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© picture alliance / zb | Matthias Tödt

Zehn Jahre Arabischer Frühling Zeitenwende oder gescheiterte Revolution?

Vor zehn Jahren, am 17. Dezember 2010, begann mit der Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im zentraltunesischen Provinzort Sidi Bouzid der Arabische Frühling. Dieser Selbstmord löste Demonstrationen und Massenproteste zunächst in Tunesien, dann in Ägypten aus und erschütterte schließlich die gesamte arabische Welt. Zehntausende gingen auf die Straße, protestierten gegen Diktatoren und autokratische Herrscher und forderten soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Würde. Der Prozess stellte eine historische Zäsur dar: In Tunesien und Ägypten stürzten die langjährigen Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak; in Libyen wurde nach einer militärischen Intervention westlicher Staaten der dortige Diktator Muammar al-Gaddafi getötet; in Marokko wurde König Mohammed VI. zu einer Verfassungsreform gezwungen; in Bahrain schlugen Truppen aus dem Nachbarstaat Saudi-Arabien den Aufstand nieder; in Syrien und im Jemen kam es zu verheerenden Bürgerkriegen, die bis heute andauern.

In Europa wurden die Ereignisse als Freiheitskampf der arabischen Jugend für Demokratie und Selbstbestimmung gefeiert, ihre Protagonisten mit Preisen und Ehrungen überschüttet. Doch die Hoffnung auf eine politische Zeitenwende hat sich nicht erfüllt. Einzig in Tunesien kam es zu einem Regimewechsel und zu einem anhaltenden Demokratisierungsprozess. In den meisten Ländern konnten die Menschen keine echten Fortschritte erreichen. Mancherorts sind die Verhältnisse heute schlechter als zuvor.

Krisenregion arabische Welt

Der Nahe Osten und Nordafrika sind heute die größte Konfliktregion der Welt. Allerorten herrscht Instabilität und Ungewissheit. Die Bevölkerung wächst rasch, die Arbeitslosigkeit, vor allem in der jungen Generation, ist hoch, die wirtschaftlichen Perspektiven sind mau. Das Einkommens- und Wohlstandsgefälle zwischen der EU und Nordafrika nimmt Jahr für Jahr zu. Die Verschuldung der Staaten steigt und damit die Abhängigkeit von internationalen Geldgebern, von IWF und Weltbank. Politisch dominieren autoritäre Staaten und repressive Systeme.

In Syrien und im Jemen endete der Arabische Frühling in einem Fiasko. Die verheerenden Kriege dort kosten unzählige Menschenleben, zerstören die Städte und die Infrastruktur, und zwingen Millionen Menschen zur Flucht. Mittlerweile haben sieben Millionen Syrer ihre Heimat verlassen, das ist ein Drittel der Bevölkerung. Die meisten von ihnen leben in riesigen Flüchtlingslagern in der Türkei oder in Jordanien und im Libanon, in zwei Ländern, die selbst um ihr Überleben kämpfen.

Das militärische Eingreifen ausländischer Mächte hat das Leiden noch verlängert. Syrien ist ebenso wie der Jemen und Libyen längst zu einem Schauplatz von Stellvertreterkriegen von Staaten geworden, die um die regionale Vormachtstellung ringen: Die Türkei von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Regierungspartei AKP präsentiert sich immer offener als Schutzmacht der Muslimbruderschaft und entwickelt dabei neue osmanische Großmachtfantasien; Russland weitet seinen Einfluss in Ägypten aus, schickt Söldner nach Libyen und hat dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad einstweilen die Macht gesichert; der Iran ist dabei, einen schiitischen Bogen von Teheran aus über den Irak bis zur mächtigen Hisbollah im Libanon zu spannen; Saudi-Arabien versteht sich als regionale Vormacht und wurde dabei von der Trump-Administration kräftig unterstützt. Ein Kurswechsel unter Joe Biden ist nicht ausgeschlossen.

Die weitere Entwicklung der Region ist ungewiss. Sicher ist aber, dass globale Krisen wie der Klimawandel und die Corona-Pandemie weiteres Ungemach verheißen: Durch die Erderwärmung nehmen die Gefahren von Dürren und Überschwemmungen zu und die Zukunft der Landwirtschaft ist bedroht. Die Pandemie trifft in den meisten Ländern auf marode und chronisch unterfinanzierte Gesundheitssysteme und in den Bürgerkriegsländern zudem auf eine geschwächte Bevölkerung, die unter schlechten hygienischen Verhältnissen oder in zerstörten Städten lebt.

Gravierender noch als die gesundheitlichen Gefährdungen werden sich die wirtschaftlichen Folgen auswirken. Für Rettungsschirme oder Konjunkturpakete fehlen die finanziellen Möglichkeiten. Zielgerichtete Hilfen aus den Industrieländern bleiben bisher aus. Der wirtschaftliche Abschwung durch wochenlange Lockdowns und Ausgangssperren, durch den Zusammenbruch des Tourismus und die Unterbrechung von Lieferketten hat längst zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und Armut geführt. Kurzarbeitergeld oder Unterstützung aus einer Arbeitslosenversicherung gibt es für die betroffenen Familien nicht. Die meisten Staaten haben mittlerweile Notkredite beim IWF beantragt.

