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picture alliance | Christian Fink

Neuere Empfehlungen für die Sozialdemokratie Wohin des Weges?

Rückt eine Bundestagswahl näher, liegt in den Buchläden neben mehr oder weniger bestellten Politikerbiografien und werbenden Kandidatenbüchern auch der ein oder andere intellektuelle Wurf, der sich programmatischen Zuspitzungen oder dem zukünftigen Kurs widmet. Dies gilt besonders links der Mitte, wo Parteien auf der Basis ihrer Gesellschaftsanalysen Reformen umsetzen und die Verhältnisse aktiv gestalten wollen. Und dies gilt aktuell besonders für die SPD, bei der es um viel geht, nämlich darum, Volkspartei zu bleiben und tendenziell mehrheitsfähig. Olaf Scholz ist auf gleicher Augenhöhe mit seinen Kanzlerkonkurrenten, doch in Sachsen-Anhalt, wo die SPD bei der Landtagswahl im Juni gerade noch 8,4 % erhielt, sagten in einer Umfrage 65 % der Befragten, sie wüssten nicht mehr, wofür die Sozialdemokratie stehe. Wie das innerparteilich wie gesellschaftlich mehrheitsfähige Politikmodell aussehen könnte, um die SPD wieder zu alter Stärke zurückzubringen – davon handeln neuere Bücher, von denen drei hier betrachtet werden.

Doch zuvor sei festgehalten, dass der fast 20-jährige Streit um die Agenda 2010, die die SPD in eine überwiegend kritische Basis und eine Regierungs-SPD spaltete und die die Konkurrenz der Linkspartei hervorbrachte, endlich Vergangenheit ist, als Ergebnis eines längeren, bereits von Kurt Beck, Sigmar Gabriel und Andrea Nahles begonnenen Prozesses. Florian Fößel schreibt in seiner umfangreichen Dissertation (Warum scheiterte der Dritte Weg der Sozialdemokratie?), dieser Dritte Weg »zwischen keynesianisch-etatistischem Marktinterventionismus und neoliberalem Marktradikalismus« sei das letzte überwölbende Narrativ der SPD gewesen. Dann allerdings gescheitert, mündete die »Neue Mitte« doch, wie immer man die Reformen im Einzelnen beurteilen mag, in einer tiefen Identitäts- und Vertrauenskrise. Mittlerweile ist wieder unbestritten, dass die SPD auch Sozialstaatspartei, Verfechterin sozialer Gerechtigkeit, Anwältin der Arbeiterschaft und Partei der sogenannten kleinen Leute, orientiert an ihren Grundwerten, sein muss. Wie dies aber neue Glaubwürdigkeit erlangen kann, was für neue Konfliktlinien sich inzwischen entwickelt haben, durch welche Positionierungen wieder eine überzeugende Erzählung entstehen kann, dazu bieten die drei im Weiteren betrachteten Bände eine Fülle von Hinweisen.

Allen geht es um die Zurückgewinnung der politischen Initiative, um die Wiederherstellung von Solidarität und den Wiederaufstieg der SPD in der individualisierten und vielfältig gespalteten Gesellschaft. Dabei sind Vorgehensweise und Genre höchst unterschiedlich: Der junge politische Stratege und Berater Erik Flügge füllt sein Meinungsmanifest Egoismus mit kreativen Ideen, bemüht sich, Fragen der Linken überraschend anders zu beantworten. Der Publizist und ehemalige SPD-Referent Nils Heisterhagen konstruiert in seinem Band Verantwortung eine innerparteiliche Entscheidungsalternative, wobei er mit einer Leidenschaft und Schärfe polarisiert, wie es seit dem »Anti-Dühring« von Friedrich Engels (1877) in der sozialdemokratischer Programmgeschichte schon öfter Usus war. Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan schließlich erläutert, konkretisiert und erweitert den Horizont vorhandener Programmatik, um demokratische Politik in Zeiten der Globalisierung zu retten und setzt darauf, mit guten Argumenten und vernünftigen Lösungen zu überzeugen.

