in der Wissensökonomie.
Neue politische Interessen, etwa bei Fragen der Migration, der nationalen Identität, der Geschlechtergerechtigkeit werden ihren Ausdruck finden. Eine Kontrolle darüber kann es in einer Welt digitaler Medien nicht mehr geben. Wie geht man mit politischen Orientierungen um, die den Rechtsstaat, die Demokratie und die Werte in unserer Gesellschaft radikal infrage stellen? Welche Meinungsvielfalt wird geschützt; welche Rolle haben öffentliche Medien, Gerichte und legitime Formen des Protests? Darauf muss ein Grundsatzprogramm eine Antwort geben.
»Wer den Sozialstaat finanziert und wer von ihm profitiert, muss in Balance gebracht werden.«
Ein weiterer Punkt ist das Kernanliegen der Sozialdemokratie: die Solidarität. Hier geht es nicht um die Verteidigung des Sozialstaats, des Bürgergelds oder der Rente gegenüber den Kräften der Rechten, die den Sozialstaat »schleifen« wollen. Auch nicht um die hart arbeitende Mitte oder mehr Mitbestimmung. Es geht darum, neu zu durchdenken, dass Solidarität auf Reziprozität beruht. Es ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Je höher der soziale Schutz, desto größer die Anforderung an die Einzelnen sich in die Gemeinschaft einzubringen. Das führt zu Spannungen in einer Einwanderungsgesellschaft, in der neue und andere Kulturen auch zu einem neuen Verständnis von Gegenseitigkeit und Solidarität führen. Deswegen bricht sich das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Arbeiterschicht auch so stark am Thema der Migration. Wer den Sozialstaat finanziert und wer von ihm profitiert, muss in Balance gebracht werden. Diese Spannung zu erkennen und sozialdemokratisch durchzubuchstabieren, ist die Aufgabe eines neuen Grundsatzprogramms. Sonst braucht man es nicht.
Von fundamentaler Bedeutung für die Weiterentwicklung der Partei und damit auch für die Erstellung eines neuen Grundsatzprogramms ist zudem die Frage, ob es eine Sozialdemokratie geben kann, die ihre wichtigste Wählergruppe, die Arbeiterschicht, nicht mehr erreicht? In Rückkehr nach Reims hat Didier Eribon eindrucksvoll beschrieben, wie seine Familie aus der französischen Arbeiterschicht mit dem Niedergang des ländlichen Arbeitermilieus auch ihre politische Heimat verlor. Dieser Eindruck ist seit Längerem in der Wahlforschung gut dokumentiert. Die Sozialdemokratie ist nicht mehr die erste Wahl für Menschen aus der Arbeiterschicht. In der frühen Nachkriegszeit nahm die Wahrscheinlichkeit, eine linke Partei zu wählen, mit steigendem Bildungsniveau ab. Seit den 80er Jahren kehrt sich das um: Wählerinnen und Wähler mit höherem Bildungsgrad tendieren zunehmend zu linken Parteien.
Die Sozialdemokratie muss sich entscheiden, ob sie diese Entwicklung als gegeben hinnimmt, ihre Wählerinnen und Wähler in Zukunft unter den Hochschulabsolventen mit sozialer Orientierung sucht und damit die Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschicht den populistischen Parteien überlässt. Oder ob sie ihre Aufgabe darin sieht, ihre traditionelle Kernmarke der Arbeit in einem neuen Kontext weiterzuführen. Im Moment proklamiert sie letzteres und tut ersteres. Man wird sich für einen Weg entscheiden müssen, um im politischen Wettbewerb bestehen zu können.
»Während die Anhänger der liberalen Demokratie ein Parteiverbot der AfD befürworten, sehen Teile der Arbeiterschicht deren Positionen als direktere Repräsentation ihrer Interessen.«
Hier zeigt sich das größte Dilemma eines neuen Grundsatzprogramms: Die Wähler und Wählerinnen aus der Arbeiterschicht könnten die geopolitischen und innenpolitischen Positionierungen der Sozialdemokratie radikal anders bewerten als ihre liberalen Genossen aus der gebildeten Mittelschicht. Während die einen das Selbstbestimmungsrecht von Nationen und eine stärkere Europäische Union für unverzichtbar halten, sind die anderen einem stärker nationalistischen und realpolitischen Weltbild verhaftet. Und während die Anhänger der liberalen Demokratie ein Parteiverbot der AfD befürworten, sehen Teile der Arbeiterschicht deren Positionen als direktere Repräsentation ihrer Interessen. Auch in der Frage der Solidarität sehen Arbeiterinnen und Arbeiter häufiger die Ungerechtigkeiten eines universalistischen Sozialstaats, der alle unterstützt, unabhängig von ihren individuellen Beiträgen.
Aus diesem Spannungsverhältnis eine stimmige Programmatik zu entwickeln, ist die eigentliche Herausforderung. Vielleicht gibt es keinen gemeinsamen Rahmen, der die geopolitische Positionierung, die Rolle Europas, die Neudefinition der Solidarität sowie den Schutz der liberalen Demokratie zusammendenken kann und zugleich ein attraktives Angebot für die traditionellen Wählerinnen und Wähler der Sozialdemokratie ist. Dann steht die Sozialdemokratie an einer Wegscheide. Über kurz oder lang wird es nicht mehr funktionieren, im Namen der Arbeiterklasse eine Politik für die gebildete Mittelschicht zu machen. Auch diese Frage muss diskutiert werden.


Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!