Von grenzenloser Euphorie zu gnadenloser Ernüchterung. Wer die Digitalisierungsdebatte der letzten Jahre Revue passieren lässt, der stellt eine eindeutige Entwicklung fest: Wir haben den Arabischen Frühling als Facebook-Revolution gedeutet und von der demokratisierenden Kraft eines neuen Mediums geträumt. Bekommen haben wir hate speech und Social Bots, die den Wahlkampf von den Inhalten weg hin zu den zu Algorithmen verlagern. Wir haben vom Arbeiten jenseits des Büros geträumt, jenseits starrer Arbeitszeiten und dennoch kollaborativ, während wir en passant die Kinder betreuen. Bekommen haben wir ständige Erreichbarkeit, ein neues digitales Prekariat und eine verschärfte Konkurrenz um jeden Auftrag via Mechanical Turk, dem virtuellen Marktplatz, der Arbeitgeber und -nehmer zusammenbringt. Wir haben davon geträumt, dass sich jeder kostengünstig und schnell über das informieren kann, was uns alle betrifft. Und dass jeder seinen Blick auf die Dinge mit allen teilen kann. Was wir bekommen haben, ist ein Facebook-Algorithmus, der mit etwa 100.000 (!) Indikatoren auswählt, was wir lesen, passgenau, jedem Einzelnen und seinen Ansichten entsprechend und diese verstärkend. Vom gemeinsamen Beraten über kollektive Angelegenheiten keine Spur.
Sollten wir deshalb aus all den Expertenkommissionen zur Digitalisierung die mutigsten drei Sachkundigen aussuchen und sie auf die Suche nach dem Stecker zu diesem Internet schicken, um es endlich abzuschalten? Müssen wir nicht unsere Demokratie vor der Digitalisierung schützen? Sind nicht 20 Jahre Google und zehn Jahre iPhone einfach genug? Keineswegs! Nicht nur, weil die Digitalisierung inzwischen ein umfassendes »Ökosystem« ist, in und mit dem die allermeisten von uns leben, lieben und arbeiten, sondern auch, weil die Digitalisierung aus der Perspektive der Sozialen Demokratie ein fantastisches Instrument zur Vervielfältigung von Partizipation ist. Denn es bleibt ja richtig: Mithilfe der Digitalisierung können wir mehr Teilhabe in der Demokratie und am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, wir können Wohlstand vervielfältigen, Freiheit fördern und Arbeit besser machen. Allerdings geht es darum, zwischen Euphorie und Ernüchterung eine realistische Debatte um die Digitalisierung zu führen und zunächst gemeinsam zu verhandeln, nach welchen Werten die Digitalisierung gestaltet werden soll und dann zu überlegen, welcher Umgang sich daraus mit Phänomenen der Digitalisierung ableiten lässt.
Wichtig wäre dafür die Erkenntnis, dass wir der Digitalisierung nicht ohnmächtig ausgeliefert sind, sondern dass sie von Menschen gemacht und von Menschen gestaltet werden kann. Wir brauchen eine Vermenschlichung der Digitalisierungsdebatte. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Technologien, Algorithmen und Social Bots von Menschen erdacht und erschaffen worden sind. Auch unter dem Eindruck eines Internets der Dinge und der rasanten Entwicklung künstlicher Intelligenz sind es keine unaufhaltbaren Technikmaschinen, die unser (digitales) Leben prägen. Letztinstanzlich ist der Mensch verantwortlich. Es sind Menschen, die von Werten geprägt und von Interessen geleitet sind, die in Weltanschauungen verhaftet sind, die die Digitalisierung prägen. Menschen haben ihre Wertvorstellungen den Technologien eingeschrieben – und folgen dabei vor allem kapitalistischen Prinzipien.
Wenn etwa – wie die NGO AlgorithmWatch schreibt – die Suche nach afroamerikanisch klingenden Namen bei Google wesentlich häufiger Werbung für Auskunfteien über kriminelle Personen hervorruft, als die Suche nach anderen Namen, dann liegt diesem Muster eine von Menschen getroffene und bestimmten Rationalitäten folgende Wertentscheidung zugrunde. Afroamerikaner werden nach dieser Logik häufig als kriminell betrachtet, Werbung für Auskunfteien bringt mehr Gewinn als Werbung für andere Produkte. Diese Logik ist rassistisch, aber aus kapitalistischer Perspektive nachvollziehbar. Und an kapitalistischen Rationalitäten sind all die großen Unternehmen orientiert, die die Architektur unserer digitalen Welt ausmachen, von Amazon über Facebook bis Google. Diese neoliberale Durchdringung des Internets steht übrigens im krassen Widerspruch zu seiner Ursprungsidee. Ob diese für ein profitorientiertes Unternehmen nachvollziehbaren Logiken allerdings etwas so umfassendes und unser Zusammenleben so fundamental prägendes wie die Digitalisierung insgesamt durchdringen sollten, ist mehr als fraglich.