Flügges flott geschriebene Botschaft lautet, dass es eben nicht funktioniere, das »freie Ich« für die bessere Gesellschaft zu unterdrücken, moralischer Appell nicht ausreiche, es letztlich auf materialistisch fundierte Politik ankomme. Durch systemisches Denken seien die Stellschrauben so zu justieren, dass eine kluge Ordnung entsteht, bei der man gemeinsam für sich selbst und zugleich für alle anderen etwas erreicht. Er nennt dies »neues Gesellschaftsdesign«, »den Rahmen zu verändern und jede Struktur kritisch anzuschauen, überall zu sehen, wo die Egoismen der Einzelnen in Konkurrenz aufeinander losgelassen werden, um dort die Bedingungen so zu ändern, dass man miteinander Ziele erreichen kann, statt gegeneinander«. Der Egoismus des Einzelnen solle auch zum Wohle der Anderen führen, eigene Freiheit und eigene Interessen gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziales Gemeinwohl fördern.

Eine ausgewogene Balance aus individuellem Streben und Gemeinsinn – das ist weniger die Erfindung Flügges, »gleiche Freiheit« ist Kern des freiheitlichen Sozialismus und der sozialen Demokratie, also eigentlich (ohne dass er dies benennt) das Mantra sozialdemokratischer Programmatik spätestens seit dem Godesberger Programm. Wogegen Flügge anargumentiert und dies auf wichtigen Politikfeldern durchdekliniert, sind Positionen, die vor allem bei der Linkspartei und den Grünen beheimatet sind. Allerdings mit Einflüssen, allzumal wo das eigene programmatische Selbstverständnis nicht immer bekannt ist, auch auf sozialdemokratische Diskussionen. Hier schafft Flügge durchaus Klarheit: etwa gegen die Utopie vom revolutionären Systemwechsel, gegen das überholte Sozialismusverständnis als Abschaffung des Marktes und als Enteignung (dem widersprach bereits Eduard Bernstein). Aber auch gegen die Illusion, durch die »Ideologie der Postmaterialisten«, durch moralischen Konsum und eine Verzichtsstrategie sei die Lösung der Klimakrise möglich. Das noch so heftige Moralisieren vom Zusammenhalt könne Egoismus nicht außer Kraft setzen, der Materialismus bleibe ein zentraler Antrieb der Menschen.

Irritierend wirkt, wie Flügge seine Plädoyers manchmal überzieht, etwa wenn er, hier im Gegensatz zum aktuellen SPD-Zukunftsprogramm, Steuererhöhungen, auch der Erbschaft- und Vermögensteuer, pauschal ablehnt. Warum sollen normale Wählerinnen und Wähler nicht verstehen können, dass steuerliche Umverteilung in ihrem Interesse ist, sofern sie nicht zu den paar Prozent Superreichen gehören? Oder er provoziert, wohl um Lernprozesse auszulösen. Zwar ist es richtig: Die neuen akademischen Mittelschichten sollten nicht so arrogant auftreten, als seien sie die besseren Menschen, denn deren Ökobilanz ist bekanntlich schlechter als die ärmerer Menschen, sprichwörtlich wurde ja das Fahren mit dem SUV zum Bioladen. Doch Bücher und Autos als schichtspezifische Statussymbole und Ausdruck des getarnten Materialismus gleichzusetzen – »die Bücherwand ist nichts anderes als der Traum des Prolls vom Porsche« –, überzeugt nicht. Ob Bildung und kulturelles Kapital als Voraussetzung für selbstständiges und kritisches Denken angehäuft werden, oder ob es um egoistischen Fahrspaß ohne Rücksicht auf die Umwelt geht, macht angesichts der Klimakatastrophe eben einen entscheidenden Unterschied.

