Menü

© picture alliance / Zoonar | Jens Schmitz

Worum geht es bei der Bundestagswahl 2021?

Es geht um Programme und Inhalte, um inspirierende Personen, aber vor allem um eine andere Politik: eine, die endlich nicht nur auf Sicht fährt, sondern langfristig denkt, in Zusammenhängen handelt, sich öffentlich gut begründet und auf Mut, Fantasie und Argumente setzt; eine lebendige Politik, der die Bürgerinnen und Bürger vertrauen und von der sie sich eine gute Zukunft versprechen können.

Vor welche Alternativen stehen wir?

Erstens: Weiterentwicklung demokratischer Politik oder Abrutschen in den Autoritarismus. Eine zentrale Herausforderung wird sein, unsere Demokratie zu festigen und weiterzuentwickeln. Sie ist die Grundlage für eine gute gemeinsame Zukunft. Dazu müssen wir die Gräben in unserer Gesellschaft, die die Pandemie noch skandalös vertieft hat, überwinden und den sozialen Zusammenhalt durch mehr verbindende demokratische Teilhabe stärken. Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor unbeherrschbaren Lebensrisiken und ihre Teilhabe an politischer Gestaltung und Kontrolle: Das sind die zentralen Ziele einer solchen Politik. So hat dies die Grundwertekommission der SPD kürzlich pointiert zusammengefasst.

Dazu müssen wir die Finanzierung für eine schützende Sozialpolitik und für ausreichende öffentliche Güter sicherstellen, gegebenenfalls auch durch Steuererhöhungen für Reiche, um die Mittelschicht zu entlasten. Zugleich brauchen wir Infrastrukturen für weitere demokratische Teilhabemöglichkeiten, die die repräsentative Demokratie durch mehr Inklusion, bessere und überzeugendere politische Lösungen der anstehenden Probleme (Output-Legitimation) und durch umfassendere Partizipation (Input-Legitimation), also eine gerechtere Verteilung politischer Freiheit revitalisieren und weiterentwickeln. Das geht vor allem auf der Ebene der Kommunen. Die Vereinbarkeit neuer demokratiepolitischer Initiativen mit der repräsentativen Demokratie ist dabei unabdingbar, um die politische Gleichheit nicht zu unterminieren.

Schon hier ist in Bezug auf die Weichenstellung in der nächsten Bundestagswahl klar: Konservative und Wirtschaftsliberale teilen diesen Grundbefund nicht. Im Gegenteil, zu den wenigen politisch-programmatischen Punkten, die von ihnen kontinuierlich vorgetragen werden, gehören Steuersenkungen und die Schwächung des Staates. Sozialdemokraten erkennen inzwischen mehrheitlich den Schaden, den diese Politik auch unter Rot-Grün angerichtet hat. Sie müssen die jetzt anstehende Weichenstellung deshalb selbstkritisch, aber zugleich mutig und entschieden verfolgen.

Diese grundlegende Herausforderung gilt auch in Europa und global. Wegen der überall gewachsenen Ungleichheit ist die erforderliche Solidarität allerdings nicht nur dringlicher, sondern zugleich schwieriger geworden. Denn die Politik der Ungleichheit hat eine allgemeine Zunahme an materieller und psychischer Verunsicherung, von Krisenerfahrungen und drohenden Verlusten von Status und Selbstwertgefühl zur Folge. Das hat weltweit eine Kultur des Ressentiments, des aggressiven Nationalismus und der Angst geschürt. Hier liegt einer der wesentlichen Gründe für die Zunahme autoritärer Regime.

Angst und Autoritarismus unterminieren Solidarität. Für die Stärkung demokratischer Politik stehen wir deshalb heute vor höheren Hindernissen als noch vor 40 Jahren. In der Atmosphäre des Ressentiments ist die Versuchung groß, schwierige Themen zu vermeiden. So können Themen wie sozialer Ausgleich – z. B. durch Steuererhöhungen für Multimillionäre – immer zum Skandal aufgebauscht werden. Damit erhöhen sich die Gefahren für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Weichenstellung, zwischen einer mutigen Politik zugunsten von Demokratie, Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt auf der einen Seite und einem »Weiter so!« auf der anderen, das schwierige Themen vermeidet, die Ungleichheit fortsetzt und demokratische Politik weiter unterminiert, ist für unsere Zukunft grundlegend. Das steht als erstes bei der nächsten Bundestagswahl auf dem Spiel.

Zweitens: Bewahrung unseres Planeten durch politischen Perspektivwechsel und demokratische Teilhabe oder technologische Verkürzung des Klimaschutzes. Der Schutz unseres Planeten, unserer Umwelt, des Klimas ist unsere zweite große Herausforderung. Beides gehört untrennbar zusammen: Ohne demokratische Politik und ohne eine gerechte Ausweitung demokratischer Teilhabe wird es keine wirksame und nachhaltige Umweltpolitik geben. Und auf einem zerstörten Planeten gelingt auch keine Demokratie. Das erfordert einen Perspektivwechsel für alle politischen Antworten.

