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© picture alliance / Zoonar | Berit Kessler

Die Utopiefähigkeit (in) der KriseZeit für Realisten und »Macher«?

Im Krisenjahr 2022 scheint in der öffentlichen Debatte die alte Kluft zwischen Utopie und Realität wieder besonders sichtbar geworden zu sein. Insbesondere den Grünen wurden die Kursänderungen in der Frage nach der Legitimität von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, von strategischen Verhandlungen mit autokratischen Staaten sowie Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken als eine Abkehr von allzu idealistischen Weltbildern und ein »Ankommen in der Realpolitik« attestiert.

Diesen Grundimpuls konnte man auch in dem zwischenzeitlich inflationären Gerede von einer »Zeitenwende« vernehmen, in dem über die Forderung nach einer klaren und entschlossenen Antwort auf den russischen Angriffskrieg hinaus eine grundsätzliche Rückkehr zur Realpolitik angeraten wurde: »Wir müssen wieder mehr Pragmatismus und Realismus wagen«, twitterte ein SPD-Mitglied.

Doch nicht erst in der Ukraine- und Energiekrise, auch in der Pandemiebekämpfung scheint die Politik entschlossenes, situatives und realitätsnahes Handeln zu erfordern. In der Krise, so könnte man den Eindruck gewinnen, ist der Pragmatiker, der Realist, der Macher gefragt. Wer umgekehrt an utopischen Idealen und fernen, unerreichbaren Zielen festhält, statt im Hier und Jetzt zu handeln, der scheint fehl am Platze zu sein. Gibt es in Krisenzeiten also keinen Raum und keine Zeit für Utopien? Wie utopiefähig ist die Krise?

Die zwei Seiten der Utopie

Für eine Bestimmung des Verhältnisses von Utopie und Krise lohnt sich zunächst eine Annäherung an die Idee der Utopie selbst. Wenngleich die Spuren utopischen Denkens bis in die Antike zu Platons Politeia zurückreichen, ist es der Humanist und Staatsmann Thomas Morus, der mit seiner im Jahre 1516 erschienenen Schrift Utopia nicht nur eine neue Gattung politischen Denkens und politischer Literatur sondern auch den Prototypus für nachfolgende Utopien begründet hat.

Der Name Utopia ist eine von Morus erfundene Wortbildung aus dem griechischen ou (nicht) und topos (Ort) und bezeichnet demzufolge einen Nicht-Ort, ein Nirgendwo. Von diesem Nicht-Ort, der imaginierten Insel der Utopier, erzählt jedoch erst das zweite Buch des morusschen Werkes. Voran- und gegenübergestellt ist diesem das weniger bekannte erste Buch, das eine radikale Kritik an den damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in England und Europa enthält.

Das erste Buch beginnt mit dem Bericht von einem Gespräch des fiktiven »Morus« mit dem weitgereisten Seefahrer Raphael Hythlodeus in Antwerpen, in dem sie über das massive Kriminalitätsproblem und das verschärfte Strafregime in England (für Diebstahl droht die Todesstrafe) beraten. Anstelle fürchterlich harte Strafen für Diebe festzulegen, sollte man Hythlodeus zufolge viel eher dafür sorgen, dass jeder das Lebensnotwendige zur Verfügung hat, um nicht unter den harten Zwang zu geraten, »erst stehlen und danach sterben zu müssen«.

Dagegen wendet ein dritter Gesprächsteilnehmer ein, dass durch genügend Handwerk und Ackerbau doch jeder seinen Lebensunterhalt bestreiten könne, aber die Leute »wollten wohl lieber Gauner sein«. Hier setzt Morus' schonungslose Analyse der Ursachen für das Elend und die Armut der europäischen Gesellschaften an, für die er die kriegerische Großmachtpolitik der europäischen Herrscherhäuser, das Eindringen kapitalistischer Prinzipien in die Sphäre der landwirtschaftlichen Produktion sowie den luxuriösen und verschwenderischen Lebensstil von Adel und Kirche anführt.

Auf diese sozialen und politischen Missstände in England ist der Blick von der fernen Insel Utopia im zweiten Buch der »Utopia« gerichtet. Die Gesellschaftsordnung Utopias stellt sich als eine grundsätzliche Alternative zu der zeitgenössischen Wirklichkeit dar. Die Utopier sind, dem Reisebericht von Hythlodeus zufolge, ein glückliches Volk, das ohne Privateigentum und in gegenseitiger Fürsorge zusammenlebt. Es gibt weder Arme noch Bettler auf Utopia und durch die Arbeitspflicht für alle Inselbewohner ist es möglich, die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden zu reduzieren. Der Gewinn an Freizeit wird für wissenschaftliche Studien, öffentliche Vorlesungen und Gespräche sowie für Musik und Spiele genutzt.

