Die demokratische Idee kommt selten allein. Sie tritt entweder im Schlepptau mit anderen großen Ideen auf oder hat selbst andere große Ideen im Schlepptau. In den einzelnen Ländern ist die demokratische Idee in verschiedenen Epochen unterschiedliche ideologische Koalitionen eingegangen. In Deutschland trat sie Anfang des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit den bürgerlichen Freiheiten auf, zur Jahrhundertwende, als der Kampf für das allgemeine Wahlrecht im Zentrum stand, kam sie gemeinsam mit der sozialen Frage.
In der Wendezeit vor gut 30 Jahren trat die Demokratie im Paket mit Markwirtschaft, Globalisierung und Liberalisierung auf. Als »Twin Trends of Global Freedom« bezeichnete der konservative US-Thinktank CATO-Institut 2004 freien Welthandel und politische Freiheiten. Die soziale Frage, die 100 Jahre zuvor noch die Zwillingsschwester der Demokratie zu sein schien, war nun hingegen für einen Teil behaftet mit Bürokratie, Klientelismus, Paralyse, Parteienherrschaft und Unfreiheit.
Im damaligen optimistischen Umfeld der »dritten Welle der Demokratisierung« (Samuel P. Huntington) entwarf Francis Fukuyama 1992 eine positive liberale Utopie. Eine regelbasierte globale Ordnung solle der protektionistischen politischen Willkür der Nationalstaaten keinen Raum mehr lassen. Ein globaler Weltmarkt also frei von Willkür und Ideologie. Er prägte das berühmte Diktum vom »Ende der Geschichte«, da sich nun alle Staaten in Richtung liberaler Demokratie entwickeln würden. Mittels Weltmarktintegration sollte die Demokratisierung gleich miterfolgen. Und tatsächlich waren die »Zwillinge globaler Freiheit« zur Wendezeit parallel auf dem Vormarsch: Freihandel und Demokratie.
»Demokratisierung begünstigt wirtschaftliche Öffnung.«
Den Schritt vieler Schwellen- und Entwicklungsländer vom Interventionismus zur Weltmarktintegration ab Mitte der 80er Jahre bezeichnet Harvard-Ökonom Dani Rodrik 1994 als »rush to free trade.« Diese Hinwendung zur Exportorientierung mittels Abbaus von Handelsbarrieren fiel in eine Epoche erheblicher Demokratisierung. Während 1975 etwa 30 Staaten ein demokratisches System aufwiesen waren es 2002 schon 120. Ein Zusammenhang der beiden Phänomene ist plausibel. Empirisch belegbar dürfte gemäß einer oft zitierten Studie von Helen Milner and Keiko Kubota aus dem Jahr 2005 demnach sein, dass Demokratisierung wirtschaftliche Öffnung begünstigte. Über die umgekehrte Richtung, nämlich dass die Liberalisierung der Handelsbeziehungen zu mehr Demokratie führe, gab es hingegen nie einen wissenschaftlichen Konsens, wie Martin Hoppe, Ökonom am DIW Berlin, in einer aktuellen Übersicht feststellt.
Vulgär-Globalisierung
Der Zusammenhang der beiden Phänomene hat aber ideologische Akteure dazu verleitet, genau diese nicht belegbare Behauptung ins Zentrum ihrer Argumentation zu stellen. Für eine ganze US-Administration wurde diese »Vulgär-Globalisierung« sogar maßgeblich für die Außenpolitik. Im Jahr 2002, als die Globalisierungseuphorie noch völlig ungebrochen war und das politische Establishment der USA noch fest auf dem Boden des Freihandels stand, formulierte Präsident George W. Bush: »Und dann begründet der Handel natürlich die Gewohnheiten der Freiheit (...) Und die Gewohnheiten der Freiheit beginnen, die Erwartungen an die Demokratie und Forderungen nach besseren demokratischen Institutionen zu wecken. Gesellschaften, die sich für den Handel über ihre Grenzen hinweg öffnen sind auch offener für die Demokratie innerhalb ihrer Grenzen.«
Das CATO-Institut assistierte mit einer vertieften Argumentation: Die zunehmende Handels- und Wirtschaftsintegration fördere unmittelbar die bürgerlichen und politischen Freiheiten, indem sie eine Gesellschaft für neue Technologien, Kommunikation und demokratische Ideen öffne. Die wirtschaftliche Liberalisierung stelle ein Gegengewicht zur Regierungsmacht dar und schaffe Raum für die Zivilgesellschaft. Und durch die Förderung eines schnelleren Wachstums fördere der Handel indirekt die politische Freiheit, indem er eine wirtschaftlich unabhängige und politisch bewusste Mittelschicht schaffe.