Aus der Perspektive der Sozialen Demokratie müssen andere Werte im Vordergrund stehen. Der normative Kern der Sozialen Demokratie ist die Idee gleicher Freiheit. Für die Techies unter uns: Der normative Kern ist so etwas wie der Quellcode der Sozialen Demokratie. Jeder soll gleichermaßen fähig und in der Lage sein, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, frei von Zwängen, die ihm die Gesellschaft oder der Staat willkürlich auferlegen, und ausgestattet mit allem, was es für ein freies Leben braucht. Ein freies Leben, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, politischer Orientierung, sexueller Präferenz – und auch unabhängig von Algorithmen und seinem Datenbestand. Und ganz gewiss unabhängig davon, als potenziell Krimineller verdächtigt zu werden, wenn sein Name afroamerikanisch anmutet. Wichtig ist, diese Werte von legalen Rahmensetzungen zu unterscheiden, denn es geht bei Wertentscheidungen um etwas anderes. Werte sind keine Gesetze, sondern Vorstellungen des Guten, mithin Vorstellungen davon, was wünschenswert für eine Gesellschaft ist. Nicht jede durch einen Algorithmus vorgenommene Diskiminierung ist etwa illegal. Und dennoch kann sie zu weniger Freiheit und zu weniger Gleichheit führen und ist deshalb aus ethischer Perspektive problematisch.
Zugleich ist zu klären, wer diese ethische Dimenison in den Blick nimmt und verhandelt. Sind es die Ethikkommissionen von Amazon oder Facebook? Sind es staatliche Stellen, die immerhin irgendwie demokratisch legitimiert sind? Sind es Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen? Oder braucht es eine Debatte, die auch die Zivilgesellschaft und die letztlich jeden von der Digitalisierung Betroffenen miteinbezieht, bestenfalls im globalen Maßstab? Dieser Anspruch erscheint utopisch und nachvollziehbar zugleich. Schließlich gewinnen Wertvorstellungen besonders dann an Bedeutung, wenn sie breit geteilt werden.
Welcher Umgang mit Phänomenen der Digitalisierung leitet sich ab, wenn wir der Digitalisierung die Vorstellung einer freien und gleichen Gesellschaft einschreiben wollen? Erstens müssen wir über die technisch-prozessuale Dimension darin reden. Zweitens geht es darum, den Menschen zu einem mündigen und kritischen Umgang mit der Digitalisierung zu befähigen. Drittens müssen wir über Eigentumsstrukturen in der Digitalisierung reden.
Zur technisch-prozessualen Dimension ist anzumerken, dass die Internetarchitektur und jedes digitale Produkt letztlich diese Wertvorstellungen widerspiegeln sollten. Dem berechtigten Anspruch des »privacy by design« – also dem Versprechen, Software und Hardware so zu gestalten, dass sie die Privatsphäre des Einzelnen bestmöglich schützen – müssen wir ein »ethics by design« hinzufügen: Wertmaßstäbe müssen jenseits kapitalistischer Verwertungslogiken in die Strukturen der Digitalisierung eingeschrieben werden – sonst werden wir in einer unmenschlichen, unfreien und ungerechten Gesellschaft enden.
Zudem kommt es auf den Menschen an. Es kommt darauf an, den Einzelnen zu befähigen, sich aufgeklärt in der Digitalisierung zu bewegen, mithin auch bei eingeschaltetem Bildschirm den Verstand nicht auszuschalten. Wir werden mit Algorithmen, technischen Standards und Automatismen keine Fake News verhindern und hate speech nicht unterbinden können. Es wird mehr denn je darauf ankommen, kritisches Denken zu fördern und im Sinne Immanuel Kants den Mut aufzubringen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das bedeutet auch, aus der eigenen Filterblase herauszutreten und sich mit anderen Sichtweisen zu konfrontieren, als sie der Algorithmus für mich aussucht. Digitale Alphabetisierung etwa an Schulen wird natürlich Programmierfähigkeiten benötigen, aber darf sich darin nicht erschöpfen, sondern muss ermutigen, zwischen Propaganda und Informationen zu unterscheiden. Klassische journalistische Fähigkeiten und Standards wie das Überprüfen von Quellen etc. müssen fester Bestandteil der Lehrpläne werden.