Die Lebensbereiche der Utopier unterstehen jedoch auch einer strengen politischen und sozialen Kontrolle: Der Tagesablauf ist strikt reglementiert; die Privatsphäre und Bewegungsfreiheit der Utopier sind eingeschränkt und es besteht die Pflicht einer gemeinsamen Kleiderordnung. Die Utopier haben ein im Wohle der Gemeinschaft agierendes Staatsoberhaupt, das in geheimer Abstimmung gewählt wird. Sie führen keine Angriffskriege und wo es zum Kampf kommt, versuchen die Utopier nicht mit bloß körperlicher Kraft, sondern mit den Mitteln des Verstandes den Gegner zu besiegen.

Die antithetische Gegenüberstellung der Kritik dessen, was ist und des Entwurfs dessen, was sein soll ist ein Kerncharakteristikum politischer Utopien. Die Utopien der Neuzeit von Morus, Campanella, Andreae, Bacon und Winstanley wie auch die Utopien der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert sind unlösbar mit der Sozialkritik ihrer Zeit verbunden.

Auf die miserablen Verhältnisse in Europa antworteten sie mit eindrucksvollen sozialen Forderungen – von einem vier bis sechs Stunden umfassenden Arbeitstag, der Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit, humanen Arbeitsbedingungen bis hin zu einem fortschrittlichen Bildungssystem und einer unentgeltlichen Kranken- und Altersversorgung. Doch auch die antiindividualistische Stoßrichtung des utopischen Gegenentwurfs und die auf dem Gemeineigentum basierende ökonomische Ordnung sind klassische Motive neuzeitlicher und moderner Utopien.

In Thomas Morus' Utopia als das Paradigma politischer Utopien wird der Doppelcharakter der Utopie besonders deutlich. Der eigentliche Entwurf einer besseren Gesellschaft beginnt erst nach der Krisendiagnose des Ist-Zustandes – beide Momente sind aber durch die Reise von der »Alten« in die »Neue Welt« untrennbar miteinander verbunden. Mit dem Wechsel der Utopie von dem Raum in die Zeit, der sich Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten lässt, radikalisiert sich der Geltungsanspruch der politischen Utopie. Sie erhebt nun mehr den Anspruch, das in die Zukunft projizierte Ideal auch tatsächlich verwirklichen zu können.

Utopiefähigkeit der Krise – Krisenfähigkeit der Utopie

Dass Utopien in scharfer Opposition zu den gegebenen Verhältnissen stehen, ist bereits ein erstes Indiz für die Krisenaffinität von Utopien. Die Kritik dessen, was ist, enthält eine erfahrungsgesättigte Analyse und Reflexion des Utopisten von den krisenhaften Verhältnissen seiner Zeit. Andersherum gibt auch die Darstellung dessen, was sein soll, Aufschluss über den Zustand der Gesellschaft, denn aus den Wünschen und Hoffnungen eines Menschen lassen sich Rückschlüsse auf dessen tatsächliche Lebenslage ziehen.

In der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Debatte über die Utopie gilt es zudem als Allgemeinplatz, dass Krisenzeiten tendenziell gute Zeiten für politische Utopien sind – die Zeit der Utopie, so heißt es, ist die Krise. Denn es sind vor allem Zeiten gesellschaftlicher Not, denen die Sehnsucht nach einem besseren Ort beziehungsweise die Hoffnung auf ein besseres Morgen entspringt. Zudem ist in Zeiten des Umbruchs, der Unsicherheit und der Ungewissheit der gesellschaftliche Bedarf nach Orientierung und Sinnstiftung besonders hoch.

Politische und literarische Narrationen übernehmen in diesen Zeiten eine integrative Funktion: Dem Kulturwissenschaftler Albrecht Koschorke zufolge können Erzählungen Ängste beschwichtigen sowie Sinn und Orientierung in eine aus den Fugen geratene Welt tragen. Die Utopiefähigkeit in der Krise stellt sich somit in mehreren Dimensionen dar: Erstens gelten Krisenzeiten als Hochzeiten für die gesellschaftliche Produktion und Nachfrage positiver Zukunftsentwürfe. Zweitens beinhalten politische Utopien selbst eine pointierte Diagnose der Krise ihrer Zeit. Und drittens haben Utopien das therapeutische Potenzial, Krisen zu kompensieren und zur (Re-)Stabilisierung der politischen Ordnung beizutragen.

Mit Blick auf die therapeutisch-integrative Funktion politischer Erzählungen könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass Utopien vor allem ein konservatives Moment zukomme, das darin besteht, Sinndefizite aufzufangen, über Enttäuschungserfahrungen hinwegzutrösten und gesellschaftliche Sorgen und Ängste zu betäuben. Doch dies entspräche Albrecht Koschorke zufolge nur einer »halbierten Bestimmung« der Funktionen politischer Narrationen. Zur Ambivalenz von Erzählungen gehört, dass diese nicht nur Orientierung und Sinn, sondern im Gegenteil auch Verwirrung, Desorientierung und Unordnung stiften können.

