Doch die Mitte hält doch noch einigermaßen, während anderswo ganze Systeme kollabieren, langeingesessene Volksparteien verschwinden, Rechtsextremisten in Premierministerämter einziehen, Horrorclowns einstmals respektable Parteien übernehmen. Zwei große Fragen beschäftigen deshalb die politisch-medialen Diskurse und das wissenschaftliche Räsonieren. Frage eins: Wie gefährdet sind die liberalen Demokratien? Frage zwei: Was ist eigentlich mit unseren Gesellschaften los, wo kommt der Verdruss her und die Sehnsucht, das etablierte System in Trümmer zu legen?
Yascha Monk, der polnisch-deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler schrieb in seinem Buch Der Zerfall der Demokratie schon vor einigen Jahren: »Manchmal kriecht die Geschichte jahrzehntelang vor sich hin. Wahlen werden gewonnen und verloren, Gesetze verabschiedet und kassiert, neue Stars geboren und alte Legenden zu Grabe getragen. Und während alles seinen gewohnten Lauf nimmt, verändern sich die Leitgestirne von Kultur, Gesellschaft und Politik kaum. Dann, ganz plötzlich, verändert sich innerhalb weniger Jahre alles auf einmal. Politische Neulinge stürmen die Bühne. Wähler erheben radikale Forderungen, die bis vor Kurzem noch undenkbar waren. Soziale Spannungen, die lange unter der Oberfläche vor sich hin brodelten, verschaffen sich in gewaltigen Explosionen Luft.«
»Heute wird mit Aufmerksamkeit belohnt, wer es so richtig krachen lässt.«
Die stabilen Demokratien des Westens hingen, so seine Beobachtung, von drei Faktoren ab: von wachsendem Wohlstand und dem allgemeinen Optimismus, der mit ihm einherging, einer relativen Homogenität der Bevölkerung und einem regulierten Zugang zur öffentlichen Meinungsäußerung durch Massenmedien, die einen intrinsischen Druck zum Moderaten, zur Mäßigung etabliert hatten. Heute wird mit Aufmerksamkeit belohnt, wer es so richtig krachen lässt.
Die Gefährdungen der Demokratie begleiten vielen kluge Untersuchungen über die Ursachen des »Vertrauensverlustes« von politischen Kräften, die bisher durchaus ihre Bindungswirkungen bewahrt hatten. Da ist von der »Politikverdrossenheit« die Rede, dem Missmut angesichts eines bedeutungslosen Geplappers der Show- und Berufspolitik, oder auch dem Gedränge in der Mitte (das dann quasi in einer Reaktion die Ränder stärkt), gelegentlich von einer »Revolte gegen die Globalisierung«.
Die ganz normalen »einfachen Leute«, die (post-)proletarischen arbeitenden Klassen, die früher in den Arbeiterparteien eine natürliche Vertretung gesehen hatten, fühlen sich heute nicht mehr wahrgenommen, ja, mehr noch, respektlos behandelt: Du wirst als Nummer behandelt, als austauschbar angesehen, erlebst ökonomischen Abstieg oder zumindest wachsende Unsicherheit und wirst auch noch als hinterwäldlerisch und vorgestrig dargestellt. Und dann kommen eben Trump, Orbán oder andere daher und sagen: »Ich bin Eure Stimme.«
Die verschiedensten Erklärungen und Analysen stehen einerseits in Konkurrenz zueinander, andererseits ergänzen sie sich. So versucht die empirische Sozialwissenschaft die eher filigranen, langsamen Verschiebungen zu ergründen, die Indizien eines zunehmenden Vertrauensverlustes im Zeitverlauf.
»Demokratievertrauen in Krisenzeiten«, heißt die große Studie, die ein wissenschaftliches Team unter der Leitung von Volker Best, Frank Decker, Sandra Fischer und Anne Küppers im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte. 2.536 Menschen wurden befragt, nach allen Regeln der Repräsentativität. Frühere Studien erlauben eine Beurteilung von Veränderungen im Zeitverlauf.
»Menschen, die anderen Menschen vertrauen, haben auch Vertrauen in politische Institutionen.«
Man weiß aus forscherischer Erfahrung, dass Menschen, die anderen Menschen eher vertrauen, auch eher Vertrauen in politische Institutionen haben. Das Vertrauen in Andere hat nur unwesentlich abgenommen in den vergangenen vier Jahren. Die größten Sorgen machen sich die meisten über das Klima, gefolgt von Hass und Feindseligkeit, Krieg, Verlust sozialer Sicherheit, Inflation, Rechtsextremismus und Migration. Interessant: Migration »polarisiert« insofern am meisten, als sie 17,2 Prozent »Sorgen« macht und 19 Prozent definitiv »gar keine Sorgen«. Die Antwort, die viele hier geben, ist wohl selbst schon eine Reaktion auf das Wissen über das polarisierende Thema.
Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie und dem politischen System ist umso höher, je höher Bildungsgrad, sozialer Status, aber auch das politische Interesse ist – das mag jetzt nicht unbedingt überraschen. Unter Grünen- und SPD-Wähler/innen sind die Zufriedenheitswerte am höchsten. Das mag natürlich primär auch an der Zusammensetzung der Bundesregierung liegen. Aber dennoch hat es auch eine seltsame Schlagseite, dass die Wähler von Parteien, die sich als gesellschaftsverändernde Reformparteien verstehen, am Zufriedensten mit dem Status Quo sind.
Der Protest hat die Seiten gewechselt
Generell meinen 51 Prozent, der Zustand der Demokratie habe sich verschlechtert, nur zehn Prozent nehmen eine Verbesserung wahr. Stellt man die Menschen vor die Frage, welche Regierungsform sie bevorzugen würden – die repräsentative Demokratie, eine direkte Demokratie mit regelmäßigen Volksentscheiden, eine Expertokratie, in der Fachleute in ihrem jeweiligen Bereich entscheiden, und eine Autokratie mit einer starken, einzelnen Führungspersonlichkeit, dann hat keine der Alternativen eine klare Mehrheit – wobei die Autokratie nur von einer sehr kleinen, radikalen Gruppe präferiert wird.
Der Krisenstress der vergangenen Jahre hat Spuren hinterlassen.
Der Krisenstress der vergangenen Jahre – Coronapandemie, Russlands Ukraineinvasion und so weiter – hat hier Spuren hinterlassen. Dass eine kleine Gruppe eine Expertenherrschaft ex-trem ablehnt, eine andere sie durchaus präferiert, ist selbst schon Teil der Polarisierungsgeschehnisse. Bevor man allzu erschüttert ist, dass die repräsentative Demokratie keine klare Mehrheit mehr hinter sich hat, sollte man aber einen Augenblick darüber nachdenken, ob die Antworten von politisch nur oberflächlich Interessierten hier wirklich so pointiert sind.
Schließlich leben wir in einem System, indem sich auf dem durch Wahlen etablierten Repräsentationssystem Regierungen bilden, die durch dieses legitimiert sind, deren Funktionsträger aber dann durchaus gemeinsam mit Fachleuten eine Entscheidung treffen, manchmal auch einfach über den Verordnungsweg. Gerade in den Coronajahren wurde das ja auch vor aller Augen und im Lichtkegel der Öffentlichkeit vollzogen. Insofern haben wir – in den Augen vieler Beobachter, aber tatsächlich auch real – durchaus ein System der repräsentativen Demokratie, in dem aber auch Experten aufgrund ihrer Expertise in ihrem Fachbereich an Entscheidungen beteiligt sind.
Manche Studienergebnisse sind nicht überraschend, aber dennoch nicht unwitzig. Die politisch wenig Interessierten ziehen ein System der direkten Demokratie vor, was nichts anderes heißt, als: Sie würden gerne zu komplexen Fragen mitentscheiden, bei denen sie sich am wenigsten auskennen. Anhänger der AfD sehen so ziemlich jedes Thema »kritisch«, egal welches: sie sind einfach habituell »dagegen«. Rechts stehende Wähler und Wählerinnen beklagen den »schwindenden Zusammenhalt« am meisten, was auch nicht ohne Komik ist.
Muss man zwischen Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und neuen Schulden entscheiden, dann sind die FDP-Anhänger am entschiedensten für Neuverschuldung – ein Sachverhalt, den man so auch nicht unbedingt erwartet hätte. Klassische Verschwörungstheorien werden nur von einer Minderheit geteilt, die allerdings nicht ganz klein ist – sie reicht schon von knapp unter 20 bis 25 Prozent. Von den Geimpften glauben nur elf Prozent, dass sich der Westen gegen Putin verschworen habe, von den Ungeimpften 34 Prozent. Auch das ist nicht überraschend, aber dennoch skurril – an sich hat eine medizinische Frage ja nicht unbedingt viel mit Geopolitik zu tun. Im Zeitalter des Haders ist nicht die sachliche Seite der »Meinung« bedeutsam, sondern die Frage, ob sie in der jeweiligen Ordnung der Diskurse zur eigenen Identität passt.
Volker Best/Frank Decker/Sandra Fischer/Anne Küppers: Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft? 2023, abrufbar unter: www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie
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