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Natur und Literatur Kanadas Zu viel Wildnis

Wäre der für Oktober 2020 geplante Auftritt Kanadas als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse nicht von der Coronapandemie auf eine digitale Präsentation beschränkt worden, so hätte die damals dem Ende entgegengehende Amtszeit Donald Trumps als Hintergrund den verblassten Mythos des Landes als Peaceable Kingdom und »besserer Teil Nordamerikas« noch einmal erstrahlen lassen. Im Frühherbst 2021 verbindet man Kanada nun eher mit Hitzewellen und Waldbränden und der Exhumierung Hunderter in Residential Schools umgekommener Kinder von Indigenen.

Wer, wie der langjährige Korrespondent Gerd Braune, im dem Land zu Hause war, hatte freilich schon 2020 beobachten können, dass Kanadas Nimbus zu erlöschen begann. In seinem Buch Indigene Völker in Kanada schreibt er: »Als [im Frühjahr 2020] zwischen Toronto und Kingston die Polizei auf dem Territorium Tyendinaga der Mohawk die Blockade einer der wichtigsten Eisenbahnlinien des Landes räumt und einige Demonstranten vorübergehend festnimmt, sind Plakate zu sehen, die postulieren: ›Reconciliation is dead!‹ – Die Versöhnung ist tot.«

Das liegt auch an der demografischen Entwicklung eines klassischen Einwanderungslandes, dessen Neubürger mit ihrer eigenen Integration beschäftigt sind. Bei der Volkszählung von 2006 hatte Kanada 34 Millionen Einwohner, von denen lediglich 1.172.790 angaben, indigener Herkunft zu sein, was 3,8 % der Bevölkerung entsprach, während 3,2 Millionen, also fast 10 %, deutscher Herkunft waren. Zwar präsentiert sich das Land auf Briefmarken und Banknoten mit dem Antlitz der britischen Königin als Teil des Commonwealth, aber 23,8 % seiner heute rund 38 Millionen Einwohner sprechen Französisch als Erstsprache. Seit dem frühen 17. Jahrhundert hatten weite Teile des heutigen Kanadas zu Frankreich gehört, und auch die zu den Indigenen zählenden Métis sind überwiegend Nachfahren französischer Jäger und indigener Frauen. Während die Angehörigen der First Nations 2006 rund 690.000 Menschen zählten, gab es rund 390.000 Métis und 50.500 Inuit.

Die indigenen Völker Kanadas sind also eine Minderheit nicht nur gegenüber den Einwanderern schlechthin, sondern auch gegenüber den wichtigsten Gruppen von Einwanderern. Was die Versöhnung heute so schwer macht, reicht zurück in eine ferne Zeit, als Samuel de Champlain »am 3. Juli 1608 im Gebiet der heutigen Stadt Québec Anker warf« und eine Gemeinde gründete, »welche die Keimzelle von ›Nouvelle France‹ und Frankreichs Herrschaftsgebiet in Nordamerika werden sollte«. Das war zehn Jahre vor dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges in Europa, der dort unaussprechliche Gräuel gegen dessen eigene indigene Bevölkerung mit sich brachte. Wer vor diesem und anderen Schrecken der übrigen Welt nach Kanada entkommen war, begegnete dessen Urbevölkerung oft mit einer aparten Indifferenz, die Kanadas bekannteste Autorin Margaret Atwood am Beispiel von Leonard Cohens Roman Beautiful Losers beschreibt: »Schöne Verlierer schildert nicht nur das Leid des Opfers, sondern auch die Geisteshaltung des kanadischen Betrachters, der sich unbedingt mit den Opfern identifizieren will.«

Überleben in der Natur

Als Atwood dies 1972 in ihrer Geschichte der Literatur Kanadas schrieb, war die Rolle der Indigenen ein Stoff für weiße Autoren gewesen, auch wenn sie damals schon einige indianisch nannten. In den Neuerscheinungen kanadischer Literatur finden sich heute zwar neben einer Comic-Biografie des rebellischen Métis-Politikers und Gründers der Provinz Manitoba Louis Riel (1844–1885) viele Werke indigener Autoren, doch die Liste zeigt auch, warum das Motto des Messeauftritts »Singular Plurality – Singulier Pluriel« (Einzigartige Vielfalt) für Kanadas indigene Völker einen Pferdefuß hat. Angesichts der Zuwanderung aus Japan und Taiwan, Mitteleuropa, der Karibik, Afrika und dem Orient sind sie nicht nur eine Minderheit im eigenen Lande, sondern auch eine unter vielen anderen. Die Kanadier heute sind Menschen aus allen Teilen der Erde in einem Land von der Größe Europas und mit einem riesigen Hinterland, dessen Klima nach unseren Maßstäben menschen-, ja lebensfeindlich anmutet.

