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© picture alliance / Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa | Sebastian Willnow

Neue Literatur über die SPD in Zeiten der Ampelkoalition Woher, wohin?

Im Mittelpunkt tagespolitischer Aufmerksamkeit steht, wie überzeugend das Kabinett Scholz das Land lenkt, nach der vor anderthalb Jahren wohl schwierigsten Regierungsbildung der Nachkriegszeit: nach einer seltsamen Wahl in ungewöhnlicher Situation, nach einem überraschenden Wahlausgang, nach einer neuartigen lagerübergreifenden Koalitionsbildung, nach einem mit Corona und russischer Aggression äußerst diffizilen Startjahr.

Für die Zukunft der je nach Rechnung 160 oder 133 Jahre alten Partei wird der Erfolg der Dreierkoalition im Allgemeinen und die sozialdemokratische Handschrift der Regierungspraxis im Besonderen wesentlich sein: Ob es glaubwürdig gelingt, ihre Fortschrittsprogrammatik der sozialökologischen Transformation auch unter den dramatischen Bedingungen einer Polykrise durchzusetzen, in deren Mittelpunkt die Frage weiterer Eskalation oder Beendigung des Ukrainekrieges steht.

Erste Schritte wurden bereits 2021 getan, zu dem Schluss kam eine Studie über die Ampelkoalition von Pola Lehmann, Theres Matthieß, Sven Regel und Bernhard Weßels, die zeigt, dass die Wahlkampfversprechen der Parteien »recht gut« in den Koalitionsvertrag eingingen. Was gängige Vorurteile empirisch widerlegt, Parteiprogrammatik habe nur geringe Bedeutung und die Parteien würden sich nicht wirklich bemühen, ihre Ziele in praktisches Handeln umzusetzen. Hingegen sei auch in Zukunft zu erwarten, dass – wie zu rund 80 Prozent in den vorherigen Legislaturperioden – die Versprechen des Koalitionsvertrages erneut weitgehend realisiert würden.

Ganz in diesem Sinne dürften trotz aller Kompromisse Gestaltungserfolge der sozialdemokratisch geführten Regierung (wie die Anhebung des Mindestlohns oder die Bewältigung der Energiekrise) eine entscheidende Basis für den Wiederaufstieg der SPD sein. Doch nach den Befunden von Richard Stöss und Dietmar Süß ist dies so einfach nicht. Beide analysieren tieferliegende strukturelle Probleme der SPD unter einem weiten zeithistorischen Blickwinkel und halten um der Zukunftsfähigkeit der SPD willen deren weitere Neuausrichtung für notwendig.

Bevor die SPD in einem unverhofften Comeback im neuen fluiden Fünfparteiensystem immerhin 25,7 Prozent erzielte, womit Olaf Scholz vierter sozialdemokratischer Bundeskanzler werden konnte, hatte sie einen beispiellosen Niedergang hinter sich. Ihr Zweitstimmenanteil halbierte sich von 40,9 Prozent (1998) auf 20,5 Prozent (2017) und sank gar bis Ende Juli 2021 in der »Sonntagsfrage« auf rund 15 Prozent. Das entsprach einem Minus von weit über 10 Millionen Wählerinnen und Wählern, einhergehend mit einem Schwund von 539.000 Mitgliedern, einem Verlust von 57 Prozent zwischen 1990 und 2020. Wie konnte es dazu kommen, dass die älteste deutsche Partei, die ihre Wandlungsfähigkeit so oft bewiesen hat, noch zwei Monate vor der Bundestagswahl 2021 von den meisten Medien totgesagt wurde? Externe und interne Krisenfaktoren werden seziert, wobei Süß etwas stärker erstere und Stöss eher letztere betont.

Für Süß spiegelt sich in den Problemen der SPD der historische Wandel moderner europäischer Gesellschaften. Eine solche Krise könne durch den Wahlsieg nicht verschwinden, höchstens übertüncht sein. Es gehe um »die Veränderung des Parteiensystems, die schwindende Integrationskraft der großen Volksparteien, die gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung und Partizipation, die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Bewegungen«, hinzu komme »der wirtschaftliche Strukturwandel mit seinen sozialen Kosten sowie das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie«. Diese Krise der Sozialdemokratie ist bei allen nationalen Besonderheiten natürlich fast überall in Europa, besonders in Frankreich, den Niederlanden oder in Italien spürbar.

