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Wolf Biermann und sein jahrzehntelanges Ringen mit Gott Zeugnisse eines Ungläubigen

Im Jahr 85 dieses Lebens denken einige, der Dichter Wolf Biermann sei bei lebendigem Leibe zu einem deutschen Denkmal geworden. Zum Geburtstagsfest im Berliner Ensemble am 17. November kam dann auch so ziemlich die komplette Staatsspitze, mit einem amtierenden und einem ehemaligen Bundespräsidenten, mit amtierender Bundeskanzlerin und einem Bundeskanzler in spe. Mehr hätten auch zu einem runden Jahrestag Heinrich Heines oder Bertolt Brechts nicht da sein können. Biermanns legendäres Tagebuch – versteckt und gerettet – liegt derweil in den Händen der Archivare der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Was aber die andächtigen Konservatoren nicht sehen, ist die Tatsache, dass Biermanns Tagebuch an jedem Tag dieses Jahres 2021 neue Einträge bekommt. Dem Dichter passt die starre Kruste der Verehrung nicht. Er sitzt nicht wie Brecht vor dem Berliner Ensemble als stummer Bronzemann auf einer Bronzebank mitten auf einem Platz seines Namens.

Nein, der »blutjunge Greis« (Biermann über Biermann) schreibt, spricht, singt, er spielt virtuos mit Witz, Wort und Gitarre. Sein zärtlicher Zorn ist nicht erloschen, im Gegenteil: Er ist uns nah. Er geht den deutschen Zuständen nicht nur erinnernd an Mauer und Stasi durch Mark und Bein, sondern ganz aktuell, in Pegida-, Coronaleugner-, Demokratieverächterzeiten.

Er weiß: So verlogen die Parteidiktatur der SED als wahre Freiheit posierte, so irrsinnig verhöhnen ihre Kinder nun die Freiheit als Diktatur. Er ist eben Zeitzeuge und -genosse, Zeuge vergangener und Genosse gegenwärtiger Zeiten. Und dass Wolf Biermann unsere Gegenwart warnend durchdringt, mit dem Wissen des am eigenen Leben erfahrenen Unrechts, macht sein neues Buch zum Ereignis.

Aber man soll sich nicht täuschen. Das Publikum bekommt hier keine pädagogische Übung. Biermann hebt nicht den Zeigefinger, sondern winkt heran und beginnt vertrauensvoll zu erzählen: »Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird.« Seines, das war die stolze atheistische Mutter, der jüdische Vater, beide Hamburger Kommunisten.

»Ich wurde in einem roten Nest ausgebrütet, wurde flügge auf einem brennenden Bolschewisten-Baum mitten in der braunen Nazi-Zeit. Noch prekärer: in einer jüdischen Kommunistenfamilie. Unsere gottlose Religion trank ich mit der Muttermilch.« Viele Seiten später greift der Erzähler diese Sache wieder auf. Vater Dagobert Biermann, aus dem Widerstand verhaftet und vor ein Nazi-Gericht gestellt, erwidert dem Richter: »Ich bin Jude!«

Was für ein Bekenntnis des Gottlosen in die unmittelbare Todesgefahr hinein! Als Kommunist hätte er davonkommen können. Als Jude niemals. Zuerst deportierten die Nazideutschen die Vaterfamilie aus Hamburg nach Minsk in den Vernichtungstod. Schließlich wurde der Vater selbst in Auschwitz ermordet. Diesem Vater, der aus allen Leibes- und Seelenkräften Widerstand aufbot gegen die dunkel gewordene Welt von Judenhass und Menschenmord, ist Wolf Biermann auf eine unentrinnbare und zugleich entschieden selbstgewählte Weise verpflichtet. Mit ihm macht er seine eigene »Jüdischkajt« aus. Mit ihm wendet er sich Israel zu. Ihm wird die letzte Zeile dieses Bekenntnisbuches gewidmet sein: »Mein Vater überlebt ja auch in meinem Lied«.

Zuvor jedoch geht es um den großen Bruch mit dem, was Wolf Biermann eingangs seinen »Kinderglauben« nennt. Auf 1983, das war acht Jahre nach seiner Ausbürgerung, datiert er seine tiefere Abkehr, will heißen, nicht nur vom SED-Regime, sondern vom Kommunismus als Idee. Dieser Unterschied ist entscheidend. Gegen die Parteibonzen verstand sich der Dissident Biermann noch als der bessere Kommunist. »Erst in den fremdvertrauten Freiheiten der Demokratie begriff ich, dass jeder Versuch, das Himmelreich auf die Erde zu zwingen, die Menschen unentrinnbar in immer tiefere Höllen zwingt.« Bitter war der Bruch, der »Verrat« am Ideal, das so lange Kraft zum Widerspruch geliefert hatte: »so überschwer, wie meines Vaters Vorbild wog in meinem Herzen«.

Wie nur und in welchem Sinne kann und wird der Sohn dem Vorbild dennoch treu sein? Die Frage leitet hinein in das Buch. Vielleicht erklärt sie gar die überraschende Wendung zum Gottesbild. Mensch Gott!, von Suhrkamp zu einem Schmuckstück geformt, versammelt Gedichte und Lieder aus sechs Jahrzehnten, sehr bekannte ebenso wie alte unbekannte und ganz neue.

Jeder Abschnitt ist eingeführt durch einen kurzen erzählenden Essay. Ein Buch, dem Glauben an Gott gewidmet, von einem Erzähler und Dichter, der auch im Alter nur an Gott als Menschenwerk glaubt. Soweit bleibt er bei dem kritisch-humanen Marx, dem die Religion der Schrei der bedrängten Kreatur war. Aber bei Biermann verändert sich der Sinn, denn er erklärt diesen Glauben nicht für obsolet, sondern schätzt ihn hoch ein, ein Menschenwerk, in dem der Mensch all seine transzendenten Wünsche und Träume, die beste Vorstellung seiner selbst aufgehoben hat und vor den Katastrophen der Wirklichkeit Schutz findet.

Wo alles zynisch wird und Enttäuschung ist, da überlebt dieser Gott – und wird emanzipatorisch. Daraus spricht Biermanns Erfahrung mit Christen in der DDR, in Polen, die gegen den Einschüchterungsstaat mutig für die Freiheit einstanden. Aber vor allem ist es die Entwicklung einer geläuterten Utopie. Für den Hausgebrauch gesprochen: »Rechne mit dem Schlimmsten, aber lass’ dir deinen Mut niemals klein machen.« Die Verrätselung der biblischen Offenbarungstexte übersetzt Wolf Biermann zurück ins Menschliche, so die »Schwindelstory über die himmlische Auferstehung« Christi, die zur Ermutigung wird, den Freiheitskampf, so oft er auch verlorengeht, immer wieder neu zu wagen. Darin bleibt der Vater nah.

Wenigstens zwei Gründe seien genannt, warum Mensch Gott! in die Hände ausgenüchterter Demokraten gehört: Zum einen entfacht hier ein altweiser Dichter einen so frischen Zukunftswind von Liberté, dass man den Sinn guter Politik darin wittern kann. Nur für den Fall, dass wir zwischenzeitlich die Fährte verloren haben. Desweiteren spricht hier einer aus proletarischem Hause, Sohn der Emma, Enkel der Oma Meume, und erinnert, dass Freiheit keine Sache bloß für Professor/innen und Geldmenschen, sondern Herzschlag und Hoffnung aller ist. Da singt einer für die Leute. Mensch, hör’ doch mal zu!

Wolf Biermann. Mensch Gott! Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 2021, 192 S., 22 €.

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