Weite Teile liegen (noch) in Dauerfrostregionen, aber seine großen Städte liegen keineswegs auf skandinavischen Breitengraden. Braune schreibt in seinem Länderporträt: »Montréal, Toronto oder Ottawa (…) liegen südlicher als Deutschland, Toronto und die Niagara-Region sogar auf dem Breitengrad von Florenz«. Aber wie in Skandinavien, wie in Russland und den USA steht den besiedelten Zonen ein Hinterland gegenüber, in dem ahnungslose Städter selbst im Sommer kaum einige Tage überleben würden: wilde Tiere, feindselige Menschen, Hunger und Kälte. Diese Faktoren kulminieren im Tod durch Wildnis, bei dem ein Mensch einsam in der Natur verrückt wird: »Legenden um den indianischen Rachegeist Wendigo werden mit dieser Todesart in Verbindung gebracht – der Protagonist sieht zu viel Wildnis und verwildert gewissermaßen innerlich, wird selbst Wildnis und legt alles Menschliche ab.«

Ihren 1972 erschienenen »Streifzug durch die kanadische Literatur« begann Atwood deshalb mit einer »dramatischen Pauschalisierung«, derzufolge jedem Land und jeder Kultur »ein einziges verbindendes und prägendes Symbol zugrunde liegt«. Für die USA sei das die »Frontier«, die Grenze, für England die Insel. Das Grundthema der anglophonen aber auch frankophonen Literatur ihrer Heimat sei das »Überleben, Survival, La Survivance«. Maliziös führt Atwood das Scheitern von Dichtern und Dichterinnen an der Poetisierung von Kanadas Natur vor. Erhaben ist diese zweifellos, aber dann auch auf gar nicht sublime Weise voll von »Ungeziefer, Sümpfen, Baumwurzeln und anderen Einwanderern«. »Kein Zeichen, kein Symbol am Himmel prangt«, und wo sich der Blick ins Weite hebt, wiederholt sich das Immergleiche. Noch in Ein Land ohne Mythologie von Douglas LePan (1914–1998) bleibe die »Sehnsucht nach einer Naturerfahrung wie bei Wordworth« ungestillt: »Doch alles bleibt. / Meilenweit nur ringendes Wurzelgeflecht, / Wildreis, Sümpfe, Schlingraut, ans Kanu gekrallt, / wilde Vögel hysterisch in wirren Bäumen«. Die existenzielle Bedrohung durch »zu viel Wildnis« zermürbt nicht durch einzigartige Vielfalt, sondern durch ewige Wiederholung des Immergleichen.

Wie überlebt die Natur?

Dass einer Literatur mit dem inneren Grundmotiv des Überlebens in der Wildnis ein autochtoner Anschluss an die literarische Moderne schwerfiel, verwundert nicht. Von den Autorinnen und Autoren Kanadas, die Atwood 1972 nennt, nehmen heute lediglich eine Handvoll höhere Ränge in der aktuellen Weltliteratur ein. Neben ihr selbst sind das ihre Kollegin und spätere Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro sowie ihre Kollegen Mordecai Richler, Michael Ondaatje und Leonard Cohen. Noch magerer fällt Kanadas Ergebnis in dem Kurs aus, den der tschechische Exilautor Josef Škvorecký sein literarisches alter Ego Danny Smiricky im Roman The Engineer of Human Souls (1977/84) an einer kanadischen Universität über englischsprachige Literatur halten lässt. Mit Ausnahme des in England eingebürgerten Polen Joseph Conrad stammen deren Repräsentanten – Poe, Hawthorne, Twain, Crane, Fitzgerald und Lovecraft – allesamt aus den USA.

