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Wo steht die Sozialdemokratie in Mittel- und Osteuropa?

Die europäischen Perspektiven der Sozialdemokraten hierzulande sind auch verbunden mit den Perspektiven der linksdemokratischen Parteien im östlichen Teil der Europäischen Union. Für deren Integration hat sich die SPD engagiert, auch weil sie durch die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vom Zusammenbruch des Kommunismus nach wie vor direkt betroffen ist – anders als die anderen »westlichen« Mitgliedsparteien der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE). In den frühen 90er Jahren vertrat man die Auffassung, die Parteiensysteme in Osteuropa würden sich analog zu denen der westeuropäischen Staaten entwickeln. Das konnte jedoch auch deshalb so nicht geschehen, weil die gleichzeitige demokratische und marktwirtschaftliche Transformation ein historisches Ereignis ohne Vorbild war, mit unvorhersehbarem Ausgang – Claus Offe hatte bereits 1994 darauf hingewiesen. Heute verklären Enttäuschungen und vorschnelle Urteile den »westeuropäischen« Blick.

Dass nach den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) 2014 nicht Martin Schulz, sondern der Kandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) Jean-Claude Juncker EU-Kommissionspräsident wurde, liegt auch an den schwächeren Wahlergebnissen der »östlichen« Sozialdemokratie. Sie erhielt im Durchschnitt 6 % weniger Mandate als die SPE insgesamt, die zwar knapp die meisten Stimmen erhielt, nach Sitzen aber hinter der EVP lag (191 von 751 für die SPE bzw. die S&D, also die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokratie im EP; 221 für die EVP).

Von den 199 Mandaten für die elf osteuropäischen Staaten entfielen auf die SPE 45. Über dem Durchschnitt lag die Sozialdemokratie in Rumänien – mit 16 Mandaten von 32 möglichen –, in der Slowakei und in Kroatien. Unter dem Durchschnitt lag sie in Polen, mit nur fünf Mandaten von 51 möglichen, in Bulgarien, der Tschechischen Republik, in Ungarn, Litauen, Estland, Lettland und Slowenien.

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein besaß keiner dieser Staaten völkerrechtliche Souveränität. Ihre Ausbildung zu Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg hat bis heute zu inner- wie zwischenstaatlichen Konflikten geführt. Estland, Lettland und Litauen gehörten zu Russland, 1941 wurden sie zu Sowjetrepubliken, hier spielt entsprechend die Distanzierung von Russland eine besondere Rolle. Katholische Länder wie Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Slowenien und Kroatien gehörten zu Habsburg, Polen war zwischen Russland, Preußen und Habsburg geteilt. Rumänien und Bulgarien gehörten zum Osmanischen Reich und sind christlich-orthodoxe Länder. In Rumänien wird aber eine lateinische Sprache gesprochen und man ist gegenüber Russland – wie auch in kommunistischer Zeit gegenüber der Sowjetunion – distanziert. Bulgarien ist demgegenüber mit Russland eng verbunden, die slawische Sprache ist die grundlegende Gemeinsamkeit; gleichzeitig existiert dort mit einem 10 %-Anteil eine türkische Bevölkerungsminderheit. Slowenien und Kroatien waren daneben in den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens einbezogen.

Generell bestand für die europäische Sozialdemokratie die Herausforderung, »sozialdemokratisierte« kommunistische Parteien mit Resten der Sozialdemokratie aus vorkommunistischer Zeit zusammenzuführen. In den meisten Staaten gelang dies, bis auf Lettland haben überall sozialdemokratische Parteien allein oder in Koalitionen regiert. In letzter Zeit bekamen sie allerdings in den meisten Staaten Probleme, was überwiegend mit nationalistischen Einstellungen und dem Widerstand gegen die Zuwanderung von Muslimen verbunden ist. Zudem hat die Beweglichkeit der Parteiensysteme zugenommen. Hinzu kommt der Einfluss auf die Parteienentwicklung durch einzelne Unternehmer, die zum Teil auch Medien besitzen. Das ist in den baltischen Staaten schon länger der Fall und seit einiger Zeit auch in der Tschechischen Republik.

