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Die innenpolitischen Führungsfragen nach den Frühjahrswahlen in drei Ländern Zeiten des Schattenboxens

Von heute betrachtet waren es selige Zeiten, anno 2021 im Herbst. Da war zwar Corona, aber nach einem entspannten Sommer gefühlt abklingend. Dann war da ein extrem schwacher Kanzlerkandidat der CDU. Am Ende stand, weil die SPD hauchdünn stärker wurde als die Union, eine Ampelregierung unter Olaf Scholz statt einer Jamaika-Koalition unter Armin Laschet. Wann war das nochmal? Es liegt so kurz, so lange zurück. Wladimir Putin hat die Welt verändert, die große wie die kleine.

In der kleinen war im Frühjahr dreimal Landtagswahl, und die Signale von unten in Richtung Berlin sind teils klar, teils uneinheitlich. Rein parteipolitisch betrachtet wendet sich die Wirtschaftsklientel der FDP unverkennbar von der Bundes-Ampel ab und wählt jetzt wieder lieber CDU. In Westdeutschland bauen sich schwarz-grüne Bastionen auf, bei den Grünen irritieren die Kriegsthemen scheinbar weniger als bei der SPD. Die wiederum schafft es nicht, aus der bundespolitischen Führungsrolle einen Vertrauensschub zu machen – trotz einer außenpolitischen Bedrohungslage, die normalerweise die jeweilige Regierung stabilisiert.

Wenn man die Innenpolitik in diesen Zeiten inhaltlich betrachtet, hat sich auch die Themenwelt komplett geändert. Corona ist nur noch ein Problem unter vielen, der Klimaschutz hat in der politischen Emotionswelt nicht mehr die alleroberste Priorität. Der Krieg im Osten, die Fragen nach militärischer Unterstützung der Ukraine und – zunehmend – die umfassenden wirtschaftlichen Wirkungen prägen alle Debatten. Inflation und Energieengpässe bewirken neue politische Zwickmühlen, auf die so niemand vorbereitet war.

Die reale Tagespolitik tastet sich da ganz im internationalen Schulterschluss voran, aber sie hat noch keine präzise Vorstellung von den langen Linien, auf denen jetzt die Zukunftsthemen neu justiert werden müssen. Auch deshalb war in den drei kleinen Wahlkämpfen so viel Schattenboxen, im politischen Gefühlsleben überdeckt von dem großen Thema Ukraine. Kaum ging es schon um präzise ausgearbeitete Alterativen für die Zukunft. Um viel Ungefähres stattdessen – mit durchaus billigen Versuchen, sich irgendwie hineinzudrängen in die Medienaktualität, selbst wenn man nicht viel zu sagen hat.

Die teils überbordende Emotionalität rund um die Kriegsereignisse erschwert strategisches Denken zusätzlich. Die Tagesdebatten wirken nicht nur getrieben, sie sind es. Vor allem durch die großen internationalen Weichenstellungen hinsichtlich Sanktionen und Waffenlieferungen – in Kombination mit dem offensiv-pressenden Auftreten der ukrainischen Regierung. Es ist eine Konstellation, in der im Inland rein national diskutiert wird, während tatsächlich – auch angesichts eines wahlbedingt zwischenzeitlich eher passiven Frankreich – die Entscheidungen des Westens zunehmend zwischen EU/NATO und USA vorbereitet wurden.

Die wichtigste Botschaft der Frühjahrswahlen bestätigt indes, trotz der teilweise großen Zuwächse bei den Grünen, dass die Führungsentscheidung nach wie vor zwischen Union und SPD fällt. Eine absolute Parlamentsmehrheit der SPD an der Saar und zwei zulegende CDU-Ministerpräsidenten in Kiel und Düsseldorf bei gleichzeitigem Absturz der FDP aus ihrer dortigen Regierungsrolle zeigen dies. Im Parteiensystem des Westens spielen AfD und FDP derzeit nur Nebenrollen, während die Linkspartei – vielleicht endgültig – marginal wurde.