Auf diese epochalen Herausforderungen der Spätmoderne hätte auch die SPD mit der Selbstvergewisserung ihrer Werte und mit programmatischen Neuerungen reagieren müssen, was ihr wie beim Aufgreifen des Begriffs »Respekts« dann auch immerhin partiell gelang. Die Sozialdemokratie sei in einem mittlerweile grundsätzlich veränderten Land immer noch auf der Suche nach einer angemessenen Sprache, die die veränderte Wirklichkeit überzeugend beschreiben vermag.

Es ist ein Verdienst von Süß, an bedeutende und oft verdrängte Programmprozesse und Zukunftsentwürfe der Vergangenheit zu erinnern: an die Planbarkeit des Kapitalismus im »Orientierungsrahmen '85«; an das gebrochene Verhältnis zum Fortschritt angesichts ökologischer Grenzen; an die Kontroverse, was aus dem Untergang der traditionellen Industriegesellschaft (»Löwenthal-Papier«) und der Auflösung der sozial-moralischen Milieus folgt; an Debatten um den Demokratischen Sozialismus; an Solidarität und Gerechtigkeit unter individualisierten Bedingungen und gespaltenen Verhältnissen; schließlich an das Ringen um sozialdemokratische Außenpolitik, die sich »von jener der politischen Rechten dadurch unterschied, dass militärische Lösungen oder eine aggressive Revisionspolitik eben gerade nicht Teil des Selbstverständnisses waren«.

Demgegenüber ist für Stöss der Wählerschwund »zu allererst das Resultat von Fehlentscheidungen, Irrtümern, Versäumnissen, Schwächen, Ungeschicklichkeit und Borniertheit der handelnden Sozialdemokraten«, die sich im Kampf um Macht und Einfluss jahrelang nichts schenkten. Er hält den Beitrag der externen Faktoren zu dieser elektoralen Talfahrt der SPD für gering, »verantwortlich waren in erster Linie interne Unzulänglichkeiten«, ideologisch-programmatische und strategisch-performatorische Defizite.

Stöss macht sich die vom Parteivorstand beauftragte interne Selbstkritik von 2017 zu eigen, die unter anderem bemängelte: keine langfristig angelegte Kommunikationsstrategie, das Verwischen der Unterschiede zur Union, das Auseinanderfallen von Regierungsarbeit und Wahlkampfkommunikation, programmatische Unschärfe und Profillosigkeit, unprofessionelle Kanzlerkandidaturen, Fehlen eines strategischen Zentrums im Willy-Brandt-Haus, eine »Kultur kollektiver Verantwortungslosigkeit« an der Parteispitze, tiefe Gräben zwischen Führung und Mittelbau der Partei, sowie zwischen lokalen Führungen und Wählerinnen und Wählern.

Vor dem Wahlkampf von Olaf Scholz, zu dem auch die Befriedung von Frust und schlechter Stimmung in der Partei durch die beiden direkt gewählten neuen Vorsitzenden »der Basis« gehörte, fehlte eine identitätsprägende verbindlich kommunizierte Kernbotschaft (ein wertegebundenes Leitbild mit darauf bezogenen zentralen Reformkonzepten), es mangelte an der Fähigkeit aus Fehlern zu lernen und strategisch zu planen und schließlich wurde keine wirkliche Machtperspektive eröffnet.

Eindruck von Wählertäuschung und Entsozialdemokratisierung

Beide Autoren sind sich in einem zentralen Urteil einig: Die SPD auf Talfahrt geschickt hat letztlich die Politik der »Neuen Mitte«, die, vor allem durch die Agenda 2010, aber weit darüber hinaus, den Markenkern der SPD zutiefst verletzte. Eine grundsätzliche Umdrehung der Gerechtigkeitslogik sah in »Fragen nach Einkommensverteilung, gesellschaftlichem Reichtum, ungleichen Machtverhältnissen, und den Risiken kapitalistischer Märkte« nicht mehr kapitalistische Strukturprobleme, sondern es ging um das einzelne »marktfähige« Subjekt, das sich behaupten solle oder scheitern könne. Allen halbherzigen Versuchen des Nachbesserns zum Trotz blieb der Eindruck von Wählertäuschung und Entsozialdemokratisierung der SPD. Lange wurde der SPD, gerade in Zeiten der Großen Koalition, nicht mehr geglaubt, dass von ihr sozialdemokratische Werte ins Regierungshandeln umgesetzt werden.

