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© picture alliance / imageBROKER | Georg Stelzner

Als der Siegeszug der Uhr das Leben veränderte Zeit im Wandel der Zeiten

Manchmal ist diese Frage Gegenstand einer bewussten Entscheidung. Zum Beispiel als Japan beschloss, zu einer modernen Gesellschaft zu werden.

Wir schreiben das Jahr 1873 und sind in Tokio. Auch hier schreibt man, noch etwas zaghaft zwar, aber doch fest entschlossen, das Jahr 1873. Das war neu. Bis dahin tat man das in Japan nicht, denn 1873 AD war ja das Jahr des Herren, und dieser Herr war nicht Japans Herr. Der Herr der Zeit war immer der Tenno, der dafür das Amt für Astronomie und Astrologie unterhielt. Wer Herr über die Zeit ist, hat das Sagen in praktisch allen Dingen. Das lässt man sich nicht so ohne Weiteres nehmen.

Wie kam es dazu? Von der christlichen Zeitrechnung erfuhren Japaner erstmals im 16. Jahrhundert (unserer Zeit) von weltreisenden Missionaren, in ihrem Gepäck als Gastgeschenk, um dem Wort Gottes Nachdruck zu verleihen, die erste mechanische Uhr zusammen mit dem ersten Gewehr. Beide Geräte teilen wichtige Eigenschaften. Es handelt sich um Präzisionsinstrumente der Macht, die die Welt verändert haben, wie nur wenige andere Erfindungen: der Donner der Kanonen und das Ticken der Uhr.

Heute wird die Uhrenindustrie großenteils von japanischen Firmen beherrscht, die Chronometer für Wissenschaft, Militär und Sport, sowie Armbanduhren für den Alltag herstellen. Das japanische Interesse an dieser Feinmechanik reicht bis in die Zeit des ersten Kontakts mit Europäern zurück. Die Mechanismen der Gastgeschenke der Missionare und Händler untersuchten sie akribisch, um davon möglicherweise etwas zu lernen. Unnütz war die Uhr zwar, denn in einer Agrargesellschaft lebt man nicht nach der Uhr. Was sollte man also mit diesem Wunderwerk der Technik?

Die Antwort, die man auf diese Frage fand, führte zu einem der merkwürdigsten Objekte der Technikgeschichte, der Wadokei oder »japanischen Uhr«. Zunächst war sie ein Zierstück, das sich nur Feudalherren leisten konnten. Aber sie sollte auch eine Funktion haben, die der Zeitmessung beziehungsweise der Zeiteinteilung. Eine solche hatte man auch im vormodernen Japan. Der Tag war in zwölf koku oder Stunden unterteilt, sechs am Tage und sechs in der Nacht. Hier von Stunden zu sprechen, ist freilich irreführend, denn die koku war in ihrer Dauer variabel. Sie war keine willkürliche Einheit, sondern Teil des jahreszeitlichen Rhythmus, der das Leben bestimmte.

Nur zweimal im Jahr waren die Tagstunden und die Nachtstunden gleich lang, nämlich am 21. März und am 22. September, den beiden sogenannten Tag-und-Nacht-Gleichen, die noch heute in Japan Feiertage sind. Im Sommerhalbjahr, wenn es lange hell ist, sind die Tagstunden lang, im Winter, wenn es lange dunkel ist, die Nachtstunden.

Die zwölf koku entsprachen den zwölf Tierkreiszeichen des traditionellen Kalenders. Die ließen sich mühelos auf einem Zifferblatt abbilden. Ihre variable Länge war jedoch eine Herausforderung für die mechanische Uhr der Europäer, denn die zeigte, wenn sie gut war, in ihrer unendlichen Langeweile, eine Stunde heute immer genauso lang an wie gestern und morgen, gleichviel, ob es Tag oder Nacht war. Ein solches Gerät war offensichtlich unbrauchbar, würde es doch nur zweimal im Jahr richtig gehen.