In der deutschen Diskussion verkörperte diesen Zugang niemand besser als Gerhard Schröder, der in den Jahren unmittelbar nach seiner Kanzlerschaft in zwei bemerkenswerten Gastkommentaren die zentralen Argumente auf den Punkt brachte. Trotz unbestreitbarer Defizite in Russland, so Schröder 2007, »wurde begonnen Rechtsstaatlichkeit aufzubauen. Das ist nachgerade die Voraussetzung von Demokratie«. Und daraus abgeleitet das langjährige Credo der deutsch-russischen Außenbeziehungen: »Dieser Transformationsprozess wird durch den wirtschaftlichen Austausch zwischen Europa und Russland beschleunigt. Auch deshalb ist der Ansatz von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier richtig, der im Verhältnis zu Russland für einen Wandel durch Verflechtung plädiert«
Trotz steigendem Handelsvolumen mit China blieb die rechtsstaatliche und demokratische Entwicklung der Volksrepublik aus.
Aus »Wandel durch Annäherung«, der politischen Devise der 70er Jahre, machte der Ex-Bundeskanzler die ökonomische Parole »Wandel durch Verflechtung«. Ein Jahr später, 2008, argumentiert Schröder das analoge Muster für China. »Wandel durch Handel« sei »eine Richtung, der wir uns weiterhin verpflichtet fühlen müssen«. Er sah schon vor 15 Jahren erhebliche Fortschritte auf dem Weg Chinas in Richtung einer rechtsstaatlichen und »eines Tages, dessen bin ich mir sicher, auch demokratischen Gesellschaft«. Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und China erreichte 2022 enorme 300 Milliarden Euro. China war im Vorjahr zum siebten Mal hintereinander Deutschlands größter nationaler Handelspartner.Die politische Entwicklung in der Volksrepublik hat jedoch genau den gegenteiligen Verlauf genommen, den Schröder 2008 erwartet hatte.
Modernisierungstheorie
Dass ein auf Privateigentum und Marktwirtschaft aufbauendes Gesellschaftsmodell ohne Demokratie funktionieren kann, ist seit jeher evident. Immerhin ist der Kapitalismus historisch älter als die (moderne) Demokratie und im 20. Jahrhundert gab es etliche kapitalistische Autokratien und Diktaturen – nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Spanien, Portugal oder Griechenland.
Das waren allerdings allesamt ökonomisch gesehen periphere Staaten mit verhältnismäßig geringer Produktivität. Die ökonomisch fortgeschrittenen und innovativen Zentren des Kapitalismus waren beispielsweise zur Zeit des Kalten Krieges allesamt Demokratien – so etwa die 1975 formierten G7-Staaten. Darum blieb die Überzeugung, dass ökonomische und politische Freiheit Hand in Hand gingen, bis in die Nullerjahre und darüber hinaus ein Stützpfeiler westlicher Weltsicht.
Die Sichtweise der Vulgär-Globalisierung besagt lediglich, dass Freihandel zu mehr Demokratie in ökonomisch peripheren Staaten führt. Dies ist wissenschaftlich nicht nachzuweisen. Dass ein gewisser sozioökonomischer Entwicklungsstand beinahe exklusiv in Demokratien anzutreffen ist, ist jedoch eine grundlegendere These, die über viele Jahrzehnte empirisch deutlich wasserdichter belegbar war. Sie greift wesentlich tiefer, weil sie nicht nur die ökonomische Peripherie, sondern auch die kapitalistischen Zentren in die Analyse integriert.
Es handelt sich hierbei, in der Systematik des Soziologen Johannes Berger, um eine modernisierungstheoretische Überzeugung, der gemäß sich die einzelnen Phänomene der Modernisierung – Industrialisierung, Urbanisierung, Bildungsexpansion, Demokratisierung und so weiter – gegenseitig verstärken und zu einem gemeinsamen Ziel konvergieren. Ab Ende der 80er Jahre stand die liberale Modernisierungstheorie wieder hoch im Kurs. Zahlreiche empirische Studien belegten einen positiven Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Entwicklung und Demokratisierung. Unter sozioökonomischer Entwicklung wird nicht das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verstanden, sondern Faktoren, die in den Human Development Index einfließen wie medizinische Basisversorgung, Alphabetisierung oder Bildung.
Der Soziologie Larry Diamond fasste die Erkenntnisse wie folgt zusammen: Erstens, auf Demokratien wirkt sozioökonomische Entwicklung stabilisierend. Zweitens, auf autoritäre Regime wirkt die Absenz von sozioökonomischer Entwicklung destabilisierend. Drittens, wenn ein autoritäres Regime in der Lage ist sozioökonomische Entwicklung zu generieren, dann kommt es zu einem Dilemma. Der Wunsch nach politischer Mitsprache wird steigen, was letztlich zum Ende des autoritären Regimes führt. Dieser Optimismus ist aus seiner Zeit heraus verständlich, aus heutiger Perspektive aber nicht mehr haltbar.
