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© picture alliance / Shotshop | Rico Ködder

Ausblick nach den nationalen Wahlen Wo steht Europa?

2023 war ein intensives Wahljahr für Europa: In neun der 27 EU-Mitgliedstaaten (Bulgarien, Estland, Finnland, Griechenland, Spanien, Slowakei, Luxemburg, Polen und den Niederlanden) wurde das nationale Parlament neu gewählt, in drei weiteren (Tschechien, Zypern, Lettland) der/die Staatspräsident:in. Wer die Wahlergebnisse mitverfolgte, konnte eine wilde Achterbahnfahrt erleben. In mehreren Ländern gewannen rechte und populistische Parteien hinzu, in Finnland und der Slowakei wurden sie neu an der Regierung beteiligt. In Spanien hingegen konnte sich im Juli die Mitte-links-Regierung wider Erwarten im Amt halten, und im Oktober gelang in Polen der demokratischen Opposition ein schon fast nicht mehr für möglich gehaltener Wahlsieg über die autoritäre Rechtsregierung – ehe im November der Sieg von Geert Wilders’ PVV in den Niederlanden das Pendel noch einmal weit nach rechts ausschlagen ließ.

Natürlich spielten bei all diese Wahlen nationale Themen eine wichtige Rolle. Bestimmte Motive aber tauchten immer wieder auf und zeigen, wie stark auch die nationalen Debatten inzwischen von gemeinsamen europäischen Fragen geprägt sind. Ereignisse wie der Krieg in der Ukraine, die gestiegenen Lebenshaltungskosten, der Preis der Klimapolitik oder die zunehmende Migration sorgen fast überall für Konfliktstoff in einer durch die Coronapandemie ohnehin schon verunsicherten Bevölkerung.

Ein halbes Jahr vor der Europawahl 2024 lohnt es sich deshalb, den Blick von den Mitgliedstaaten weg hin zur EU als Ganzes zu richten – nämlich auf die großen europäischen Parteifamilien, aus denen sich die Fraktionen im Europaparlament rekrutieren. Wie erlebten sie das letzte Jahr, wie viel gewannen oder verloren sie unter dem Strich? Und wie sind ihre Aussichten, wenn im Juni das nächste Europäische Parlament gewählt wird?

Für die größte europäische Parteifamilie, die Europäische Volkspartei, brachte 2023 wenigstens vordergründig Zugewinne. Stellte die Partei von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres noch acht der 27 nationalen Regierungschef:innen, so dürften es bald elf sein. In Finnland, Luxemburg, Bulgarien und Polen kehrte sie an die Regierung zurück (oder wird dies in Kürze tun), nur in der Slowakei büßte sie den Premierministerposten ein. Mit Polen wird die EVP erstmals seit 2021 auch wieder die Regierung in einem der fünf größten EU-Länder anführen. Prognosen für die Europawahl, die auf Umfragen aus allen EU-Mitgliedstaaten basieren, sehen die EVP mit rund 25 Prozent der Sitze als stärkste Kraft.

Trübe Aussichten für die EVP

 

Aufstrebende rechte Konkurrenzparteien.

Betrachtet man diese Projektionen genauer, so trübt sich das Bild allerdings. Tatsächlich befindet sich die EVP europaweit bereits seit Jahren im Sinkflug. Mit den aktuellen Umfragewerten würde sie nur knapp ihren Sitzanteil nach der letzten Europawahl 2019 halten – obwohl sie damals eines ihrer schlechtesten Ergebnisse eingefahren hatte.

Besonders unter Druck steht die EVP in vielen Ländern durch aufstrebende rechte Konkurrenzparteien. Eine einheitliche Antwort, wie sie mit dieser Herausforderung umgehen soll, fehlt ihr bis heute. In Polen trat der EVP-Kandidat Donald Tusk erfolgreich als erbitterter Gegner der rechtskonservativen Regierung auf. In Italien, Tschechien und Finnland bildete die EVP hingegen Koalitionen mit Rechtsparteien, und auch in Spanien strebte sie bei der Parlamentswahl im Juli ein entsprechendes Bündnis an.