Der konservativ anmutenden Funktion der Angstbewältigung und Enttäuschungsverarbeitung wird hierbei die progressive Kraft politischer Narrationen entgegengestellt, hegemoniale Deutungsmuster und wirkmächtige Sinnstrukturen infrage zu stellen, um auf politische Veränderung zu drängen. Das Verhältnis von Utopie und Krise lässt sich also nicht nur von der Krise her sondern auch von der Utopie her denken.

Die Krisenfähigkeit der Utopie besteht dann darin, dass Utopien nicht bloß aus Krisenzeiten hervorgehen, sondern selbst zum Krisenauslöser avancieren können. In dieser Hinsicht verbindet sich die kritische Funktion politischer Utopien mit ihrem weltverändernden Potenzial. In ihrem vehementen Protest gegen die Legitimationserzählungen des Status quo können sich politische Utopien zu wirkmächtigen Gegenerzählungen formieren, die sedimentierte und verinnerlichte Denk- und Verhaltensmuster irritieren, zum Umdenken und Andershandeln motivieren und damit zur Destabilisierung der politischen Ordnung beitragen.

Die U-topie enthält bereits sprachlich diese Deutungsmöglichkeiten des Protests, der Irritation und der Antizipation des Anderen: Das »Nicht« im »Nicht-Ort« fungiert im Sinne des »Nein-Sagens« als kritischer Einspruch gegen die bestehenden Verhältnisse. Im Sinne eines »Nicht-Alles« verweist es gleichzeitig auf die stets vorhandenen alternativen Möglichkeiten politischer Ordnung; und schließlich umfasst das »Nicht« der Utopie die »Antizipation des Noch-Nicht-Seienden« (Ernst Bloch). Utopien markieren die Lücke zwischen Sein und Sollen – und schärfen damit nicht nur das Bewusstsein für ungerechte Verhältnisse, sondern auch dafür, dass es immer auch anders sein könnte.

Die Fähigkeit, utopisch zu denken

Das Bewusstsein dafür, dass es immer auch anders sein könnte und die vorgefundene Welt nicht die einzig mögliche sein muss, stellt darauf ab, dass die derzeitige Einrichtung der politischen und sozialen Ordnung menschengemacht und damit kontingent, also veränderbar ist. Ein solches Kontingenzbewusstsein ließe sich daher als eine »utopische Grundfähigkeit« des Menschen auszeichnen.

In dieser Wendung der Frage nach der Utopiefähigkeit der Krise wird Utopiefähigkeit wortwörtlich als eine Fähigkeit ernst genommen, die im Menschen zwar angelegt ist, die aber nicht einfach vorauszusetzen ist. Denn Fähigkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst einmal erlernt und eingeübt, zu ihrem Erhalt jedoch darüber hinaus auch regelmäßig praktiziert werden müssen. Schult man sie nicht, können Fähigkeiten auch wieder verlernt werden oder in Vergessenheit geraten.

Die Utopiefähigkeit kann dann selbst in die Krise geraten, wenn eine Gesellschaft verlernt, utopisch zu denken. In dieser Hinsicht wird die Utopie zum Widerpart der Ideologie. Dem Soziologen Karl Mannheim zufolge überschreitet das utopische Bewusstsein die Wirklichkeit und drängt auf revolutionäre Veränderung, wohingegen das ideologische Bewusstsein zwar ebenfalls die Wirklichkeit transzendiere, aber nur, um sie zu bewahren und zu verteidigen. Heute muss sich das utopische Bewusstsein insbesondere gegen eine neoliberale Ideologie der Alternativlosigkeit sowie das »realistische« Diktum, die Welt sei nun einmal so, wie sie ist, behaupten.

Politische Utopien zeigen dagegen, dass zur Welt, wie sie ist, auch gehört, dass Menschen in kritische Distanz zu den gegebenen Verhältnissen treten und sich eine Vorstellung davon machen können, wie es anders sein könnte. In Zeiten, in denen die alte Kluft zwischen Realität und Utopie wieder besonders groß erscheint und utopische Entwürfe vor allem mit Weltfremdheit und Realitätsferne assoziiert werden, sei an den realistischen Gehalt von Utopien wie in Morus' Utopia erinnert: Die Utopie ist zunächst durch die Kritik am Status quo in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen verankert. Utopist*innen sind immer auch Realist*innen ihrer Zeit. Darüber hinaus enthalten Utopien in der Konkretheit der Schilderung des utopischen Gegenentwurfs sowie in ihrer innerweltlichen Verankerung einen beträchtlichen Realitätsgehalt.

Das unterscheidet Utopien von jenseitigen Paradiesvorstellungen, Märchen oder »bloßen Träumereien«. Und schließlich zeigt sich der realistische Gehalt der Utopie in »realisierten Utopien« – in Errungenschaften, die damals als »utopisch«, heute dagegen als gesetzt und unverhandelbar gelten. Dies verweist freilich wiederum auf die Kontingenz und Veränderlichkeit sozialer und politischer Wirklichkeit.

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