Was bei Flügge ein Plädoyer bleibt, den Egoismus als Urtrieb anzuerkennen, gerinnt bei Heisterhagen zur kämpferischen Gegenüberstellung eines falschen und eines richtigen Linksseins: die postmoderne Kultur-/Diskurslinke gegen die handlungsorientierte Reformlinke. Die Linke insgesamt habe sich zu sehr von sozioökonomischen Fragen entfernt, habe zu einseitig auf Kulturthemen gesetzt. Die SPD sei eine diffus »progressive« Partei geworden, ihr zentraler Fehler liege in der Konturlosigkeit ihres linken Profils. Sie müsse dringend eine »strategische Realismuswende« vollziehen, statt die Grünen nachzuahmen, die sie durch ihr Kopieren letztlich nur stärken würde.

Auf der einen Seite kritisiert Heisterhagen – übrigens wie Sahra Wagenknecht, deren Projekt #aufstehen ganz in seinem Sinne war – eine Politik der Identität, Differenz und Anerkennung, bloßer Wertedebatten. Vom Ichismus des Neoliberalismus, von Poesie-Politik, Stimmungspolitik, politischer Kommunikation als Spielfeld, vom Anything Goes, von einem Kulturliberalismus, der zum Wirtschaftsliberalismus passe, ist da die Rede. Man begnüge sich mit einer moralischen Haltung Recht zu haben, statt die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Aus der eigenen Emanzipation würde in der kosmopolitischen Klasse Verachtung für »die da unten«.

Demgegenüber brauche die SPD ein anderes Linkssein, bei dem wirtschaftliche und soziale Fragen zentral sind, ginge es für die meisten Wähler am Ende des Tages letztlich (ganz im Sinne Flügges) um materialistische Fragen. Auch um Verantwortung (jedes einzelnen, gegenüber einander und gegenüber dem Gemeinwohl), um tatsächliche Realpolitik, auch im Klein-Klein, um die Mehrheitsfähigkeit konkreter und realistischer Alternativen zum Wirtschaftsliberalismus, um ein republikanisches Wir. »Die postmoderne Identitätspolitik ist in einer sehr zentralen Weise der deutliche Gegensatz zu dem, wofür die politische Linke einmal stand, für Solidarität, Gleichheitsideale und Emanzipation. Die politische Linke kämpfte mit politischer Ökonomie für ein materialistisch besseres Leben für alle und stärkte ein ›Wir Gefühl‹.«

Auch mit Blick auf viele wissenschaftliche Debatten der letzten Jahre, denken wir nur an die Chiffre vom Kommunitarismus gegen Kosmopolitismus, ist die Analyse nicht falsch, dass es der SPD nur dann besser gehen wird, wenn sie auch die abwandernden arbeiterlichen Stammwähler wieder zu erreichen vermag, wozu übertriebene Freiheits- und Identitätsthemen der neuen akademischen Mittelkasse wenig hilfreich sind, denn der »Mach-doch-Dein-Ding-Liberalismus ist kein sozialdemokratisches Programm«.

Doch ob eine derartig holzschnittartig-idealtypische Dichotomie wirklich nach vorne weist, oder doch eher Feindbilder bestätigt und neue Spaltungen – geschlossen versus offen – letztlich vertieft, ist nicht ausgemacht. Man kann auch argumentieren, dass die SPD gerade in der Bundesregierung nicht den »linken Lebenslügen« folgt, sondern eine handfeste und erfolgreiche Reformpolitik für die kleinen Leute, vom Mindestlohn über Corona-Hilfen bis hin zur internationalen Besteuerung multinationaler Konzerne betreibt. Und dass gerade der Wahlkampf von Olaf Scholz, erinnert sei an sein Stichwort »Respekt«, Brücken hin zu der sich bedrängt fühlenden alten Mittelklasse und zu neuen prekären Lebenslagen baut. Und damit den Markenkern der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit wieder in den Mittelpunkt rückt.