Demokratische Teilhabe macht Umweltpolitik aber auch kompliziert. Die Konflikte, die sie einschließen oder ans Licht bringen kann, wollen viele vermeiden. Klare Vorgaben von oben und/oder neue Technologien sollen alles richten. Das soll politische Auseinandersetzungen und die Notwendigkeit verantwortlicher, potenziell unliebsamer Entscheidungen, die Wählerstimmen kosten können, vermeiden. Aber bürokratische Vorgaben von oben und neue Technologien reichen nicht.

So genügt es bei Weitem nicht, Verbrennungsmotoren durch Elektromotoren zu ersetzen und dabei die Zahl der produzierten Autos in der aktuellen Höhe zu belassen oder gar weiter zu erhöhen, wie sich das den Autofirmen betriebswirtschaftlich nahelegt. Vor dem Hintergrund von Implikationen und Folgerungen für Klima-, Ressourcen- und Artenschutz erkennt man schnell, dass viel mehr Innovation vonnöten ist: neue Mobilitätssysteme, die ihrerseits zu neuen Lebensweisen führen und auch an ihnen anknüpfen können und müssen. Zu Ende gedacht führt dies zu Fragen nach neuen Formen des »guten« gelungenen Lebens.

Solche politischen Erneuerungen müssen für ihre wirksame Umsetzung am Hier und Jetzt anknüpfen und neue Wege finden, die, unterstützt von der Gesellschaft, gut überlegt beschritten werden können. Dabei werden z. B. neue Arbeitsplätze entstehen, statistisch vielleicht mehr als es vorher gab. Aber sie werden womöglich nicht gerade dort geschaffen, wo alte verlorengehen.

Die erforderliche gesellschaftliche Unterstützung für den Wandel belegt nicht nur den Zusammenhang zwischen erfolgreichem Klimaschutz und demokratischer Teilhabe. Sie demonstriert zudem exemplarisch, welche grundlegende Bedeutung der an den Anfang gestellten Stärkung demokratischer Teilhabe heute ganz generell zukommt, um auch alle anderen Herausforderungen auf den verschiedenen Politikfeldern konstruktiv zu beantworten. Für sie alle brauchen wir nicht nur die »summierende« Zustimmung oder Legitimation für die gewählten Berufspolitikerinnen und -politiker in der anschließenden Wahl – wie dies die repräsentative Demokratie theoretisch zu Recht verlangt. Vielmehr sind wir auch während der Legislaturperioden mehr denn je auf die kreative Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger angewiesen, um alle Potenziale für kluge Innovationen auszuschöpfen und um die aktive Identifikation mit ihnen zustande zu bringen.

Ein wirksamer sozial-ökologischer Wandel, der durch breite demokratische Teilhabe gerecht gestaltet wird und viele neue Perspektiven einzieht, steht als zweites auf dem Spiel.

Drittens: Frieden durch Verständigung oder blindes Vertrauen in Rüstung und Abschreckung. Die Weichenstellung für die Entwicklung der Demokratie und für den demokratischen Schutz unseres Planeten setzt sich fort in der Alternative zwischen Friedenspolitik und rein militärischer Sicherheitspolitik – in Deutschland und weltweit.

Wir brauchen militärische (ebenso wie polizeiliche) Sicherheit, wir brauchen die Bundeswehr und die NATO, nicht zuletzt, um ein erneutes Gegeneinander von nationalen Ameen in Europa definitiv auszuschließen. Aber gewaltsame Konflikte haben sehr oft verzweigte gesellschaftliche Ursachen und finden in ihnen einen gefährlichen Nährboden. Ihre Lösung gelingt am besten, wenn man Verständigungsprozesse mithilfe der Zivilgesellschaft in Gang setzt. So kann man gewaltträchtige Spannungen ab- und Vertrauen aufbauen. Nur dann können Militäreinsätze mit quasi polizeilichen Aufgaben zur weiteren Befriedung beitragen. Sonst breiten sich die Brandherde nur immer weiter aus. Militärische Sicherheit muss in eine Friedenspolitik eingebettet sein. Auch die von den Sozialdemokraten unter Willy Brandt und Egon Bahr in den 60er Jahren initiierte Entspannungspolitik hat ja zunächst ganz wesentlich auf »vertrauensbildende Maßnahmen« gesetzt.

Der gerade aufgebrochene Streit um die Anschaffung von bewaffneten Drohnen bringt die Alternative zwischen umfassender Friedenspolitik und bornierter militärischer Sicherheitspolitik zum Ausdruck. Diese dient gerade nicht dem Frieden, auch nicht dem Schutz von Soldaten. Nach der Erfahrung des Drohnenkriegs in Bergkarabach bauen Konservative und Wirtschaftsliberale wieder nur auf Abschreckung und setzen damit erneut eine Rüstungsspirale in Gang, die den Frieden in immer größere Gefahr bringt, zu Lasten der Zivilbevölkerung wie der Soldaten.