Aber so leicht geben japanische Bastler nicht auf. Konstruktionszeichnungen lassen die Lösung des Problems deutlich erkennen. Die japanische Uhr hat zwei Unruhen, eine für tags und eine für nachts. Im Idealfall würde die Uhr im Morgengrauen und bei Einbruch der Dunkelheit automatisch von der einen auf die andere umschalten, ein Roboter avant la lettre. Die variable Stunde, deren Länge sich mit der Jahreszeit ändert, konterkariert freilich den eigentlichen Zweck der mechanischen Uhr, jedenfalls aus Sicht derer, die es gewohnt sind, nach der Uhrzeit zu leben.

Die Wadokei verkörpert den krampfhaften Versuch, Unvereinbares miteinander in Einklang zu bringen und Gewohnheiten der vormodernen Lebensführung in die Moderne hinüberzuretten. Die Ereigniszeit begleitet das stark von den Jahreszeiten geprägte Leben agrarischer Gesellschaften. Man steht auf, wenn es hell wird und erntet das Getreide, wenn es reif ist. Die Uhrzeit wird erst mit der Synchronisierung des Lebens in der Industriegesellschaft relevant. Der Ereigniszeit in der Moderne einen Platz zu erhalten, war jedoch ein vergebliches Unterfangen, wie die Menschen schnell merkten, als das Jahr des Herren in Japan dann doch Einzug hielt, im 6. Jahr der Meiji-Ära, eben 1873.

Ein modernes Zeitregime

Einer, der genau verstand, was die Stunde geschlagen hatte und dass die Kalenderreform mehr als nur symbolische Bedeutung hatte, war Fukuzawa Yukichi. Noch heute als einer der wichtigsten Aufklärer verehrt, ziert sein Konterfei sehr passend die 10.000-Yen-Note. Passend, weil er begriff, dass Modernisierung bedeutete, alles zu kommerzialisieren, auch und insbesondere die Zeit. Er erklärte seinen Landsleuten, wie man die neue Uhr lesen musste. Die kleine Broschüre, mit der er das tat, wurde zum Bestseller.

Andere folgten Fukuzawas Beispiel, und bald hatte jeder irgendein Heftchen, das das neue Zeitregime erklärte. Da in Japan die Bereitschaft zu lernen ebenso groß ist wie die, sich in Unvermeidliches zu fügen, setzte sich das neue Zeitregime schnell durch, obschon die Erinnerung an das alte, hergebrachte lebendig gehalten wurde. Im alltäglichen Leben machte es sich bemerkbar, indem immer mehr Menschen ihr Leben dem neuen Takt anpassten und schon bald jeder Haushalt eine Uhr hatte.

Als dann im Jahre Meiji 22, beziehungsweise 1889 die kaiserliche Verfassung verkündet wurde, war das neue Zeitregime fest etabliert. Bei diesem feierlichen Anlass wird der Meiji-Tenno, der dem Volk die Verfassung »schenkte«, im Thronsaal nur überragt von einer europäischen Standuhr.

Die Nähe der Uhr zur Schusswaffe kam dann auch bald zum Tragen, als die erste in Japan hergestellte Taschenuhr im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 eingesetzt wurde, um Angriffe zu synchronisieren und dann folgerichtig zur Tapferkeitsauszeichnung der Kaiserlichen Armee avancierte.

Hersteller war die Firma Seiko, deren Name »Feinheit« oder »Erfolg« bedeuten kann. Ihr Gründer war Hattori Kintarō, der Goldjunge – so sein Name wörtlich. »Leben ist Arbeit« war die Maxime dieses Gründervaters, aus dessen Ein-Mann-Betrieb eine Weltmarke wurde, die heute jeder kennt und deren Haupthaus mit seinem Uhrturm in Ginza ein Wahrzeichen Tokios ist.

Der Übergang vom vormodernen zum modernen Zeitregime wurde sehr schnell vollzogen, Zeitdisziplin zu einer der hervorstechenden Tugenden Japans. Jedes Kinderzimmer wurde mit einer Uhr bestückt, damit der künstliche Rhythmus zur zweiten Natur wurde. Just in time wurde nach der Erfindung des Fließbands zu einer der wichtigsten Neuerungen der industriellen Produktionsweise. Und die Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel machte alle anderen Industrieländer neidisch, insbesondere Deutschland, wo es auch einmal hieß, »pünktlich wie die Eisenbahn«.

