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Mobilität an ihrer Grenze Wohin die Reise geht

Ein Böschungsbrand, eine gerissene Oberleitung, eine Geiselnahme im Kölner Hauptbahnhof; bei Montabaur ein brennender Schnellzug, verursacht vermutlich durch einen durchgeschmorten Trafo – die Strecke blieb zwei Monate lang gesperrt; eine Protestaktion gegen die Abschiebung von Zuwanderern am Flughafen Düsseldorf – die Folge: Chaos, Verzweiflung, Wutausbrüche.

In allen Fällen geht es um Mobilität, um Transportwege und Lieferketten, um die Lust am Reisen und den leidigen Zwang für immer mehr Menschen, zwischen dem Arbeitsplatz und dem Wohnort zu pendeln. Und es geht um die Frage, wie solche hoch komplexen, störanfälligen Systeme zu schützen und zu bewahren sind. Nicht zuletzt, ob Revisionen möglich sind, wenn der Fortschritt mal ein ganz neues Kapitel aufschlägt.

»Störungen im Betriebsablauf«, wie es in schönstem Bahn-Deutsch heißt, gehören zum Alltag des Unterwegsseins: ein mürbe gefahrenes Schienenbett, das keine hohen Geschwindigkeiten mehr duldet, eine Baustelle, eine blockierte Weiche, wachsende Verspätungen, verpasste Anschlusszüge – das alles ist zwar alltäglich und banal, aber in seiner Häufung unangenehm und lästig. Es sind Merkmale eines Betriebes an der Grenze zur Überforderung. Selbst das prestigeträchtige Verkehrsprojekt deutsche Einheit Nr. 8 (VDE 8), mit dem die Bahn dem gestiegenen Bedürfnis nach innerdeutschen Begegnungen auf der Strecke von Berlin nach München entgegenkommen will – es wurde lange vor seiner Fertigstellung zum Gegenstand von Spott und Streit: Die Route sei schlecht gewählt, klagten Bürgerinitiativen und Verkehrsplaner, die Kosten absurd überhöht, das Ganze mit bislang 26 Jahren Entwicklungszeit ein Dokument der Langsamkeit. Sogar das Umweltbundesamt kam zu dem Ergebnis, das Projekt ziele »am verkehrlichen Bedarf vorbei«.

Wer heute mit der Bahn oder auch mit dem Auto oder dem Flugzeug unterwegs war, der hat was zu erzählen: 700 Menschen, stundenlang auf freier Strecke in einem ICE gefangen, ohne Licht, ohne Strom. Vom Zugpersonal nur die üblichen Phrasen. Autobahnstaus addieren sich jährlich zu anderthalb Millionen Kilometern Länge. Zu Pfingsten blockiert ein brennender Reisebus den Schweizer San-Bernardino-Tunnel – 28 Kilometer Stillstand tief unten in den mahlenden Felsschichten des Gebirges. Am Frankfurter Flughafen Reisende, die zur Mittagszeit noch halbwegs zuversichtlich in die Kameras winken und zur Tagesschau um 20 Uhr immer noch in der Warteschlange stehen. Der Flugverkehr wegen eines Unwetters komplett eingestellt – eine Wiederholung dessen, was aus anderen Gründen wenige Tage zuvor geschehen war, als ein falscher Alarm in der Sicherheitskontrolle den gesamten Flughafen lahmlegte. Jedes Mal, nach dem Muster der umstürzenden Dominosteine, zog eine Störung viele weitere nach sich.

Viele von denen, deren Reiseziel irgendwo im Norden lag, trafen sich im Hauptbahnhof von Fulda wieder. Kurz vor Mitternacht, die Halle voll ratloser Fahrgäste aus mehreren gestrandeten, hoffnungslos überfüllten ICE-Zügen, nachdem in Frankfurt viele, die eigentlich einen Flug gebucht hatten, zugestiegen waren. Nichts ging mehr. Doch blieben in dieser Nacht im Bahnhof alle Schalter geschlossen, kein Mitarbeiter der Bahn konnte Auskunft geben, Ersatzzüge vermitteln oder auch nur ein paar Flaschen Mineralwasser verteilen. Die letzten 200 oder 300 Kilometer wurden schließlich in den frühen Morgenstunden in einem Pulk von Taxis zurückgelegt, selbst organisiert, wenn auch, gänzlich unerwartet, von der Bahn bezahlt. Jeder, der in diesen chaotischen Zeiten sein Haus verlässt, kann oft Ähnliches erzählen. Was also ist passiert?