»Der Optimismus, dass gesellschaftliche Liberalität Voraussetzung für Innovationskraft ist, scheint heute deutlich weniger plausibel.«
Es handelte sich dabei um keine schnöden ökonomischen Glaubenssätze, sondern um einen Zeitgeist, eine ganze Kultur. Typisch für diesen Geist war die 2002 von Richard Florida formulierte These, der gemäß die »creative class« und damit wirtschaftliche Innovation umso eher gedeihen können, je liberaler das Umfeld ist. Das Ausmaß der Liberalität ließe sich an den Rechten Homosexueller festmachen – ein Indikator der bis heute als der Gradmesser für politische Freiheit schlechthin gilt. Der Optimismus, dass gesellschaftliche Liberalität Voraussetzung für Innovationskraft ist, scheint heute aber deutlich weniger plausibel.
Zwei fundamentale Schocks der letzten Jahre haben den optimistischen liberalen Geist erschüttert. Zum einen die interne Erschütterung, deren Ausgangspunkt die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 darstellt, die in den meisten westlichen Ländern jedoch keineswegs als so einschneidend empfunden wurde. Erst die darauffolgenden Entwicklungen – Stichworte Brexit und Trump – wurden als Zäsur und Erschütterung liberaler Grundüberzeugungen wahrgenommen. Obwohl die gängigsten volkswirtschaftlichen Indikatoren wie Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit und Inflation in den USA und Großbritannien solide waren, begann die Demokratie augenscheinlich verrückt zu spielen. Ungarn und Polen waren plötzlich keine nachrangigen Exzentriker mehr, sondern Experimentierfelder eines neuen Modells – der illiberalen Demokratie.
»Nach Russland ließen sich westliche Werte nicht mal nebenbei mit westlichem Kapital exportieren.«
Der zweite fundamentale Schock war externer Natur. Mit dem 24. Februar 2022 und dem Überfall auf die Ukraine kollabierte nicht nur die spezifische Außenpolitik gegenüber Russland, sondern auch ein zentraler Baustein liberaler Weltsicht. »Wandel durch Verflechtung« erwies sich als Illusion – westliche Werte ließen sich nicht mal nebenbei mit westlichem Kapital exportieren. Die schrödersche Vulgär-Globalisierung war damit widerlegt. Doch Russlands wirtschaftliche Entwicklung war zu unstet, sein Staatskapitalismus zu zentralisiert und mafiös organisiert, seine Korruption zu endemisch um auch gleich als gescheitertes Modell liberaler Modernisierung zu gelten. Die verschiedenen Phänomene der Modernisierung konnten sich nicht gegenseitig verstärken, weil sie fehlten.
Doch um Russland geht es nur vordergründig. Die neue Sicht auf Russland ist nur der Katalysator dafür, alle Illusionen in Bezug auf China endgültig abzulegen. Dort haben Industrialisierung, Urbanisierung und Bildungsexpansion einen mustergültigen Verlauf genommen – aber ganz ohne Demokratisierung. Hier sitzt der eigentliche Schock.
Die daraus abgeleitete Perspektive ist für alle Demokrat:innen äußert bedrückend: Auch Diktaturen können Kapitalismus. Im schlimmsten Fall könnten in wenigen Jahrzehnten die wichtigsten Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft autoritäre, antiliberale und aggressive Regimes sein. Das ist in China jetzt schon der Fall, aber das Szenario ist auch für die USA, ja selbst für ein nationales Post-EU-Europa nicht vollkommen unplausibel. Eine düstere Welt.
Progressive Strategien
Aus progressiver Perspektive gibt es zwei Ableitungen aus der aktuellen Situation. Erstens, die Rettung der liberalen Demokratie wird neben der Bekämpfung des Klimawandels zur politischen Hauptaufgabe unserer Gegenwart. Beide hängen engstens miteinander zusammen, denn ohne Bekämpfung des Klimawandels werden sich Demokratie und Frieden nicht aufrechterhalten lassen und ohne Demokratie und Frieden wird es keine Bekämpfung des Klimawandels geben.
Zweitens, die Marktliberalen können die Demokratie nicht retten. Seit der Finanzkrise, und verstärkt durch die Pandemie, wurden schon einige liberale Dogmen entsorgt und durch interventionistische Ansätze ersetzt. Nur wird dieser Kurswechsel von der Bevölkerung – nicht zu Unrecht – als Rückzugsgefecht wahrgenommen und schafft kein Vertrauen. Also braucht es einen offenen Bruch mit dem im Kern immer noch intakten marktliberalen Konsens und eine gesamtgesellschaftliche Verschiebung des Mainstreams in Richtung Interventionismus.
Die demokratische Idee wird dahinsiechen, wenn sie länger als Zwilling an die ökonomische Freiheit gekoppelt bleibt. Darum muss die Demokratie für die nächsten paar Jahrzehnte neue Koalitionen eingehen. Die Gesellschaft dürfte dafür längst bereit sein, es fehlt noch das politische Angebot.
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