Zum europäischen Politikum wurde diese Bündnisfrage Anfang 2023, als sich der EVP-Fraktionschef im Europäischen Parlament, Manfred Weber, recht offen für eine strategische Öffnung nach rechts aussprach. Letztlich setzte sich diese Linie in der EVP jedoch nicht durch, und im Herbst betonte die Partei wieder die traditionelle Zusammenarbeit mit den »proeuropäischen Kräften«, also Sozialdemokrat:innen, Liberalen und Grünen. Dennoch: Wenn von der Leyen sich 2024 als EVP-Spitzenkandidatin für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin bewerben will (wie weithin erwartet wird, von ihr aber noch nicht bestätigt wurde), dürfte der Umgang mit rechts eine ihrer größten Herausforderungen sein.

Noch schlechter lief das Wahljahr 2023 für die Sozialdemokratische Partei Europas. Sowohl in Finnland als auch in Spanien büßten die Sozialdemokrat:innen trotz Stimmgewinnen den Platz als stärkste Partei ein. In Finnland gingen sie daraufhin in die Opposition; in Spanien war Pedro Sánchez’ Linkskoalition auf die prekäre Unterstützung katalanischer Separatistenparteien angewiesen, um ihre Mehrheit zu halten. In Luxemburg schieden die Sozialdemokrat:innen nach fast 20 Jahren aus der Regierung aus. In der Slowakei wiederum gewann die SPE-Mitgliedspartei Smer um Robert Fico die nationale Parlamentswahl – allerdings mit einer so populistischen, russlandfreundlichen und LGBT-feindlichen Kampagne, dass die SPE sich darin nicht mehr wiedererkannte und Smer unmittelbar nach der Wahl suspendierte.

Dramatische Verluste hatte die SPE zwar nirgendwo zu verzeichnen – europaweit zeigte sie in Umfragen 2023 sogar einen leichten Aufwärtstrend –, der Ausschluss der Smer wird sie allerdings wichtige Sitze kosten: Mit rund 20 Prozent hat die SPE nur noch Außenseiterchancen, erstmals seit 1994 wieder die stärks­te Fraktion im Europaparlament stellen und Anspruch auf die Kommissionspräsidentschaft erheben zu können. Auch wer 2024 als SPE-Spitzenkandidat:in antreten wird, ist unklar: Europaweit bekannte Sozialdemokrat:innen wie der Spanier Pedro Sánchez, der Niederländer Frans Timmermans oder die Finnin Sanna Marin konzentrierten sich zuletzt auf die nationale Ebene oder zogen sich ganz aus der aktiven Politik zurück. Als mögliche Bewerber:innen gelten jetzt etwa Katarina Barley aus Deutschland oder der luxemburgische EU-Kommissar Nicolas Schmit.

Kein gutes Jahr war 2023 auch für die europäischen Liberalen. In den Niederlanden verloren sie mit Mark Rutte einen der europaweit erfahrensten nationalen Regierungschefs; in Luxemburg büßten sie den Premierministerposten ein und müssen sich nun mit einer Rolle als Juniorpartner begnügen; in Finnland schieden sie aus der Regierung aus; in Spanien traten sie angesichts desaströser Umfragewerte gar nicht erst zur Wahl an. Auch in der europaweiten Sitzprojektion fielen die Liberalen auf etwa 13 Prozent zurück und würden damit etwas schwächer abschneiden als 2019.

»Ein Momentum wie 2019, als die Fridays-for-Future-Bewegung eine ›grüne Welle‹ auslöste, ist nicht in Sicht.«

Die europäischen Grünen traten 2023 auf der Stelle. In Finnland und Luxemburg mussten sie in die Opposition, in Lettland schlossen sie sich als neuer Juniorpartner einer EVP-geführten Regierung an. In der europaweiten Hochrechnung der Sitze verharrten sie bei etwa 6,5 Prozent – deutlich unter den gut zehn Prozent von 2019. Traditionell gelingt es der Partei zwar oft, bei Europawahlen durch Wählermobilisierung ihre Umfragewerte zu übertreffen. Doch ein Momentum wie 2019, als die Fridays-for-Future-Bewegung eine grenzüberschreitende »grüne Welle« auslöste, ist derzeit nicht in Sicht.

Nur wenig besser steht die europäische Linkeda, die 2023 in Finnland in die Opposition ging, in Griechenland die Rückkehr an die Regierung verpasste und die sich in Deutschland wie in Spanien spaltete. In der Projektion fiel die Linke zurück auf ebenfalls rund 6,5 Prozent, geringfügig über ihrem Ergebnis bei der Europawahl 2019.