Kollaps der Systeme

Die Infrastruktur in Deutschland ist in die Jahre gekommen. Auf den Straßen tun sich Schlaglöcher auf. Alt gewordene Züge und Flugzeuge brauchen immer mehr Zeit zur Wartung in der Montagehalle. Wie es unter den Brücken aussieht, möchte man lieber nicht wissen. Beton ist ein tückisches Material, es verspricht Haltbarkeit und Dauer, aber plötzlich kommt es ganz anders. Wie im August 2018 in Genua, als die Talbrücke der viel befahrenen A10, mitten in einem dicht besiedelten Stadtgebiet, ohne jede Vorwarnung einstürzte: 43 Tote. Der Betonstaub über dem Polcevera-Viadukt hatte sich kaum gelegt, da flogen schon die Fetzen auf dem politischen Parkett. Da an der Tatsache des Unglücks nichts mehr zu ändern war, waren die Politiker hauptsächlich damit beschäftigt, nach Schuldigen zu suchen. War die Brücke nicht sorgfältig überwacht und gewartet worden? Lag es an der Fahrlässigkeit, mit der das Straßennetz zum Teil in private Hände gegeben worden war? War am Ende die Europäische Union verantwortlich, die das Land angeblich mit ihren strengen Haushaltsregeln stranguliert? So argumentierten die Vertreter der rechtspopulistischen Regierung. Ein unwürdiges Spiel. Dabei gibt es kaum einen Zweifel, dass in Europa Tausende von Brücken und Tunneln marode und dringend repariert werden müssen, wenn sie nicht eines Tages auch ohne Vorwarnung zusammenbrechen sollen.

Immer wieder ist es das Bild der stürzenden Dominosteine, mit dem sich der Kollaps solcher Systeme beschreiben lässt: Ihre Elemente sind eng miteinander verbunden; fällt eines aus, reißt es die anderen mit sich. Auch die Lokführer und Piloten kennen ihre Macht und können mit Nadelstichen weitreichende Wirkung erzielen. Das System der Mobilität hat viele Schwachstellen. Es verführt dazu, das berühmte Modell aus der Chaostheorie zu beschwören, nach dem der Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo weit entfernt einen Tornado auszulösen vermag. Das gilt übrigens für fast alle Versorgungssysteme, für die Müllabfuhr wie für die innere Sicherheit, für die Bildung wie für das Gesundheitswesen.

Unsere Mobilität, so scheint es, ist an ihre Grenzen gestoßen. Zwei Entwicklungen sind dafür hauptsächlich verantwortlich: zum einen die Beschleunigung und Globalisierung der Ökonomie, zum anderen der einzelne Mensch, wir alle oder doch die meisten. Mit der Verherrlichung der Mobilität als Inbegriff des guten Lebens wurde das Reisen zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor: sei es der spontane Städtetrip, sei es der Flug in den Jahresurlaub all-inclusive zum Preis einer Monatskarte des städtischen Verkehrsbetriebs, sei es der Rückzug in eine exotische Idylle, selbst wenn der Flug dorthin Tonnen von Kerosin verbraucht. Gibt es ein Grundrecht auf Tourismus? Jedenfalls handeln wir, als wäre es so. Parallel dazu, quasi auf dem Nachbargleis, reisen Produkte und Materialien um die halbe Welt, um punktgenau dort zu sein, wo sie verarbeitet oder konsumiert werden. Was einst in Lagerhäusern geduldig auf seine Weiterverwendung wartete, rollt heute, just in time, über die Autobahn. Und die Konsumenten rasen mit Lichthupe auf der Überholspur. Welche Infrastruktur soll das auf Dauer aushalten?

Wie kann der Ausbau von Schienen, Straßen und Luftverkehrswegen dem rasant wachsenden Bedarf gerecht werden? Eine Bahntrasse, auf der die Züge Berlin und München fünfmal am Tag in knapp vier Stunden miteinander verbinden und damit die Investition von zehn Milliarden Euro rechtfertigen, nimmt eine Zukunft vorweg. Aber welche Zukunft ist das? Und wie sieht diese in zehn oder 20 Jahren aus? Der Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg ist nach 12 Jahren Bauzeit noch immer nicht fertig und doch schon zu klein.

Zu fragen ist also nicht nur: Welcher Zustand lässt sich mit welchem Aufwand wiederherstellen? Und wie haben sich die Anforderungen bis dahin entwickelt? Sondern auch: Was soll den Vorrang haben, wenn sich Systeme und ihre Kontexte eines Tages grundlegend wandeln oder schon im Begriff sind, es zu tun? Steht dann die Wartung des Schienennetzes wirklich noch an erster Stelle? Oder die Entwicklung neuer Diesel- oder auch Elektromotoren? Es wären immer noch Autos, die damit angetrieben würden. Und immer noch Bahnen und Flugzeuge, deren Betrieb umso anfälliger wird – und belastender für die Umwelt –, je mehr Versandhäuser, Dienstleister, produzierendes Gewerbe, Urlauber und Geschäftsreisende ihre Dienste für unverzichtbar halten.

Das Reisejahr 2018 war ein Jahr der nervenaufreibenden Warterei. Lässt sich nichts dagegen unternehmen? Doch: verzichten und entlasten. Alternativen schaffen, statt einem immer weiter angeheizten Bedarf immer atemloser hinterherzurennen. Wer ein Breitbandnetz hat, das tatsächlich bis in den letzten Winkel des Landes ausgebaut ist, der kann auf manche vermeintlich dringende Dienstreise verzichten oder vielleicht ganz von zu Hause arbeiten. Die Städte umbauen, weil die Autos immer größer werden? Nein: Fahrradwege bauen. Andere Möglichkeiten öffnen statt immer mehr vom selben.

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