Was die SPD damals letztlich geritten hat, bleibt auch nach dieser Lektüre mysteriös: die Basta-Erpressungen Schröders oder Angst vor der Wucht des neoliberalen Zeitgeistes oder die Verdrängung der eigenen Geschichte und Werte oder falsche Globalisierungstheorien des »Dritten Weges« oder schlechte Berater, die empfahlen, auf die Wechselwähler aus einer ominösen Mitte zu setzen und die Stammwähler zu ignorieren, oder, oder... Unstrittig jedoch wirkte diese Missachtung der Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit verheerend, in den Großen Koalitionen verlor die SPD von Wahl zu Wahl weiter an Kompetenz im Bereich der Sozialpolitik, sie wurde schlicht als Sozialstaatspartei nicht mehr wahrgenommen.

Sicher ist von einer zunehmend hohen Volatilität der Wählerinnen und Wähler auszugehen. Doch was war nun der plötzliche Wahlsieg 2021? Ein erfolgreicher Neustart in ein »sozialdemokratisches Jahrzehnt« oder ein Zwischenhoch auf dem weiteren Weg in den Untergang? Schließlich lagen die Grünen, das sollte nicht vergesen werden, von Oktober 2018 bis August 2021, sogar unter den neuen SPD-Parteivorsitzenden, in den Umfragen vor der Sozialdemokratie.

Besondere historische Konstellation

Beide Autoren betonen die besondere historische Konstellation 2021, die sich so kaum wiederholen werde: dass eine langjährige Kanzlerin nicht mehr antrat, dass die Wahlkampagne einer zudem zerstrittenen Union so misslungen war, dass die Personalisierung klar auf den staatsmännischen und krisenerfahrenen Olaf Scholz hinauslief, dass die SPD geschlossen, nervenstark und mit engagierten Mitgliedern einen fehlerfreien Wahlkampf hinlegte, dass das sozialdemokratische Profil im Gegensatz zur Union deutlich wurde (Finanzpolitik, Sozialpolitik, Klimapolitik, Bündnispolitik), dass für die SPD-Anhänger Partei und Kandidat zueinander passten, dass sich eine klare Machtperspektive abzeichnete.

Wenig konkret werden beide Autoren, die ja analytische Rückblicke geschrieben haben, wie die Trendwende zum Wiederaufstieg der SPD dauerhafter gelingen könnte. Dass er schwierig wird, zeigten gerade einmal mehr die 18,4 Prozent der Berlin-Wahl. Stöss verweist darauf, dass es vor allem in Krisenzeiten auf beides, auf Stabilität und Kontinuität des Regierungshandelns und auf die Kommunikation eines »wertegebundenen Leitbildes« ankomme. Um dessen Deutungshoheit, im Kern letztlich um die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums (also mehr Bernstein als Marx, aber auch mehr Bernstein als Friedman), müsse die SPD kämpfen.

Ins gleiche Horn stößt Süß, wenn er fordert »auch wieder mutiger über Reichtum und Armut, über soziale und (globale) Ungleichheiten der Klimakrise, über neue und alte Klassenstrukturen zu sprechen«. Da kann man gespannt sein, was derzeit die Kommission beim SPD-Parteivorstand für eine neue Steuer- und Finanzpolitik erarbeitet.

In einer SPD, in der diejenigen, die von der Expansion des öffentlichen Dienstes profitieren, überrepräsentiert sind, sei es heute eine besondere Aufgabe, »die massiven gesellschaftlichen Umbrüche und wachsenden sozialen Ungleichheiten, die Kluft politischer Repräsentation und auch die neuen Klassenverhältnisse spätmoderner Gesellschaften« zu begreifen, gerade mit Blick auf die pluralisierten Arbeitswelten, »mit ihren unterschiedlichen körperlichen Belastungen, Anerkennungskämpfen und Marginalisierungserfahrungen«. Besonders die veränderten Mischungen sozioökonomischer und sozio-kultureller Ungleichheiten müssen verstanden werden. Es gilt, Sozialpolitik und Emanzipationsbewegung auf neue Art zusammenzuführen. Hieran wird weiter zu arbeiten sein.

Pola Lehmann/Theres Matthieß/Sven Regel/Bernhard Weßels: Die Ampel-Koalition. Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm? transcript, Bielefeld 2022, 198 S., 19,50 €. – Richard Stöss: SPD am Wendepunkt. Neustart oder Niedergang. Schüren, Marburg 2022, 251 S., 28 €. – Dietmar Süß: Der seltsame Sieg. Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet. C.H.Beck, München 2022, 220 S., 18 €.

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