Erstmals ein Ukraine-Effekt

Letzteres zeichnete sich im März schon im Saarland ab. Es hatte dort auch mit einer starken Spitzenkandidatin der SPD zu tun, dass nach zwei Jahrzehnten die an der Saar so dramatische Spaltung des sozialdemokratischen Spektrums überwunden wurde. Eine Spaltung, für die Gerhard Schröder (Agenda 2010) und Oskar Lafontaine (Rachefeldzug) arbeitsteilig gesorgt hatten. In Schleswig-Holstein war es Anfang Mai dann die personelle Schwäche der SPD, die Wechselwähler zu den Grünen trieb. In NRW Mitte Mai, wo weder bei der CDU noch bei der SPD die Spitzenkandidaten herausragten, hat sich im rot-grünen Spektrum dann ein Effekt verfestigt, der viel mit dem Schatten des Krieges zu tun hat: Für die Grün-Affinen verliert die Führungsalternative Union/SPD inhaltlich an Bedeutung, anders als noch bei der Bundestagswahl.

Spätestens bei den Maiwahlen gab es in Maßen deshalb eben doch einen ersten Ukraine-Effekt. Nicht in dem Sinne, dass der Krieg regional das bewusst wahlentscheidende Thema war. Aber es hatte erstmals den gezielten Versuch gegeben, ihn dazu zu machen. Ein Versuch, der sehr alte Klischees mobilisieren wollte und bei dem durchaus unklar ist, ob er nicht dauerhaft Resonanz haben kann. Es ist der Versuch, in einer Art Zangenbewegung die sozialdemokratische Führungsrolle im Bund zu delegitimieren.

Einerseits betrieben aus grün-menschenrechtsaktiver Richtung, andererseits nicht weniger massiv inszeniert von der Merz-CDU. Zugespitzt in der Formulierung, die SPD habe schon lange ein Russland-Problem. Festzumachen an dem Versuch, bis zurück zu Willy Brandts Ostpolitik eine Linie des Versagens zu ziehen. Für die ganz Alten unter den Konservativen ist es das Begleichen einer Rechnung. Für manche in der Moralgeneration Grün ist es das erneute Abarbeiten ihrer eigenen Agenda der Kompromissverachtung. Ob daraus neue emotionale Brüche entstehen, ob die SPD ihrerseits diese Debatten geschlossen und vor allem offensiv führen kann oder will: Hier deuten sich Richtungsfragen an, die auch für das Parteiensystem und seine Kooperationsoptionen Wirkung haben werden.

Es war am Ostermontag, als der neu-alte starke Mann der Union gemeinsam mit dem NRW-Spitzenkandidaten Hendrik Wüst die Attacke auf den Bundeskanzler mit einem alten stimmungsbrechenden Argument eröffnete: dem Vorwurf, militärisch nicht verlässlich genug zu handeln. Der Kampfbegriff »schwere Waffen« war geboren, gegen den Kanzler wurde der Vorwurf der Zögerlichkeit nachgeschoben. Die Medienresonanz war groß, die persönlichen Sympathiewerte von Olaf Scholz gaben nach.

Während reale Kontroversen in der Ampelkoalition zum Thema Ukraine bis dahin meist nur von Einzelfiguren ausgetragen worden waren (dies allerdings recht frei von klassischen Vorstellungen der Koalitionsdisziplin), bewirkte der massive mediale Widerhall der Anti-Scholz-Attacke eine reale Verunsicherung. Dies auch deshalb, weil die sozialdemokratische Seite so wirkte, als sei sie nicht wirklich bereit zur Gegenoffensive. Die schnelle Regierungserklärung des Kanzlers drei Tage nach Kriegsbeginn, in deren Zentrum die Ankündigung eines 100-Milliarden-Pakets für die Bundeswehr stand, hatte auch im eigenen Lager für kontroverse Gefühlsreflexe gesorgt.

Schweigen aus Solidarität, Zweifel nach innen

Machtpolitischer Hintergrund der Regierungserklärung war der Versuch, internationale Kontroversen abzuräumen – die um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, um die nukleare Teilhabe Deutschlands, um die generell restriktive Exportpolitik bei Waffen. Schulterschluss wegen Zeitenwende: Diese Weichenstellung nach außen war der strategische Kern – wenn auch die innenpolitische Wahrnehmung eine andere, weitaus kleinteiligere blieb.