Ablehnung von Migration, Klima- und Genderpolitik

Die wichtigsten Gewinner des Jahres waren hingegen die Rechtsparteien, die in einem verunsicherten Europa mit einfachen Schuldzuweisungen und dem Versprechen einer vermeintlichen Rückkehr zur »Normalität« durch die Abschottung von den Problemen der Welt punkten konnten. Auf europäischer Ebene ist die extreme Rechte in zwei konkurrierende Gruppierungen aufgeteilt: einerseits die Europäischen Konservativen und Reformer(EKR) um Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, die polnische PiS und die spanische VOX, andererseits die FraktionIdentität und Demokratie (ID)um Marine Le Pens Rassemblement National, die deutsche AfD und die niederländische PVV.

Programmatisch sind sich beide in vieler Hinsicht ähnlich und etwa in der Ablehnung von Migration, Klima- und Genderpolitik geeint. Allerdings betonen die EKR regelmäßig ihre Verankerung im Westen, während die ID teils offen mit Wladimir Putins Russland sympathisiert. Und während die EKR in mehreren Ländern mit der EVP Koalitionen bildet, befinden sich die ID-Mitglieder fast durchweg in der Opposition. 2023 wurde dieses Muster unter anderem durch die »Basisfinnen«-Partei bestätigt, die nach ihrem Erfolg bei der nationalen Parlamentswahl nicht nur der finnischen Regierung beitrat, sondern auch von der ID- in die EKR-Fraktion wechselte.

Ansonsten mussten die EKR im vergangenen Jahr in Polen einen harten Rückschlag hinnehmen: Nach dem Ende der Regierung unter Mateusz Morawiecki stellen sie nun nur noch in Italien und Tschechien nationale Regierungschef:innen. In der europaweiten Sitzprojektion konnten die EKR allerdings auf rund 12 Prozent zulegen, deutlich über ihrem Ergebnis von 2019. Und indirekt könnte die Niederlage in Polen den EKR sogar nützen – jedenfalls jenen in der Partei, die wie Giorgia Meloni auf eine Annäherung an die EVP hinarbeiten, um auf diesem Weg ihren Einfluss in der EU-Politik zu vergrößern.

Die ID wiederum triumphierte bei der niederländischen Parlamentswahl im November und konnte auch in anderen Mitgliedstaaten, vor allem Deutschland und Frankreich, in Umfragen stark dazugewinnen. Im Europaparlament wird sie wohl auch künftig ein Außenseiter bleiben, könnte ihren Sitzanteil aber um rund ein Drittel auf gut zwölf Prozent steigern.

Insgesamt rückt Europa deutlich nach rechts.

In der Summe zeichnet sich damit vor der Europawahl 2024 eine historische Rechtsverschiebung ab. Bestätigen sich die Umfragen, wäre das Mitte-links-Lager so schwach, der rechte Block so stark wie noch nie zuvor. Sicher: Die »proeuropäische Große Koalition« aus EVP, SPE, Liberalen und Grünen wird ihre Mehrheit behalten und auch weiterhin den Ton im Europaparlament angeben. Insgesamt aber rückt Europa durch die Zugewinne von EKR und ID deutlich nach rechts. Kurzfristig dürfte das vor allem die EVP stärken, ohne die im Parlament kaum noch Mehrheiten möglich wären. Zudem gewinnt die EVP im Europäischen Rat an Gewicht – und wohl auch in der nächsten Kommission, deren Mitglieder ja von den nationalen Regierungen nominiert werden.

Mittelfristig aber könnten EKR und ID ihren Einfluss schon bald noch weiter ausbauen. 2024 wird nicht nur das Europaparlament gewählt, sondern unter anderem auch die nationalen Parlamente von Belgien und Österreich, wo in den Umfragen jeweils Rechtsaußenparteien vorne liegen. Je häufiger in Mitgliedstaaten die Rechten regieren, desto größer wird ihr Gewicht im Rat der EU, wo man traditionell nach breitem Konsens sucht und keine »Brandmauer gegen rechts« kennt.

Wollen die progressiven Kräfte diese Entwicklung drehen, müssen sie die Rechten nicht nur in den Parlamenten ausgrenzen, sondern auch in der Öffentlichkeit die Diskurshoheit zurückerobern. Fragen der Geo-, Klima- oder Migrationspolitik werden in Zukunft nur noch weiter an Bedeutung gewinnen und nicht durch Abschottung lösbar sein. Um Wähler:innen zurückzuholen, benötigen die Parteien deshalb vor allem überzeugende eigene Antworten auf die Herausforderungen der Zeit, die allen EU-Staaten gemeinsam sind.

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