Während Heisterhagen der Auffassung ist, die Antworten vor allem national gefunden zu haben, hält Gesine Schwan den Ruf »zurück zum Nationalstaat« für eine politische Sackgasse. Wie demokratische Politik, an deren philosophische und politikwissenschaftliche Genesis sie zunächst erinnert, unter den Bedingungen einer globalisierten Welt funktionieren kann, davon handelt ihr Buch Politik trotz Globalisierung. In bester Tradition des sozialdemokratischen Reformismus beschreibt sie, worin die Aufgabe heute besteht: den menschenfeindlichen Kapitalismus in Schach zu halten und durch mehr politische Teilhabe das Soziale und Demokratische zu fördern. Nicht als ständige Abgrenzung von andersdenkenden Linken, sondern als konstruktive, möglichst viele mitnehmende Reformpolitik, bei der Ziel, Schritte und Konzepte überzeugend entfaltet werden. Denn es »müssen jetzt neue transnationale Wege für eine Balance zwischen Politik und Wirtschaft gefunden werden. Die tiefere Krise der Sozialdemokratie liegt aktuell zentral darin, dass sie diese noch nicht konzeptionell überzeugend gefunden, geschweige denn umgesetzt hat – was auch theoretisch und praktisch sehr schwer ist«.

Den Ausweg aus den Blockaden und Legitimationskrisen der Politik sieht Schwan in einer Kombination der europäischen und globalen mit der lokalen und kommunalen Ebene. Auch transnational könnte aus der antagonistischen Kooperation von Politik, organisierter Zivilgesellschaft und Unternehmen eine »Multi-Stakeholder-Governance« entstehen. Eine Politik, die z. B. das Umsteuern auf einen ökologischen Nachhaltigkeitspfad ermöglicht, brauche das Zusammenspiel von Institutionen, Akteuren und Verfahren, aus dem Steuerung hervorgeht. Städte und Kommunen, das ist eine zentrale Botschaft, könnten zum Motor globaler demokratischer Politik werden, mit mehr Spielraum, Dynamik und Kooperation eine neue politische Kultur hervorbringen, etwa durch das Instrument kommunaler Entwicklungsbeiräte. Dies könnte gerade in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik den gordischen Knoten zerschlagen, statt wie die EU derzeit vor allem auf inhumane Abschreckung zu setzen, Regulierung und Begrenzung zu verbinden mit legalen Wegen nach Europa, die die lokale Aufnahmebereitschaft von Kommunen nutzen ohne Nationen zu überfordern.

Von solch einem Denken in mutigen Entwürfen und neuen Konzepten sollte die Kraft ausgehen, sich die Gestaltung des globalen Kapitalismus im Interesse der Menschen vor Ort wieder zuzutrauen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Das gilt auch für das Diktum Immanuel Kants, sich an die Stelle des Anderen zu setzen und sich für die Würde und Freiheit aller Menschen einzusetzen, trotz Flügges Loblied auf den Egoismus (den dieser, wie wir sahen, ebenfalls für das Gemeinwohl nutzen will). Im Kern sind sich die drei Autor/innen darin einig, was heute wieder im Zentrum der sozialdemokratischen Erzählung und ihres Handelns stehen sollte, Heisterhagen nennt es »sozio-ökonomische Linke«, Gesine Schwan formuliert: »Die entscheidende und brisanteste Frage an die Möglichkeit von demokratischer Politik ist daher heute, ob sie sich gegen Marktmacht und systemische kapitalistische Logik durchsetzen kann.«

Erik Flügge: Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2020, 112 S., 10 €. – Florian Fößel: Warum scheiterte der Dritte Weg der Sozialdemokratie? Labour Party und SPD im Vergleich. Nomos, Baden-Baden 2020, 599 S., 119 €. – Nils Heisterhagen: Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2020, 224 S., 19,90 €. – Gesine Schwan: Politik trotz Globalisierung. wbgTheiss, Darmstadt 2021, 224 S., 25 €.

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