Auf sozialdemokratischer Seite waren die Reaktionen im nachfolgenden Schattenboxen nicht gerade einheitlich. Es gab Schweigen aus Solidarität, aber Zweifel nach innen: Daraus wird selten eine politische Strategie. Und der Ansatz, viel zusätzliches Geld fürs Militär aus Rücksicht auf die zunehmend verunsicherte FDP nicht über den normalen Haushalt laufen zu lassen, sondern es als Sondervermögen von Grundgesetzrang zu deklarieren, hatte der Merz-CDU unversehens eine machtpolitische Schlüsselrolle beschert, ähnlich wie beim Scheitern der Impfpflicht.

Dass Merz nicht Merkel ist, hatte sich schon bei der Blockade der Impfpflicht gezeigt. Auf Unionsseite werden jetzt wieder die alten parlamentarischen Machtspiele aktiviert, wie sie in früheren Jahrzehnten normal gewesen waren. Hauptsache, der Regierung gelingt nichts: Bis hin zur Reise des Fraktionschefs der Union nach Kiew wurde kühl kalkuliert, wie sich Fernsehbilder erzeugen lassen, deren Subbotschaft Merz als aktiv und Scholz als abwesend erscheinen lässt. Was nicht weiter wirkungsvoll wäre, wenn die öffentliche Wahrnehmung noch – wie vor Jahrzehnten – solch durchsichtige Manöver dechiffrieren und kritisch einordnen würde.

Wenn man hier mal auf das altmodische Wort Kommentarlage zurückgreifen will: Der etablierte Journalismus, speziell in den Talkshows, war über Monate stark dominiert von einer moralisierenden Grundhaltung, die am liebsten jetzt und sofort der überfallenen Ukraine mit maximalem Waffenarsenal beisteht und maximale Sanktionen unabhängig von wirtschaftlichen Rückwirkungen propagiert – und sich bei der Frage nach Kollateralschäden mit einem leisen »da müssen wir jetzt durch« zufrieden gibt. In großer Einigkeit nicht selten von Bild bis Spiegel, was ja auch etwas von Stimmungswende hat.

Auf dass die Ukraine mit Kompromisslosigkeit den Krieg gewinne und die Russen wieder komplett aus dem Land werfe. Was als naiver Gegenwartsreflex und internationale westliche Rhetorik wohlfeil ankommt, aber schon mittelfristig völlig unrealistisch wirkt – egal, es war ja die Zeitenwende ausgerufen. Ein Teil der Sozialdemokratie ging diesen Kurs mit, in den Milieus der Grünen und unter jungen, stark moralisch denkenden Menschen trifft er auf Zustimmung. Während gleichwohl unübersehbar ist, wie robust die Ablehnung in großen Teilen der Bevölkerung gegenüber emotional gesteuerten Schnellschüssen in Richtung Kriegsbeteiligung bleibt, trotz vielstimmig-emotionaler medialer Bearbeitung. In diesem Umfeld und angesichts all der realen Ungewissheiten eine abwägende, bedachte Politik zu vertreten, ist nicht einfach.

Nun hat der Kanzler nicht die Menschenfängerqualitäten von Robert Habeck, der bislang mit seinen vielen Kurskorrekturen gegenüber der klassisch-grünen Politik öffentlich schadlos durchkommt. Aber Olaf Scholz hat die Hartnäckigkeit und die Nerven, Ruhe ins Regierungshandeln zu bringen. Genau auf diese Stärke zielte die Attacke von Merz und Wüst vor der NRW-Wahl in Sachen Waffenlieferungen. Genau darüber wird ab jetzt der Kampf um die künftige Führungsfähigkeit im Bund ausgetragen werden.

Es lässt sich einwenden: All das sind sekundäre Fragestellungen. Die wirklichen Herausforderungen sind inhaltlicher Art. Das Wiederauftauchen der Amerikaner in einer europäischen Führungsfrage, das Ende der Wohlstandsgarantie durch Wachstum, neue Verteilungskonflikte mit viel ökonomischem Druck (auch auf echte sozialökologische Fortschrittsprogramme), die Wiederkehr der militärischen Logik als Ausgangspunkt politischer Strategie: Nichts davon wird in den europäischen Öffentlichkeiten bislang auf den Punkt gebracht und angemessen diskutiert. Dennoch muss jeder Kanzler sich dazu verhalten, ob es in der Oberflächlichkeit der Debatte nun auffällt oder nicht.