»Systemgrenze« Mittelmeer

Die Länder Nordafrikas liegen vor der Haustür der Europäischen Union, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Von der marokkanischen Nordküste aus kann man die Strände Andalusiens mit bloßem Auge sehen, von der Nordost-Spitze Tunesiens sind es nach Sizilien gerade einmal 150 Kilometer, die Flugzeit von München nach Tunis-Carthage beträgt lediglich zwei Stunden. Trotzdem wissen wir meist wenig über diese Länder. In der deutschen Politik und der öffentlichen Wahrnehmung spielen sie nur eine Nebenrolle. Wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, dann bestenfalls im Zusammenhang mit islamistischer Terrorgefahr oder Migration. »Fluchtursachenbekämpfung« heißt in diesem Zusammenhang das neue Zauberwort in Deutschland.

Einst war das Mittelmeer ein einheitlicher Zivilisationsraum, ein verbindendes Element zwischen den Ländern Europas, Kleinasiens und Nordafrikas. Ein Ort des Handels, des Austauschs und der kulturellen Begegnung. Die arabische Welt war ein bedeutender Wirtschaftsraum und Arabisch eine veritable Wissenschaftssprache.

Doch im Laufe der Jahrhunderte geriet Nordafrika zunächst unter die Herrschaft der europäischen Kolonialmächte und danach immer mehr aus dem Blickfeld. Längst ist auch das Mittelmeer nichts Verbindendes mehr, sondern trennt Arm und Reich. Die wirtschaftliche Diskrepanz, das Wohlstandsgefälle ist gewaltig geworden und nimmt weiter zu. Das Meer stellt eine Art Systemgrenze dar, die Migranten in Schlauchbooten zu überwinden versuchen und die für Europa als Schutzwall zur Abwehr unerwünschter Einwanderung dient.

Das Mittelmeer trennt auch zwei religiöse Kulturkreise, die sich sehr fremd geworden sind. Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal beschreibt seine Gefühle so: »Aus dem Mittelmeer-Raum, einst Wiege zweier leuchtender, sich gegenseitig inspirierender Zivilisationen, der christlichen, westlichen und der arabisch-islamischen, ist eine zersplitterte und seelenlose Gefahrenzone geworden, ein steriles Niemandsland; das Meer zieht eine Grenze zwischen zwei Welten, die einander bestenfalls ignorieren und schlimmstenfalls hassen.«

Die tunesische Ausnahme

Tunesien war das Ausgangsland des Arabischen Frühlings. Dort feierte er seinen ersten und größten Erfolg: den Sturz des Autokraten Ben Ali und dessen Flucht ins Exil nach Saudi-Arabien. In Tunesien konnte eine Verfassung durchgesetzt werden, die keinen Vergleich mit anderen Demokratien dieser Welt scheuen muss. Dort wehrte eine wache und säkulare Zivilgesellschaft den Versuch der wieder zugelassenen Partei der Muslimbrüder (Ennahda) ab, das Land stärker in Richtung einer islamisch-konservativen Richtung zu drängen. Das sogenannte nationale Dialogquartett aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverband, Anwaltskammer und tunesischer Menschenrechtsliga wurde dafür 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Dort wurde auch der Beweis erbracht, dass eine funktionierende Demokratie in einem islamischen Land möglich ist, wie es der verstorbene Staatspräsident Beji Caid Essebsi eingefordert hatte.

Dass dies in Tunesien als einzigem Land des Arabischen Frühlings gelang, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es ein kleines und rohstoffarmes Land ist. Es liegt abseits der Schauplätze, an denen die regionalen Großmächte um die Vormachtstellung oder um den Zugang zu Ressourcen ringen. Doch entscheidend waren andere Faktoren: Staatsgründer Habib Bourguiba hatte dem Land von Beginn an einen säkularen Kurs verordnet. Er verbot die Polygamie und das Kopftuch an Schulen, in Behörden und vor Gericht. Bereits im Jahr der Unabhängigkeit 1956 schrieb er in einem Personenstandsgesetz die Gleichberechtigung von Mann und Frau fest, was für die arabische Welt beispiellos war. Scheidungs- und Schwangerschaftsrecht waren den heutigen deutschen Gesetzen vergleichbar. Die Teilhabe der Frauen am gesellschaftlichen Leben war erwünscht und viele Frauen besetzten in der Folge Führungspositionen an Universitäten und Gerichten, im Gesundheitswesen und in der Politik. Seit Jahrzehnten gibt es zudem eine gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung, die den Menschen zumindest ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gewährt. Und es gibt mit der UGTT eine freie und mächtige Gewerkschaftsbewegung.

