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Das Europäische Parlament, Straßburg. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotop

Trotz neuer Ansätze bleibt die EU von Einigkeit noch weit entfernt Zeitenwende auf europäisch

Die deutsche Debatte rund um den russischen Angriff auf die Ukraine wird dominiert vom Begriff der »Zeitenwende«, den Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 verwendete. Damit werden die teils fundamentalen Veränderungen in Deutschland, wie Waffenlieferungen an die Ukraine, das Sondervermögen für die Bundeswehr und die Neudefinition der Russlandpolitik begründet.

Eine Konstante deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bleibt jedoch unvermindert bestehen, wenn sie nicht sogar verstärkt wird – die europäische Integration. Schon der Koalitionsvertrag der Ampelregierung, datiert wenige Monate vor Ausbruch des Krieges, formuliert ein ambitioniertes Ziel: »Wir setzen uns für eine echte gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa ein. Die EU muss international handlungsfähiger und einiger auftreten.« Dieser Anspruch wird nicht nur in diesem Bereich explizit formuliert, sondern durchzieht unter dem Begriff der »strategischen Souveränität« den Koalitionsvertrag auch in anderen Politikbereichen.

Mit der »Zeitenwende« oder dem »Epochenbruch« (Frank-Walter Steinmeier) rückte die EU jedoch erst einmal in den Hintergrund. Dies wurde besonders deutlich in den Verhandlungen zwischen den USA und Russland im Vorfeld des Krieges sowie bei bilateralen Vermittlungsbemühungen. Selbst die NATO mit Generalsekretär Jens Stoltenberg war sichtbarer als der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Damit dominierte in der ersten ernsthaften sicherheitspolitischen Krisein Europa seit den Jugoslawienkriegen nationalstaatliche Sicherheitspolitik sowie die revitalisierte NATO, die noch wenige Jahre zuvor von zentralen deutschen Alliierten wechselweise als »hirntot« (Emmanuel Macron) oder»obsolet« (Donald Trump) bezeichnet worden war. Den Fokus auf die nationalstaatliche Stärkung illustrierte auch die oben bereits zitierte Rede des Bundeskanzlers, in der die Investition in die Bundeswehr in erster Linie als Landesverteidigung präsentiert wird.

Gleichzeitig macht er darin einen rhetorischen Spagat zwischen Beibehaltung der europäischen Kooperation und einer Stärkung der NATO und nennt in einer für den Anlass erstaunlichen Detailtiefe bereits Projekte, in die das Sondervermögen der Bundeswehr investiert werden sollte. Zwar wurden dort gemeinsame Rüstungsvorhaben mit Frankreich an erster Stelle aufgeführt, ebenso wie der Eurofighter, aber gleich dahinter rangierte die Möglichkeit, Kampfflugzeuge vom Typ F-35 aus den USA anzuschaffen, die vor allem dem Zweck der Beibehaltung der nuklearen Teilhabe der NATO dienen.

Dennoch war die EU nicht unsichtbar, konzentrierte sich allerdings auf die Politikbereiche, in denen der größte Wirtschaftsraum der Welt einen entscheidenden Unterschied machen kann: in der Verhängung mehrerer Sanktionspakete. Hier zeigten sich die 27 Mitgliedstaaten erstaunlich einig, trotz verschiedener Spezialbeziehungen zu Russland, namentlich von Victor Orbán aus Ungarn. Im klassischen Bereich der Sicherheitspolitik dagegen gab es eine Reihe markiger und nicht immer durchdachter Ankündigungen von Borrell, beispielsweise zur Nutzung europäischer Flughäfen für die Ukraine. Entscheidend war aber vielmehr, dass die EU ihre sogenannte Friedensfazilität dafür einsetzte, schnell und unbürokratisch Waffen für die Ukraine zu beschaffen und dabei den zu nutzenden Höchstbetrag zügig anhob.

Was in der Debatte bisher nicht auftauchte, war die Forderung nach einer Europäischen Armee. Diese war schon vor dem Krieg in der Ukraine umstritten und zwar besonders zwischen den drei Mitgliedern des Weimarer Dreiecks – Deutschland, Frankreich und Polen. Umfragen in ausgewählten europäischen Mitgliedstaaten zeigten noch im September 2021, dass es nur in Frankreich eine sehr knappe Mehrheit von 53 Prozent für die Schaffung einer europäischen Armee gab. In Deutschland und Polen unterstützen dies laut Security Radar 2022 nur 43 respektive 42 Prozent.