Das Raffinierte an Škvoreckýs Romankonstruktion ist, dass sie sich bei der Darstellung der Erfahrungen ihres tschechischen Protagonisten – an seine Jugend im von Deutschen besetzten Prag, an Faschismus, Widerstand, Massenmord, KZs, Stalinismus und Exil – an die Werke der behandelten Autoren anlehnt, von denen Poe und Lovecraft nebenbei zu Begründern des literarischen Horrors zählen. Dieser aber kommt aus den Abgründen der menschlichen Seele und nicht der kalten Finsternis kanadischer Winter, und es fällt auf, dass Škvorecký mit Herman Melville ausgerechnet jenen Autor ausspart, der mit Moby Dick die mythische Gewalt der Natur verkörpert hat.

Wandel des Überlebenskonzeptes

Während Atwoods kanadisches Überlebenskonzept noch vom Widerstehen gegen eine lebensfeindliche Natur geprägt war, geht es in der Literatur der Moderne um andere Bedrohungen. Wenn das Ich sich nicht in seinen eigenen Abgründen und inneren Monologen verliert, so heißt Überleben darin, andere Menschen beim Streben nach Glück zu übertrumpfen oder der Verfolgung durch die Büttel totalitärer Ideologien zu widerstehen. Und wer den Kriegen und Lagern Europas nach Kanada entkommen war, wird erleichtert gewesen sein, dass dort ein tollwütiger Grizzly oder ein Eissturm das Schlimmste war, worauf man gefasst sein musste.

So ist die Weltliteratur in Gestalt von Menschen, Büchern und Themen nach Kanada eingewandert, die die Vorstellung einer Nationalliteratur irgendwo im 19. Jahrhundert hinter sich gelassen hatten. Natur erschien ihr nicht mehr als existenzielle Bedrohung, sondern als romantisiert oder belanglos und schließlich selbst als bedroht und schutzbedürftig. 1970 sang Kanadas bedeutendste Songschreiberin Joni Mitchell in Big Yellow Taxi »They paved paradise / And put up a parking lot« und damit eine frühe Hymne der aufkommenden Umweltschutzbewegung. Von den weit fundamentaleren Wandlungen, die die Natur Kanadas in Zeiten des Klimawandels durchmacht, konnte sie damals noch nichts ahnen. Mag die von Atwood konstatierte Survival-Fixiertheit lange Zeit rückständig erschienen sein, so ist sie heute realistischer als die moderne und postmoderne Selbstbespiegelung einer Menschheit, die glaubte, die Natur längst schon überwunden zu haben.

»In der Arktis schmilzt nicht nur das Meereis«, schreibt Braune in seinem Länderporträt, »auch der Permafrostboden taut auf und die fortschreitende Erosion an den nördlichen Küsten bedroht küstennahe Gemeinden. Der Lebensstil der Inuit ist vom Klimawandel ebenso betroffen wie der Lebensraum vieler Tiere. Eisbären, Walrosse und arktische Seevögel brauchen das Eis. Gleichzeitig erlebt Kanada immense Waldbrände und Hitzewellen, die die Gesundheit von Mensch und Tier bedrohen und den Farmern das Leben schwer machen.« So wird in Kanada, wie am Amazonas, wie in Sibirien, wie in den USA offenbar, dass es auf der Erde keine unangetastete Natur mehr gibt, aber unter der antastbaren eine rohe Natur, die menschen- und lebensfeindlich ist. Was wir als Inbegriff von Natur empfunden haben – endlose Wälder und Tundren, schneebedeckte Wipfel, »zu viel Wildnis« –, fällt einem fundamentalen Wandel anheim, ändert seine Aggregatzustände und droht, sich in heiße Luft und grundlose Schlammmeere aufzulösen. Dass der Umgang mit der Natur eine Überlebensfrage ist, wird damit zu einer höchst aktuellen Einsicht.

Margaret Atwood: Survival. Ein Streifzug durch die kanadische Literatur. Piper, München 2021, 336 S., 22 €. – Gerd Braune: Indigene Völker in Kanada. Der schwere Weg zur Verständigung. Ch. Links, Berlin 2020, 272 S., 20 €. – Gerd Braune: Kanada. Ein Länderporträt. Ch. Links, Berlin 2021, 256 S., 18 €.

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