Genau diese Voraussetzungen waren in den anderen Ländern des Arabischen Frühlings nicht gegeben: weder in Ägypten, wo sich bereits 2013 das Militär mit politischer und finanzieller Unterstützung aus den Golfstaaten wieder an die Macht putschte, noch in Marokko, wo das Königshaus seine Machtfülle mithilfe von Polizei und Geheimdiensten weiter ausgebaut hat; auch nicht in Syrien, wo Assad die Proteste mit äußerster Härte niedergeschlagen und das Land in einen schrecklichen Bürgerkrieg gezogen hat, und nicht in Libyen, wo man zwar den Diktator gestürzt, aber keinen Plan für die Zukunft des Landes hatte.

Eine Lehre aus dem Arabischen Frühling ist, dass am Beginn eines Demokratisierungsprozesses nicht nur freie Wahlen stehen müssen. Mindestens genauso wichtig ist es, bürgerschaftliches Engagement zu fördern, statt es zu behindern. Freie Gewerkschaften, unabhängige Medien mit kompetenten und mutigen Journalisten, die Gründung säkularer Parteien und vor allem engagierte Frauen sind die eigentlichen Voraussetzungen für demokratische Transformation. Ohne einen grundlegenden Wandel in den Geschlechterbeziehungen und ohne eine klarere Trennung von Staat und Religion wird die arabische Welt keine gute Zukunft gewinnen können.

Der Weg, den Tunesien in den letzten zehn Jahren zurückgelegt hat, war mühsam und voller Rückschläge. Immer wieder forderten terroristische Angriffe wie im Jahr 2015 zahlreiche Menschenleben und führten zum Erliegen des Tourismus. Sie führten vor Augen, wie verwundbar die junge Demokratie bis heute ist. Die schwache Wirtschaft, die nach wie vor erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit und das steigende Staatsdefizit bleiben die Achillesfersen des Landes. Hinzu kommen eine häufig ineffiziente und aufgeblähte öffentliche Verwaltung, Korruption und Bürokratie.

Vor allem hat Tunesien ein Eliten-Problem. Nach wie vor dominiert eine oligarchische wirtschaftliche Oberschicht, ein rundes Dutzend wohlhabender und politisch einflussreicher Familien, das Geschehen. Statt im eigenen Land zu investieren, schaffen sie ihr Vermögen ins Ausland. Nicht wenige sehnen sich zurück nach den »guten alten Zeiten« unter Ben Ali.

Die politische Klasse erscheint derweil mit der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes heillos überfordert. Der desolate Zustand der Parteien und die totale Zersplitterung der Parteienlandschaft erweist sich immer mehr als eklatante Schwachstelle im demokratischen System. Die Gefahr, dass sich noch mehr junge Menschen ohne Arbeit, ohne Perspektive und ohne Vertrauen in den Staat und seine Institutionen frustriert und enttäuscht abwenden, ist groß. Bei ihnen wird der Wunsch nach Abwanderung ins Ausland weiter zunehmen.

Gescheiterte Revolution statt Zeitenwende?

Der Arabische Frühling hat kaum eine der mit ihm verbundenen Erwartungen erfüllt. Insofern kann man ihn als eine gescheiterte Revolution bezeichnen. Doch markiert er dennoch eine historische Zäsur. Er hat zum ersten Mal gezeigt, dass auch in der arabischen Welt die Menschen bereit sind, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen und dass sie in der Lage sind, Despoten zu stürzen. Heute, zehn Jahre später, werden überall in der Region die negativen Folgen von schlechter Regierungsführung, Korruption und Klientelwirtschaft immer deutlicher sichtbar. Die politische Legitimation der Herrschenden ist bei den meisten Menschen längst zerbrochen. Der Unmut über die Missstände wird bleiben und er wird weiter wachsen, wenn sich die wirtschaftliche Lage – wie zu befürchten – noch mehr verschlechtert. Ausgangssperren und Kontaktverbote, die während der Coronakrise verhängt wurden, haben als Nebeneffekt eine Reihe von Protesten vorübergehend eingedämmt.

Demokratische Transformationen sind langwierige und schwierige Prozesse, die sich weder verordnen lassen, noch über Nacht einstellen werden. Zudem müssen wir feststellen, dass die liberale Demokratie europäischer Prägung, entgegen mancher Hoffnung, nicht überall als Vorbild und bevorzugte Regierungsform angesehen wird. Wenn Europa künftig in den Ländern der arabischen Welt eine Rolle spielen will, muss die EU endlich eine gemeinsame Mittelmeerpolitik entwerfen und verfolgen, statt regelmäßig als Club miteinander rivalisierender Volkswirtschaften einzelner Mitgliedstaaten aufzutreten.

Die Chancen des Arabischen Frühlings hat Europa damals verschlafen. Doch wenn die Zeit dafür reif ist, werden die Unzufriedenen, die Mutigen, die Jungen, die sich ihre Zukunft nicht stehlen lassen wollen, wieder lauter nach Arbeit und Brot, nach Freiheit und Würde verlangen und eine Perspektive für ihr Leben einfordern. Sie werden dann auf die vergangenen Erfahrungen zurückgreifen und darauf aufbauen können. Der Arabische Frühling war ein starker Aufschlag. Weitere Erschütterungen werden folgen.

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