Trotz eines Angriffskriegs an der Grenze der EU und dem wachsenden Bedrohungsgefühl einer Vielzahl von Staaten in Mittelosteuropa, ist die Schaffung europäischer Streitkräfte kein Thema, weder in Brüssel noch im Rahmen der sonst so europhilen deutschen Debatte rund um die »Zeitenwende«. Selbst in den Vorschlägen der Konferenz zur Zukunft Europas tauchte dieser Punkt nur einmal auf und der Terminus der europäischen Armee wurde tunlichst vermieden.

Stattdessen herrscht eine Grundhaltung vor, die der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière schon 2013 als die bessere Herangehensweise an eine europäische Armee bezeichnet hatte: »entschlossener Pragmatismus«. Damit ist die Konzentration auf den Aufbau der nationalen Kapazitäten gemeint, die als Grundvoraussetzung für eine wie immer geartete europäische Streitkraft gelten.

Diese Vorgehensweise ist inmitten einer akuten Krise nachvollziehbar, dennoch birgt sie auf lange Sicht die Gefahr, dass sich die bisherige Struktur der europäischen Bonsai-Armeen auf einem leicht höheren Niveau fortsetzen wird. Es gibt daher gute Gründe, die seltene Einigkeit in der Krise zu nutzen, um die immensen Summen, die in Europa für Verteidigung ausgegeben werden, einem besseren Zweck zuzuführen. Denn der enge Blick auf die Erreichung des (nationalen) Zwei-Prozent-Ziels der NATO sagt noch nichts darüber aus, wie effektiv die Mittel schlussendlich ausgegeben werden.

Der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte die Diskrepanz zwischen den Ausgaben der EU und ihrem Gegenwert einmal sehr plastisch ausgedrückt. Die EU gebe etwa 50 Prozent dessen für Verteidigung aus, was die USA investierten, ihr Niveau liege im Vergleich zu Washington aber bei lediglich etwa 15 Prozent. Gemeinsame Vergaben, gemeinsame Geräte und Spezialisierung könnten mithin der Weg sein, die Verteidigungsfähigkeit der EU auf ein deutlich höheres Niveau zu heben. Um das Potenzial zu verdeutlichen, das Europa hier hat, reichen einige Zahlen: In der EU werden aktuell etwa elf unterschiedliche Modelle von Kampfpanzern verwendet, die USA verfügt über eins. Insgesamt verwenden die europäischen Armeen rund 180 Waffensysteme, die USA gerade einmal ein Sechstel davon.

Doch vor der haushälterischen Vernunft stehen die Mühen der Politik. Ein solcher Schritt hätte zwei direkte Implikationen. Erstens würde dies ein neues Level an innereuropäischer Solidarität bedeuten. Die Voraussetzung dafür ist jedoch das Vertrauen zueinander. Dies ist gerade aufgrund der sehr unterschiedlichen Russlandpolitiken der EU-Mitglieder aktuell tief erschüttert. Dabei werden vor allem Deutschland und Frankreich aus den ostmitteleuropäischen Staaten argwöhnisch beäugt. Stattdessen geht der Blick in Richtung USA.

Die zweite Implikation einer solchen Rüstungsverschränkung Europas würde an die materiellen Grundlagen gehen. Denn die Einigung auf gemeinsame Waffensysteme bedeutete, dass diese in Europa entwickelt und produziert würden. Das hätte zwei potenzielle Konfliktlinien zur Folge.

Zum einen würde es den Zugang amerikanischer Rüstungsproduzenten zum europäischen Markt drastisch einschränken. Damit wäre jedoch besonders aus Sicht der Länder, deren banger Blick aktuell nach Washington geht, potenziell die Möglichkeit der Zusammenarbeit in der NATO ebenso gefährdet wie das noch wichtigere Wohlwollen Washingtons.