Die Probleme der sozialdemokratischen Parteien in Europa müssen mit denen der EVP-Parteien verglichen werden. Diese gründeten nach 1989 auf antikommunistischen Bewegungen und haben ausnahmslos in allen osteuropäischen Staaten regiert, sind jedoch in einigen inzwischen bedeutungslos geworden. Insgesamt sind die SPE-Parteien stabiler, die Parteien der EVP hingegen in vielen Staaten destabilisiert.

Die unterschiedlichen Perspektiven der SPE-Parteien lassen sich mit Bezug auf die letzten nationalen Parlamentswahlen und im Verhältnis zu konkurrierenden Parteien und möglichen Bündnispartnern aufzeigen. Die größten Sorgen bereitet in dieser Hinsicht Polen. Bei den Wahlen zum Sejm 2015 verfehlte ein Zusammenschluss linksdemokratischer Parteien, angeführt vom Bündnis der Demokratischen Linken (SLD), um knappe 0,5 % die Acht-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament. Die Klausel verfehlte mit 3,6 % auch die linksdemokratisch orientierte Partia Razem. Insgesamt blieben über 18 % der Stimmen bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt, was zur absoluten Mehrheit der nationalpopulistischen PiS mit nur 37,6 % führte. Die liberalkonservative EVP-Partei PO verlor 15,1 % und erreichte 24,1 %.

Nach den Wahlen kam es zum Streit zwischen den linksdemokratischen Parteien. Die SLD wählte Włodzimierz Czarzasty gegen den 35-jährigen Generalsekretär Krzysztof Gawkowski zum Vorsitzenden. Dies war auch eine Auseinandersetzung zwischen den Generationen. Derlei Konflikte gibt es zwar auch in anderen Ländern, aber in Polen sind sie besonders aufgeladen durch die jeweilige Haltung zur kommunistischen Vergangenheit, zum Verhalten aktiv gebliebener, ehemals kommunistischer Funktionäre. Die SLD ist derzeit zu keiner breiteren Zusammenarbeit bereit und die kleinen Parteien wären bei einer getrennten Kandidatur chancenlos. Die Spitzenkandidatin des Wahlbündnisses von 2015 Barbara Nowacka gründete inzwischen Inicjatywa Polska, eine Vereinigung linker Aktivisten, und Razem steht in Gegnerschaft zu allen anderen. Zudem entstand die außerparlamentarische Bewegung »Committee for the Defence of Democracy« (KOD). Bei den Regional- und Kommunalwahlen im November 2018 werden die linksdemokratischen Gruppierungen ihre Chancen ausloten und erst dann die nationalen und die Wahlen zum Europäischen Parlament in den Blick nehmen.

Am erfolgreichsten ist die Sozialdemokratie in Rumänien. 2016 erreichte die PSD mit 44,1 % einen Zugewinn von 8 % und ihr Koalitionspartner, die liberale ALDE, 6 %. Zusammen kommen sie auf 174 von 329 Sitzen. Die EVP-Parteien PNL und PMP, die Partei des vorherigen Staatspräsidenten Traian Băsescu, erreichten 19,5 % bzw. 5,7 %, dazu war die UDMR, die Partei der ungarischen Minderheit, wie immer seit 1990 erfolgreich. Erstmals kam die populistische Uniunea Salvati Romania (USR) mit 8,6 % ins Parlament. Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 hatte der Kandidat der PSD, Ministerpräsident Victor Ponta, gegen Klaus Johannis verloren und war als Vorsitzender der PSD zurückgetreten, inzwischen hat er die PSD verlassen. Der neue Vorsitzende Liviu Dragnea ist rechtskräftig wegen Wahlbetrugs verurteilt. Staatspräsident Johannis weigerte sich, ihn zum Ministerpräsidenten zu nominieren. So wurde 2017 zunächst Sorin Grindeanu für ein halbes Jahr Ministerpräsident, danach Mihai Tudose. In weitreichende Kritik geriet die PSD-Regierung wegen eines Amnestiegesetzes, das Korruption legitimieren könnte. Große Demonstrationen dagegen hatten unterschiedliche, nicht immer nur demokratisch-parlamentarische Motive, sondern wurden auch von Unternehmen und von anderen Staaten unterstützt. Die Regierung hat den Gesetzentwurf zurückgezogen und eine Abstimmung mit der EU für den weiteren Gesetzgebungsverlauf vereinbart.