Drittens müssen im Zuge der Digitalisierung stärker Eigentumsstrukturen in den Blick genommen werden. Sowohl die Netzinfrastruktur wie auch die darauf betriebenen Angebote und die mit ihnen generierten Datenbestände sind zum allergrößten Teil im Privatbesitz einiger weniger Konzerne. Diese Struktur macht die unser gesamtes Leben prägende Digitalisierung hochgradig anfällig, wie ein kleines Gedankenexperiment verdeutlicht. Mark Zuckerberg hat als Chef von Facebook (und damit auch WhatsApp) einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir kommunizieren und wer Zugang zu welchen Informationen hat. Wenn diese Funktion nun nicht von dem grosso modo liberalen Zuckerberg, sondern etwa von Stephen Bannon ausgeübt würde, sähe unsere Welt anders aus.
Dieses kleine Beispiel lädt sehr eindrucksvoll zum Nachdenken über Eigentumsstrukturen in der Digitalisierung ein. Eine Alternative könnte mehr staatliches und damit demokratisch kontrolliertes Eigentum sein, etwa bei der Netzinfrastruktur selbst. Nach den Enthüllungen durch Edward Snowden allerdings gibt es erhebliche Zweifel, ob staatliche Stellen und die mit ihnen verbundenen Geheimdienste immer einen an einer freien und gerechten Wertordnung orientierten Umgang mit der Netzinfrastruktur hätten. Für Güter, die für das Allgemeinwohl so wichtig sind, dass niemandem der Zugang verwehrt werden sollte, hat sich eine dritte Kategorie jenseits von staatlichem und privatem Besitz etabliert: die der öffentlichen Güter. In Zeiten, in denen unser Zusammenleben so elementar mit der Digitalisierung verwoben ist, könnte das Modell der öffentlichen Güter eine chancenreiche Alternative zum Privat- oder Staatsbesitz an der Digitalisierung sein. Evgeny Morozov etwa hat vielversprechende Vorschläge zum Umgang mit Datenbeständen als öffentlichen Gütern vorgelegt.
Die Überlegungen zu einer wertorientierten Gestaltung der Digitalisierung zeigen vor allem eins: Sie stehen erst am Anfang. Es gibt jede Menge spannende Ansätze und Entwürfe, wie etwa die Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union. Aber Debattenorte, an denen jenseits von eindimensionaler Euphorie oder Ernüchterung darüber diskutiert wird, nach welchen Werten wir die Digitalisierung gestalten können und wie wir sie mit diesen Werten aufladen können, sind mehr als nötig.
Auch bei #digidemos – dem Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Digitalisierung und Demokratie am 20. Juni 2017 in Berlin – machen die Grundwerte der Sozialen Demokratie den Anfang. Es wird um Demokratie, Öffentlichkeit und Arbeit in einer digitalisierten Gesellschaft gehen, um neue Formen der gesellschaftlichen Verständigung und Teilhabe, um Ideen und Gestaltungsmöglichkeiten. Digitale Demokratie und demokratische Digitalisierung sind dabei zwei Facetten einer Debatte, in der es um nichts weniger als die Zukunft unseres Gemeinwesens geht. Wie gestalten wir die digitale Demokratie und die demokratische Digitalisierung zum Wohle aller?
Neue Gatekeeper und -watcher verändern die digitale Mediengesellschaft genauso wie neue technologische Entwicklungen. Auch aktuelle Themen der Medien- und Netzpolitik stehen bei #digidemos im Fokus: Wie können wir demokratische Öffentlichkeit(en) in und mit der Digitalisierung stärken? Letztlich ist die Arbeitswelt ein zentraler Schauplatz des digitalen Wandels. Umstritten ist, ob dieser Wandel für die Beschäftigten wirkt oder gegen sie. Gilt das digitale Fortschrittsversprechen auch am Arbeitsplatz? Und wie wird »Arbeit 4.0« zu »guter Arbeit«? Wertorientierung, Aufklärung, Zugang für alle, Eigentumsstrukturen – das, was wir brauchen, um die Digitalisierung zu einem Instrument für mehr gleiche Freiheit zu machen – das sind für die Soziale Demokratie Evergreens. Sie hat sich immer wieder mit diesen Fragestellungen auseinandergesetzt und ihr ist es in den letzten gut 150 Jahren immer wieder gelungen, etwas mehr an Freiheit und Gleichheit zu erreichen. Jetzt geht es darum, diesen Anspruch auch im digitalen Zeitalter geltend zu machen.
(Mehr Informationen zu #digidemos unter: www.fes.de/de/digidemos).
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