Zum anderen würde auf europäischer Ebene das beginnen, was die Ankündigung des Bundeswehr-Sondervermögens in Deutschland angerichtet hat: ein Hauen und Stechen darüber, welches Land die Aufträge und damit Arbeitsplätze dieser Großinvestitionen abbekommt. Es droht wie schon bei Airbus die Gefahr einer politisch gewollten Zerfledderung der Produktion, um überhaupt einen Beschluss herbeiführen zu können. Mit einer solchen regionalen Zersplitterung, die faktisch einer regionalen Wirtschaftsförderung dienen würde, wäre ein Teil der Effizienzgewinne dahin.

Europäische Dilemmata

Damit steht die EU weiterhin vor einer Reihe von Dilemmata, die den Aufbau einer glaubwürdigen gemeinsamen Sicherheitspolitik verhindert. Zwar hat der russische Angriff die gemeinsame Bedrohungswahrnehmung verändert und die Länder einander angenähert, gleichzeitig ist der Verlust an Vertrauen ineinander gewachsen.

Die Rolle der USA als Sicherheitsgarant hat durch den Krieg in der Ukraine an Bedeutung gewonnen. Die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Regierung Biden und der NATO kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Blick der USA zunehmend in Richtung China geht und die Erwartung besteht, dass Europa die konventionelle Grundlast der eigenen Verteidigung mehr und mehr übernimmt. Gleichzeitig produzieren die langen Fristen der Rüstungsbeschaffung ein Dilemma, da Entscheidungen, die heute getroffen werden, auf lange Sicht Pfadabhängigkeiten schaffen, die Europas Armeen über die kommenden Jahre prägen werden.

Wie soll es also weitergehen? Das Schwert als Lösung des Gordischen Knotens war noch nie der europäische Weg. Stattdessen wird auch in einer solch tiefen Krise das Moment der Kompromissfindung greifen. Der Weg für solch eine pragmatische Herangehensweise liegt an dem neuen Verhältnis, das sich in der Zeitenwende zwischen der EU und der NATO herauskristallisiert. Denn die Ambitionen hinsichtlich der strategischen Autonomie oder der strategischen Souveränität der EU haben durch den russischen Angriff einen Dämpfer erlitten. Es ist nämlich deutlich geworden, dass es eine Sicherheitsdimension in Europa gibt, für die nur die NATO und nicht die EU gerüstet ist – Territorialverteidigung.

Hieraus ergibt sich die Chance, die alten Debatten um Duplizierung und Konkurrenz zwischen den beiden Organisationen zu beenden. Die EU kann durch kluge Wirtschaftspolitik, die Nutzung der bestehenden Strukturen und Prozesse wie die Europäische Rüstungsagentur oder das jährliche Review der Rüstungsaufgaben (CARD) dazu beitragen, dass eine schrittweise Annäherung der europäischen Streitkräfte auf den Weg gebracht wird. Dies ist bereits im Strategischen Kompass festgehalten, der im März 2022 verabschiedet wurde.

Gleichzeitig weist das Dokument, das die Sicherheitspolitik der EU für die kommenden Jahre prägen soll, in Richtung einer stärker komplementären Rolle von EU und NATO. Um die Allianz zu entlasten, wird sich die EU auf das Krisenmanagement konzentrieren und dabei geografisch den Blick stärker auf die eigene Nachbarschaft konzentrieren. Damit könnten knappe Ressourcen besser investiert und verteilt werden und der oben genannte Spagat zwischen EU und NATO würde auf Dauer weniger anstrengend für die Vielzahl von Staaten, die Mitglied in beiden Organisationen sind.

Damit kann die »Zeitenwende« zu einer Entwicklung beitragen, die langfristig die Bereitstellung von Sicherheit in Europa verbessert. Der Aufwuchs vieler europäischer Streitkräfte kann koordiniert und damit partiell effizienter gestaltet werden. Damit werden nicht nur die Fähigkeiten der EU gestärkt, das Krisenmanagement in der eigenen Nachbarschaft zu übernehmen, sondern gleichzeitig auch der europäische Pfeiler in der NATO untermauert und somit langfristig die Möglichkeit geschaffen, die USA in Europa zu entlasten. Damit wäre die EU im Sinne des Koalitionsvertrags handlungsfähiger, von der dort ebenso postulierten Einigkeit ist man jedoch politisch weiterhin entfernt. Diese zu überwinden wäre eine wahre Zeitenwende für Europa, die jedoch selbst durch den Krieg in der Nachbarschaft nicht erreichbar scheint.

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