Das deutsche Problem

Der Einwand ist sehr berechtigt und er verändert, wenn man ihn ernst nimmt, auch den Blick auf die Kanzlerrolle. Aber richtig bleibt, dass es gegen die Verunsicherung im eigenen Lager nur ein Mittel gibt: klarer, identifikationsfähiger Auftritt. Der Union war es in den Wochen vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW durchaus gelungen, die Bundesregierung ins Zwielicht zu rücken und die Bundesebene damit kommunikativ zu neutralisieren. Wobei Zwielicht hier bedeutet: Die Konturen verschwimmen, zunächst scheinbar nur in kleineren Sachfragen, letztlich aber hinsichtlich einer klaren gemeinsamen Ausstrahlung der Regierung in Alterative zur Opposition.

Die Kontroverse um Kiews Ausladung des Bundespräsidenten steht geradezu symbolisch für dieses nunmehr deutsche Problem. Nichts ist zu sehen von Schulterschluss in schweren Zeiten, im Gegenteil. Selbst die Banalität, dass ein Kanzler als machtpolitische Nummer zwei nicht an einen Ort fahren kann, an dem die Nummer eins nicht erwünscht ist, hat Teile der veröffentlichten Meinung nicht weiter interessiert. Selbstbespiegelung und Selbstüberschätzung prägen eine größtenteils illusionäre Debatte. Dass dann ein Oppositionsführer dem Kanzler reisend in den Rücken fällt und das medial auch noch als Coup gefeiert wird, war nur eine weitere Umdrehung. Staatsräson gilt da als überholter, von manchen geradezu verabscheuter Begriff.

Was davon wirklich ankommt bei den Menschen und wie es ankommt? Nochmal der Blick auf die Frühjahrswahlen: Sie zeigen, wie kompliziert die Innenpolitik mit ihren sehr unterschiedlichen Koalitionen in 16 Ländern geworden ist. Während andererseits noch völlig offen bleibt, wie sich die absehbare Wiederkehr der materiellen Themen demnächst auch parteipolitisch festmachen lässt. Schon in näherer Zukunft werden auch Inflation und Energiekosten das Wahlverhalten prägen, sicher schon in Niedersachsen im Oktober.

Bis dahin ist noch sehr offen, welche Partei sich trauen wird, welche dieser neuen materiellen Fragen mit welcher programmatischen Botschaft zu besetzen. Dass Unionsparteien und FDP auf das Heute mit dem Gestern antworten werden, zeichnet sich ab. Signale in Richtung Verschiebung der Energiewende und Wiederbelebung von Atomenergie gibt es dort längst, altes Polarisierungsdenken in militärischen Fragen sowieso. Besonders für die Grünen bauen sich allerhand neue alte Zielkonflikte auf – aber nicht nur für sie. Dies mit Emotionalität zu überspielen, kann nicht lange funktionieren.

Und die Kanzlerpartei? Da wird es sehr auf die Art und den Inhalt von Führung ankommen, nicht nur hinsichtlich des Krieges. Themenwende zurück zum Materiellen bedeutet, dass sich auch die parteipolitischen Antworten anders sortieren werden. Und neue Fragen mit Blick auf Putin und die Ukraine bedeuten nicht, dass sich Haltungen ändern müssen. Schon gar nicht die, dass zur Beendigung von Kriegen am Ende immer Brücken gebaut werden müssen.

Fortschritt und Sicherheit: Das Begriffspaar wirkt nun wie aus einer alten Zeit, die so fern, aber auch so nah ist. Es wird jetzt neu übersetzt und sichtbar verkörpert werden müssen, ohne wieder einmal die Erkennbarkeit einer Grundlinie zu verwässern. Genau darin liegt die Chance, die Führungsrolle zu stabilisieren. Wobei nun schon gut drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl ziemlich offen geworden ist, wie ernsthaft und wie lange die FDP unter den veränderten Rahmenbedingungen bereit sein wird, einen sozialen Fortschrittsbegriff gemeinsam zu tragen.

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