In Japan gilt das uneingeschränkt. Wer sein Zuspätkommen am Arbeitsplatz oder in der Schule mit einer Verspätung des Zuges entschuldigen will, ist unglaubwürdig, da jeder weiß, dass sich Verspätungen aufs Jahr gerechnet in wenigen Minuten bemessen. Die Verkehrsbetriebe stellen deshalb, wenn es denn tatsächlich einmal zu einer Verspätung kommt, Verspätungszertifikate aus, die den Passagieren am Ausgang überreicht werden.

Beschleunigung und Tradition

Man hat keine Zeit zu verlieren. Tokio ist heute die schnelllebigste Stadt der Welt. Danach befragt, was für sie die wichtigste japanische Erfindung des 20. Jahrhunderts war, antwortete eine Mehrheit der Tokioter: Cupnoodles, die Instantnudeln, die in drei Minuten zubereitet und in fünf verzehrt sind. Nicht überraschend ist es da, dass dieser Erfindung ein eigenes Museum gewidmet ist. Es steht, wenn wir an die Bedeutung dieser Stadt für die Modernisierung Japans denken, durchaus passend in Yokohama.

Ein Zeitregime zu ändern, ist schwierig, fast so schwierig wie ein Sprachregime und ein religiöses Regime, denn wie jene ist es nicht nur mit der Kultur verbunden, sondern ein zentraler Bestandteil derselben. Es ist kein Zufall, dass in Japan, wo der Gregorianische Kalender und die darauf beruhende Zeitmessung relativ jung sind, wiederholt Versuche unternommen wurden, das Zeitregime zu reformieren, denn das sexagesimale System ist zweifellos ein Anachronismus. Aber weder die metrische Uhr noch die Uhr für den 28-Stunden-Tag der 6-Tage-Woche setzte sich durch. Zu eingeschliffen und international verankert sind die sexagesimale Zeitrechnung und die Sieben-Tage-Woche. Also hält man einstweilen auch in Japan daran fest.

Naturgegeben ist das nicht. Die Wadokei, die japanische Uhr, ist auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet, aber die Sehnsucht nach der guten alten Zeit ist noch immer augenfällig. Nach einem Sechstagezyklus aus vormoderner Zeit bestimmen die meisten Japanerinnen und Japaner den Tag ihrer Hochzeit. Die meisten Tageszeitungen schreiben das moderne und das traditionelle Datum auf ihre erste Seite. Auf vielen formellen Einladungen steht die Reiwa, die Jahreszahl der gegenwärtigen Ära. Bei traditionellen Feiertagen nennt man gern die Jahreszahl der traditionellen Zählung, obwohl das rein dekorativen Charakter hat, denn die Tage sind dem Gregorianischen Kalender, oder sagen wir: dem Kalender der internationalen Wertpapierbörsen angepasst.

Die Zeiten ändern sich. Heute erleben die Japaner mehr Festtage als früher, doppelt so viele wie in der Meiji-Zeit; schließlich hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre Lebenszeit verdoppelt. Haben sie deshalb mehr Zeit? Wer würde das im Zeitalter der Tyrannei des Augenblicks zu behaupten wagen? Diese und ähnliche Fragen zu beantworten, ist Aufgabe der Ethno-Chronologie, eines Wissenschaftszweigs, der sich mit Fragen der Zeit in verschiedenen Epochen, Gesellschaften und Kulturen beschäftigt: Wieviel Zeit verbringen die Menschen am Arbeitsplatz, im Park, in der Schule, in der U-Bahn, im Theater, im Gefängnis, am Esstisch, im Gespräch mit Freunden, im Gebet, im Bett, an ihr Smartphone gefesselt? Wer all die Antworten kennt, weiß viel über eine Gesellschaft.

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