Verständigung gelingt nie von heute auf morgen. Aber welcher Konflikt ist in den letzten Jahrzehnten von heute auf morgen militärisch gelöst worden?

Hier liegt die Weichenstellung der Bundestagswahl darin, ob wir den neuen Unsicherheiten nur mit einem höheren Militärbudget, einer fantasielosen Aufrüstung, mit Drohungen und Abschreckung begegnen wollen; oder ob wir militärische Sicherheit in eine durchdachte Friedenspolitik einbetten.

Viertens: Gerechte Migrationspolitik oder Selbstzerstörung durch Missachtung von Menschenrechten und Abschottung. Nachhaltiger Frieden baut auf Gerechtigkeit und zielt auf globale Solidarität. Er braucht das Engagement für Entwicklungszusammenarbeit und gerechte Migrationspolitik. Bei letzterer ist die Debatte vergiftet. Warum?

Völkisch-rassistische Positionen richten sich gegen »Fremde« und propagieren ein biologisch homogenes Volk. Sie lehnen zudem konstruktive Antworten ab, um aus offenen Wunden politische Vorteile saugen zu können. Andere fürchten sich vor »Fremden« und haben Angst, ihnen gegenüber »zu kurz zu kommen«. Wieder andere haben nichts gegen Fremde, fürchten aber, dass Europa und Deutschland von ihnen »überschwemmt« würden, ließe man sie legal ins Land. Wieder andere sind prinzipiell offen, wenn Fremde ihnen Vorteile bringen. Eine letzte Gruppe fühlt Solidarität und will sie aufnehmen, einige von ihnen »grenzenlos«.

Die reale Alternative in der Migrationspolitik besteht zwischen menschenrechtswidriger Abschottung und gerechter transparenter Regelung. Abschottung ist inhuman gegenüber den Migranten und Geflüchteten. Sie gelingt nie. Sie ist aber auch inhuman gegenüber uns selbst. Denn sie treibt uns in einen zerstörerischen moralischen Selbstwiderspruch und schadet uns. Die Geschichte lehrt, dass nur offene, lernfähige Gesellschaften auf neue Herausforderungen, die es immer geben wird, kreativ zu antworten vermögen.

Eine gerechte Lösung baut auf freiwillige Zustimmung, am besten in den aufnehmenden Gemeinden, und auf Gerechtigkeit. Sie geschieht europäisch, bietet Einheimischen und Geflüchteten den gleichen Anreiz finanzieller Unterstützung und trägt zur sozialen Integration bei, in den Kommunen und grenzüberschreitend. Das ist möglich.

Warum ist es so wichtig, auf die oft vergifteten Argumente bei der Migrationsfrage eine befriedende Antwort zu finden? Weil wir unsere eigene demokratische Lebensgrundlage zerstören, wenn wir unsere proklamierten Werte ständig und offensichtlich mit Füßen treten. Diese Lüge zersetzt unsere Gesellschaften durch Misstrauen.

Auf dem Spiel steht hier eine gemeinsame Zukunft, die wir mutig, offen und sicher für alle angehen müssen. Sonst warten auf uns moralische Selbstzerstörung und eine Gesellschaft des Misstrauens und der Feindseligkeit.

Personen und Politikstil

Mit den genannten sozialdemokratischen Inhalten geht es darum, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen. Programme allein schaffen das aber nicht. Unsere weitsichtige Politik braucht dafür mutige Repräsentantinnen und Repräsentanten, die öffentlich argumentieren können und zugleich die Sympathie der Menschen gewinnen; die im Gespräch Alternativen nicht einfach abweisen, sondern davon überzeugen, dass unsere Politik für ein Leben in Gerechtigkeit und Solidarität im Interesse aller ist.

Wir dürfen Inklusion nicht nur fordern, wir müssen sie auch praktizieren, dürfen im politischen Streit also nicht ausgrenzen. Ausgrenzung ängstigt, rührt aus Unsicherheit und fördert sie. Sie schafft Misstrauen und Resignation. Wenn Verschwörungstheorien in unserer Gesellschaft grassieren, zeugt das von Misstrauen in andere und in uns selbst. Inklusion dagegen heißt nicht Blauäugigkeit, schließt argumentativen Streit ein. Sie bietet Lösungen an, über die man diskutieren kann. Wir können unsere guten politischen Ziele nicht erzwingen, wir können nur für sie werben. Allein freiwillige Zustimmung ist nachhaltig. Wenn man Macht nur als Gegenmacht versteht (Max Weber), kommt man nicht weiter. Es geht um die Macht, Menschen in Freiheit zu gemeinsamem Handeln zu bewegen (Hannah Arendt).

Sozialdemokraten bauen auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ohne Freiheit keine Gerechtigkeit und keine Solidarität. Mit überzeugenden, dynamischen und sympathischen Personen, die die Menschen gewinnen, hat die SPD gute Chancen.

Und mit noch mehr Humor!

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben