Vorhang zu – und alle Fragen offen? Beim Theaterkritiker Marcel Reich-Ranicki war das einst ein Lieblingssatz. Nach dem Wahltag des 9. Juni allerdings passte er wie selten für die Politik. Nur eine Europawahl, drum herum drapiert noch ein paar kleine Kommunalwahlen, bei denen es um Großes nicht geht? Ganz falsch. Es ging um etwas anderes, für viele jedenfalls und unabhängig von mediengespiegelter Europaroutine: Der Rechtsruck ist nun da, wahrscheinlich sogar ein Stück Zeitenwende im Parteiensystem. Es kam wie ein Crash in Zeitlupe, schier unbeeinflussbar durch Tageshektik. Im medialen Windschatten neun Kommunalwahlen, durch die sich die politische Kultur an der Basis mehr verändert hat als durch das gesamte europäische Votum.
Abstimmungsverhalten der Jungen
Geradezu augenöffnend ist das Abstimmungsverhalten der erstmals wahlberechtigten 16-Jährigen in Deutschland. Die klassische Sehnsucht der Jungen nach klaren Botschaften führt dazu, dass viele das Gefühl haben, die wahrhaft relevante gesellschaftliche Scheidelinie verlaufe zwischen rechten und linksgrünen Aktivisten. Das Ergebnis: Selbst bei den jungen Männern wurde die AfD im Osten zur stärksten Kraft, quer durch die Generationen sowieso. Und das sozusagen im Schlafwagen, von ungewöhnlicher großer gesellschaftlicher Aufgewühltheit war ja vorher wenig zu sehen. Nur der allgemeine Missmut war mit Händen zu greifen, ohne dass nennenswert jemand dagegenhielt. Die billige Behauptung, zumal der Jungen, ständig überfordert zu werden. Das Gerede von böser Zukunftsangst in einem Land, dem es vergleichsweise immer noch blendend geht.
Die sowieso schon fahle Ausstrahlung der Mitte-Parteien wirkte mit der medialen Konzentration auf pure Europarhetorik – bei gleichzeitig keinem einzigen wirklich durchdringenden echten Europathema – noch einmal unattraktiver. In den Vorwahlwochen war hinsichtlich Europas realen Politikfragen das Desinteresse unübersehbar. Selbst die beschämenden Winkelzüge der konservativen EVP, deren Spitzenkandidatin von der Leyen plötzlich nicht mehr viel vom eigenen Green Deal wissen wollte, dafür aber halbseidene Avancen in Richtung rechtes Lager machte, sind nicht wirklich breit wahrgenommen worden.
»Sehr bewusste innenpolitische Zeichensetzung nach rechts, Frust über die Selbstblockaden der Berliner Politik und bloße Eventwahl.«
So war es im Ergebnis eine merkwürdige Mischung aus sehr bewusster innenpolitischer Zeichensetzung nach rechts, Frust über die Selbstblockaden der Berliner Politik und bloßer Eventwahl. Rechtsruck? Der kam europaweit mit Ansage. Die deutsche Stimmung darf insofern nicht nur national interpretiert werden, da ist fast schon weltweit etwas in fataler Bewegung. Zusätzlich die Berliner Ampel? Sie ist unveränderbar unten durch beim Staatsvolk, das wissen wir seit Monaten. Und den horrenden Anteil derer, speziell bei den Jungen, die Kleinstparteien ohne jede Aussicht auf politische Wirkung wählten, kann man wahrlich erschütternd nennen. Nicht ganz zuletzt hat es damit zu tun, dass die politische Bildung an den Schulen sich längst an Machtkonstellations- und Führungsthemen nicht mehr herantraut und lieber so tut, als gehe es bei Wahlen alleine um die zurechtgestylte Parteiprogrammatik. Die Bundeszentrale für politische Bildung mit ihrem fatalen Wahl-O-Mat vorneweg.
Dass im Ergebnis nun viele darüber zetern, Politik sei nochmal schwieriger geworden, war zu erwarten. Im parlamentarischen Alltag in Brüssel, Straßburg und Berlin wird das so sein, wenn auch in der EU der Zwang zum ganz großen Kompromiss der demokratischen Kräfte schon seit Jahrzehnten besteht, um überhaupt etwas zu bewegen. Aber das wird viel zu wenig positiv als Demokratiepraxis gewürdigt, ist eher eine Randfrage im Vergleich zu dem tiefgehenden politischen Kulturwandel, den die starke Rechte nun in viele deutsche Kommunalparlamente mitbringt – inklusive genau des Effektes, den in Europa viele immer nur fatalistisch beklagen: dass Gestaltungsmehrheiten nur möglich sind, wo die Demokratinnen und Demokraten in sehr großen, kompromisshaften Bündnissen kooperieren.
»Je weiter weg politische Vorgaben, Gesetze oder Verordnungen entstehen, desto massiver ist die allergische Reaktion dagegen.«
Wer nicht völlig betriebsblind ist, muss das Wahlverhalten in seiner Gesamtbotschaft betrachten. Die lautet: Ihr da oben im Parteiensystem erreicht uns nicht. Und wir da unten wollen eigentlich auch gar nicht, dass Ihr uns ins Leben reinregiert. Wobei Letzteres genau der Kern jener neuen Demokratiefrage ist, die immer deutlicher zum Vorschein kommt. Man kann es nebenbei auch auf die Formel bringen: Je weiter weg politische Vorgaben, Gesetze oder Verordnungen entstehen, desto massiver und allgemein unterstützt (im Interesse lokaler Wahlerfolge) ist die allergische Reaktion dagegen.
Zu den drei Dingen, auf die es nach diesen Europa- und Kommunalwahlen ankommt, gehört deshalb erstens ein ernsthafteres Aufgreifen dieser Demokratiefrage. Da reichen nicht die Lehrbuchweisheiten über die Funktionsmechanismen der politischen Gremien und über die Kompetenzregelung in der Verfassung. Zu beobachten ist, dass ganz rechts wie teilweise auch ganz links zunehmend mit Notwehrargumenten hantiert wird – nach dem Prinzip: Wo der Staat mich stört oder wo er versagt, muss ich seine Regeln infrage stellen. Begleitet – im eigenen Milieu erfolgreich – von einer ziemlich dreisten Gleichgültigkeit gegenüber den rechtsstaatlichen Regeln. Bei Donald Trump ist dies auf der Rechten in flagranti immer wieder zu besichtigen. Was die selbsternannte Letzte Generation an Selbstlegitimationsargumenten für die Klimadebatte anbietet, ist teils nicht weit davon entfernt.
Institutionelle Entscheidungsfindung und Lebenswelt
Auch so manche urban-städtische Ignoranz gegenüber der Lebensweise auf dem Land (nicht nur hinsichtlich des Autoverkehrs) wäre zu hinterfragen, genauso wie manche Aktion der ländlich-bäuerlichen Meinungsführer wegen des pauschalen Vorwurfs der Überregulierung. Wohin man blickt: Schwierig zustande gekommene, in vielem kompromisshafte politische Vorgaben werden von wachsenden Teilen der Gesellschaft pauschal abgelehnt. Woraus die Frage erwächst, ob politische Mehrheitsbildung in der repräsentativen Demokratie im Laufe der komplexen institutionellen Entscheidungsfindung am Ende lebensweltlich nicht mehr vermittelbar ist. Den einen geht das Ergebnis zu weit, den anderen nicht weit genug – und alle sind sie pauschal dagegen.
»Der demokratische Prozess selbst muss viel mehr als bisher rückgekoppelt sein.«
Was daraus folgt, zumal aus europäischer Perspektive? Der demokratische Prozess selbst muss viel mehr als bisher rückgekoppelt sein. Das ist nicht nur eine Bringschuld derer in Brüssel und Berlin, es ist auch eine Holschuld der politischen Meinungsträger an der Basis. Viel zu sehr leben sie in ihren kleinen lokalen Alltagskästchen – und noch in der alten Vorstellung, dass Entscheidungsfindung oben nun mal in den dafür zuständigen Gremien stattfindet und gute Kommunikation der Ergebnisse hinterher beginnt. Das ist steinaltes Denken geworden. Denn die Bindeglieder gibt es nicht mehr.
Und, bitte nicht länger schönreden! Das hat seine inhaltliche Seite: Menschen bestehen darauf, frei zu sein in ihren Lebensentscheidungen. Ihnen Vorschriften gegen ihren politisch/kulturellen Willen zu machen, und sei es in bester Absicht (siehe Klimaschutz), wird demokratisch immer heikler. Ja, diese Erfahrung schränkt kurzfristige politische Handlungsräume zusätzlich ein. Aber nur wenn sie berücksichtigt wird, bewegt sich wenigstens langfristig etwas. Nicht durch unrealistische, von Brüssel oder Berlin aus gesetzte »Ziele«. Ein Großteil derer, die sich den Rechtspopulisten zuwenden, empfindet dabei subjektiv so etwas wie persönliche Entscheidungsfreiheit bis hin zum Freiheitsgefühl, zumal die ganz Jungen.
Wenn es gegenüber solchen Leuten nicht gelingt, sie mit Argumenten und guten Vorbildern wieder in die demokratische Debatte einzubeziehen, wird die ungute Polarisierung noch schärfer werden und das politische System noch handlungsunfähiger. Es ist dies eine im weiten Sinne neue kulturelle Integrationsaufgabe, neben aller berechtigten Brandmauerdebatte. Was der Wahlsonntag im Juni zunächst nur bitter attestierte: Die Frontstellung hat sich so verfestigt, dass sich verschiedene Welten gegenüberzustehen scheinen. Und sich nur in der mühsamen Tagespolitik nun herausfiltern muss, wo bei allen diametralen Gegensätzen doch noch demokratischer Grundkonsens und Regeltreue die Leute ein wenig miteinander verbinden. Da wird sich dann auch das jetzt so starke neue rechte Lager hoffentlich immer wieder spalten. Es von außen für homogen zu erklären und abzuschreiben, ist ein großer Fehler.
Es geht hier letztlich darum, ob das freie europäische Demokratie- und Lebensmodell, das in der weltweiten Herausforderung steht, nach innen Bestand hat. Dazu muss zweitens die Art, wie wir miteinander kommunizieren oder nicht-kommunizieren, viel direkter zum Thema gemacht werden. Das gilt für den Stil wie für die mediale Basis. Insbesondere seit dem 7. Oktober 2023, dem brutalen Hamas-Angriff auf Israel, ist (ein Hochschul- und Großstadtthema) der Abbruch der Kommunikationsfähigkeit zum Thema Nahost mit Händen zu greifen. Bedrohungsgefühle überwiegen auf beiden Seiten, radikale Zuspitzung oder aber betretenes Schweigen treten an die Stelle des dringend nötigen Diskurses.
Verlust an Dialogfähigkeit
Es ist dies nur das herausstechendste Beispiel für den generellen Verlust an Dialogfähigkeit in der Gesellschaft. Dieses muss als Kernthema endlich auch explizit in den Mittelpunkt gerückt werden, es ist kein Nebenbei-Problem. Der so wenig spürbare Sachwahlkampf vor der Europawahl hat gezeigt, wie massiv sich das Defizit inzwischen in der Breite aller Themen auswirkt. Am ehesten noch zufällig-aktuelle Fragen (Abschiebepolitik, Hochwasserschutz) waren in Deutschland Auslöser für tagespolitische, mitunter sehr taktische Reflexe. Auch in Frankreich und Großbritannien blieben echte Europathemen hinter der aktuellen Innenpolitik komplett unsichtbar. Die Wahl war dann wieder einmal nicht mehr als ein Nebeneinander nationaler Stimmungsbilder mit alleine diesbezüglicher emotionaler Aufladung.
»Das bloß klagende Schulterzucken, mit dem die Politik bislang zumeist reagiert, ist viel zu wenig.«
Immer deutlicher wird da, dass auch innergesellschaftlich der gemeinsame Kommunikationsraum verschwindet, die für die Demokratie lebenswichtige allgemeine Öffentlichkeit aller ist zerfallen. Die Jungen sind auf ganz anderen Kanälen unterwegs als die Älteren und die Diversität dieser Räume verhindert jeden echten Dialog. Internetplattformen aus den USA und China samt ihrer Algorithmen, die reine Egosichten mit Suchtpotenzial produzieren, prägen zunehmend, was wie und von wem verhandelt und dann auch gewählt wird. Das ist demokratisch völlig inakzeptabel – und deshalb ist das bloß klagende Schulterzucken, mit dem die Politik bislang zumeist reagiert, viel zu wenig. Das so akzeptieren und einfach mitmachen, wie jetzt viele erschreckt fordern? Auch das wäre für sich alleine ein Stück Selbstaufgabe.
Die digitale Medienlandschaft selbst muss endlich zum zentralen Thema der Politik werden – und zwar in Richtung Transparenz und auch Rahmensetzung. Gerade hier ist die EU die Ebene, die alleine zu einer wirkungsvollen Federführung in der Lage wäre. Es gibt dazu in Brüssel erste Ansätze, umstritten bei den Marktliberalen sind selbst die. Aber das muss viel offensiver angepackt werden und es darf kein Randthema für Spezialisten bleiben. Wie wir künftig sicherstellen, dass demokratische Gesellschaften ihre Meinungsbildung überhaupt noch gemeinsam und für alle durchschaubar in der Hand behalten, ist die große Überlebensfrage der offenen Demokratien, die des europäischen Gesellschaftsmodells zumal. Die Horrorzahl dazu: 45 Prozent aller Inhalte im Netz sind heute schon KI-generiert – vor zwei Jahren waren erst zwei Prozent.
Selbstbeschäftigungsroutine der Ampelkoalition
Beide Anknüpfungspunkte, Demokratiefrage und Kommunikationswelt, sind unabdingbar zentrale gedankliche Grundlage, wenn der am 9. Juni verfestigte Trend umgekehrt werden soll. Erst auf dieser Basis macht es Sinn, das dritte entscheidende Thema erfolgreich anzupacken, die Neuformulierung einer progressiven Botschaft als Alternative zum schicksalsergebenen konservativ-rechten Politikangebot. Von einer solchen kraftvollen progressiven Botschaft war (inhaltlich wie personell) vor der Europawahl nirgends etwas zu sehen. Die Selbstbeschäftigungsroutine der Ampelkoalition in Deutschland stand geradezu symbolhaft für dieses Defizit. Das Draufspringen auf eine reflexhafte tagespolitische Abschiebedebatte kurz vor der Europawahl zeigte einschlägig einmal mehr nur Getriebensein statt strategischer Souveränität.
Die progressive Erzählung, wie geht die? Sie müsste mit konkreten Projekten verbunden sein, die klar verständlich und relevant sind. Sie dürfte Mentalitätsunterschiede nicht ausblenden und das Alltagsleben nicht bevormunden. Sie müsste Sicherheit viel weiter buchstabieren als nur über Militär und Polizei. Sie könnte auf dem verbreiteten Gefühl der europäischen Zusammengehörigkeit aufbauen, das gerade unter den Jüngeren noch sehr verbreitet, wenn auch wenig mit Substanz gefüllt ist.
Sie muss sich dann aber ehrlich machen: Im Osten Deutschlands triumphiert jetzt wieder das Gegenteil davon. AfD und die Wagenknechtpartei stehen zusammengezählt bei etwas der Hälfte der Stimmen. Ihr Gemeinsames ist, dass sie (positives Russlandbild, nationale Provinzialität, ewige Benachteiligungserzählung in Abgrenzung vom Westen) in vielfacher Weise an Denkfiguren aus DDR- und Nachwendezeiten anknüpfen, die sie zusätzlich revitalisieren. Das spaltet dauerhaft, Auswirkungen kaum zu überschätzen.
»Die progressive Gegenerzählung kann und muss auch rein lokal oder regional argumentieren.«
Die progressive Gegenerzählung müsste dabei gar nicht immer gleich immer mit Brüssel und Straßburg daherkommen, sie kann und muss auch rein lokal oder regional argumentieren – aber eben nicht im falschen beifallheischenden Gegensatz zu den nationalen und internationalen Ebenen. Sie müsste ganz unten neu anfangen. Nicht verständnislos fragen, wieso die eigenen hehren Inhalte bei vielen Leuten nicht mehr geliebt werden und zu schnell die Nazikeule rausholen, sondern sich dringend fragen, was an deren trotzig-verquerer Antihaltung noch beeinflussbar, noch nicht fest rechts geerdet ist.
Der Rechtsdrall bei Menschen mit kleinen Einkommen zum Beispiel ist dramatisch, die seit Jahrzehnten angewachsene Bindungslosigkeit der Sozialdemokratie in diesem Bereich führt zur zentralen politisch-kulturellen Zukunftsfrage. Endlich anpacken, bitte. Sonst ist auch hier nur noch Blasenbildung, beiderseits.
Und die Gegenerzählung muss Schluss damit machen, dass die »großen« Protagonisten, die Entscheider in Berlin und Brüssel, doch immer wieder als graue Apparatmenschen daherkommen. Nannte man die Fähigkeit dazu früher nicht auch mal Charisma? Verbreitet ist so etwas derzeit jedenfalls nirgendwo. Anhand der fatalen Wahlergebnisse sieht man: Es ist Zeit zur Klarheit in all diesen Punkten. Härter ausgedrückt – ohne diese Klarheit haben die Rechten irgendwann wirklich die Chance zur Mehrheit.
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