In den neun anderen Staaten ist die Sozialdemokratie überwiegend auf dem Rückzug, bei einem zum Teil völligen Niedergang der EVP-Parteien, einem Aufstieg populistischer Parteien und großer Schwankungen bei den Wahlen.

Wie fragwürdig eine Gegenüberstellung von Postkommunisten bzw. Russlandorientierten und Europäern ist, zeigt sich in Bulgarien. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 gewann der Kandidat der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), Rumen Radev, gegen die Kandidatin der Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens (GERB), Zezka Zatschewa. Radew war niemals Mitglied der Kommunistischen Partei, Zatschewa hingegen schon. Auch die Tatsache, dass Radew militärisch in den USA ausgebildet wurde, war kein Hindernis dafür, ihn als russophil einzuordnen.

2017 erreichte die BSP mit 27,2 % eine Steigerung um 11,8 %, mit Kornelia Ninova als neuer Vorsitzenden, nachdem sich die Partei vom früheren Staatspräsidenten Georgi Parwanov getrennt hatte. GERB, EVP-Mitglied, blieb mit 32,7 % die stärkste Partei. Die Vier-Prozent-Hürde verfehlte der rechtsdemokratische Reformblock nach einem Verlust von 5,8 %. In das Parlament gelangten die radikalnationalistischen Vereinigten Patrioten (9 %), dazu mit 9 % wie immer die Partei der türkischen Minderheit Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS). Der »europäische« Vorsitzende von GERB Bojko Borissow bemühte sich um eine »große« Koalition mit der BSP. Nach deren Ablehnung ging er ein Bündnis mit den rechtsnationalistischen Vereinigten Patrioten ein.

Kroatien hat ein relativ stabiles Zwei-Parteien-System, in dem die Sozialdemokratische Partei Kroatiens (SDP) länger regierte, oft in einer »nationalen Koalition« mit der liberalen Kroatischen Volkspartei (HNS). 2016 erzielte sie allerdings nur 32,2 %, ihr Vorsitzender Zoran Milanović war der Versuchung eines nationalistisch geprägten Wahlkampfes erlegen. Die rechtsdemokratische Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), EVP-Mitglied, gewann. Ins Parlament gelangte ferner die populistische MOST mit 9,5 %. HDZ und MOST bildeten eine Koalition, die aber bereits im April 2017 zerbrach. Auch das Bündnis von SDP und HNS, die nach innerparteilichen Auseinandersetzungen in die Regierung mit HDZ eintrat, zerbrach.

Besonders das Parteiensystem in Slowenien befindet sich in Bewegung. Nur zwei Parteien sind seit 1990 im Parlament vertreten: die Sozialdemokraten (SD) und die Slowenische Demokratische Partei (SDS), die Partei von Janez Janšas, die Anfang der 90er Jahre aus der Sozialistischen Internationale ausgeschlossen wurde. 2014 erreichte die SD nur noch 6 %. Wahlsieger wurde die neu formierte Anti-Establishment-Partei von Miro Cerar mit 34,5 %. Die SD beteiligte sich an einer Koalition mit Cerar. Bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst 2017 wurde Borut Pahor, früherer Vorsitzender der SD, gegen Marjan Sarec wiedergewählt. Letzterer ist dabei, eine neue Anti-Establishment-Partei zu gründen, denn die von Cerar verliert, wie schon zuvor eine ähnlich ausgerichtete Partei, drastisch an Zustimmung.

In Ungarn stellt die Sozialdemokratie die einzige relevante europaorientierte Opposition, EVP-Parteien sind verschwunden. 2014 kam Viktor Orbáns Fidesz-KDPN trotz Verlusten von 7,7 % auf 44,9 %, die nationalistische Jobbik auf 20,2 %. Die gespaltene Sozialdemokratie benötigte aufgrund eines Wahlrechts mit hohem Anteil an Direktmandaten ein Wahlbündnis, mit dem sie bei Zugewinnen in Höhe von 6,3 % auf 25,6 % kam. Das Problem ist die schwierige Zusammenarbeit zwischen der MSZP und der Demokratischen Koalition (DK), der Partei des früheren MSZP-Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, beide gehören S&D an. Die notwendige Wiederholung des Wahlbündnisses für die Wahlen 2018 ist noch nicht vereinbart.

Die Problematik der Bewertung osteuropäischer Sozialdemokraten durch westeuropäische wird beim Vergleich zwischen der Slowakei und der Tschechischen Republik deutlich. In der Slowakei verlor die SMER-SD 2016 16,1 % und erreichte noch 28,3 %. Nicht mehr vertreten sind die Rechts-Mitte-Parteien, die vor 2012 mehr oder weniger neoliberal regierten, Mikuláš Dzurindas SDKÚ-DS stürzte auf weniger als 0,3 % ab. Fünf erfolgreiche Parteien sind unterschiedlich radikal oder wirtschaftsliberal rechts und antieuropäisch, so die neoliberale Freiheit und Solidarität (SaS), die konservative Protestpartei OĽaNO, die nationalistische Slowakische Nationalpartei (SNS), die postfaschistische ĽSNS und die konservative Protestpartei SR.

SMER bildete eine Regierung mit der Brücke – Partei der Zusammenarbeit – Most–Híd, gewählt von der ungarischen Minderheit, der SNS, von SMER für die am wenigsten radikale der nationalistischen Parteien gehalten, und der wirtschaftsliberal-konservativen #Siet. Erstmals ging damit eine Partei der ungarischen Minderheit eine Koalition mit einer nationalistischen Partei ein, eine aktive EU-Politik wird fortgesetzt, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Verteilung der Flüchtlinge wurde – anders als in Ungarn – akzeptiert.

Hingegen gilt die Tschechische Sozialdemokratische Partei (ČSSD) als besonders europäisiert. In der Tschechischen Republik kam es nach 1989 nicht zu einer Vereinigung der Sozialdemokratie mit der Kommunistischen Partei. 2017 hatte das schwerwiegende Folgen. Die ČSSD erreichte nur noch 7,3 %, die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM) 7,8 %, die christdemokratische EVP-Partei KDU-CSSL 5,8 %. Gewinner ist die populistische Aktion unzufriedener Bürger (ANO) des Milliardärs und Medienbesitzers Andrej Babiš mit 29,5 %; ANO ist Mitglied von ALDE. Erstmals ist eine rechtsextreme Partei im Parlament. Babiš will zwar eine Minderheitsregierung bilden, welche parlamentarischen Konstellationen aber entstehen, ist zurzeit nicht absehbar. Mit einer aktiven EU-Politik kann jedenfalls nicht gerechnet werden.

Aus westeuropäischer Perspektive werden den baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland Gemeinsamkeiten unterstellt, die allerdings nur in geringem Maße bestehen. Ein Unterschied besteht darin, dass Litauen nur eine kleinere, Lettland und Estland hingegen eine große russischsprachige Minderheit hat. So ist die Minderheitenfrage das größte politische Problem, das auch die Parteienstruktur beeinflusst. In Lettland wird die zur SPE-Familie gehörende stärkste Partei Saskana überwiegend von den Russischsprachigen unterstützt. In Estland hat die Sozialdemokratische Partei Estlands (SDE) lange in Gegnerschaft zu der von Russischsprachigen unterstützten K (Estnische Zentrumspartei) agiert. 2015 ging sie dann aber eine Koalition unter Führung der K ein und überwand so ihr grundsätzliches Misstrauen. Die Mitgliedschaft der K bei ALDE ist etwas eigenartig. Es sollte geprüft werden, ob nicht nach den Europawahlen 2019 eine Mitgliedschaft in S&D möglich sein könnte.

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