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Ein Sammelband zu Ehren von Christoph Zöpel eruiert die Herausforderungen im 21. Jahrhundert Zukunft denken und verantworten

Als Hans Blumenberg Ende der 70er Jahre sein Opus magnum Die Lesbarkeit der Welt veröffentlichte, hatte »die Theorie«, wie der Autor selbst am Ende seines Buches schreibt, »schon die Eselsbrücke der Veranschaulichung«, als die die Metapher der Lesbarkeit fungierte, hinter sich abgebrochen. Die Welt war längst zu komplex geworden, als dass sie noch als ein sinnhaftes Ganzes in einer Zusammenschau angeeignet und als Buch gelesen werden konnte. Heute müssen wir uns sogar fragen, ob es »die Wissenschaft«, die lange als Autorität unangefochten schien, als integrierendes Deutungssystem noch gibt oder ob wir es stattdessen mit einer stetig wachsenden Zahl hochspezialisierter »Wissenschaften« im Plural zu tun haben, deren Methoden und Ergebnisse sich nicht selten widersprechen und auch für Experten in den jeweils anderen Wissenschaften, erst recht für die große Mehrheit der nicht wissenschaftlich arbeitenden Menschen kaum mehr lesbar sind. Die Philosophie, die seit dem 14. Jahrhundert die Religion als dominierendes Deutungssystem zunehmend verdrängte und für kurze Zeit – zumindest unter Intellektuellen – zur unbestrittenen Königsdisziplin avancierte, ist inzwischen längst entthront und versucht sich heute als Spezialistin für Grundsätzliches und Lebensberaterin einer weitgehend desillusionierten und verwirrten Öffentlichkeit dienstbar zu erweisen.

In dem 800 Seiten umfassenden Band Zukunft denken und verantworten, den Wolfgang Roters (Ministerialdirigent), Horst Gräf (Professor für Stadtentwicklung) und Hellmut Wollmann (Professor für Verwaltungswissenschaft) herausgegeben haben, geht es, wenn man die Einleitung und die ersten vier, fünf Beiträge liest, um die Frage, wie im 21. Jahrhundert die Zukunft der Weltgesellschaft und wie angesichts von Globalisierung und wachsender Komplexität eine vernünftige und verantwortbare Politik auf lokaler und globaler Ebene aussehen könnte. Schnell wird aber deutlich, dass es sich eben nicht um ein übliches Sachbuch handelt, sondern auch um eine Festschrift für den Politiker und Stadtplaner Christoph Zöpel. So beziehen sich nicht alle Beiträge auf die in der Einleitung thematisierte Problemstellung, was es dem Rezensenten nicht eben einfach macht.

Ich fokussiere deshalb hier auf einen Themenstrang, den ich für besonders wichtig halte, und behandele diesen einigermaßen angemessen. Meine Fragestellung dabei: Genügt es, das Konzept des traditionellen Fortschritts mit den drei Wachstumsmotoren Wissenschaft, Technik und Marktwirtschaft, das in den letzten 200 Jahren für immensen Wohlstand gesorgt hat, um einige weitere Aspekte wie Digitalisierung mit dem Ziel der Effizienzsteigerung und Maßnahmen zur Dekarbonisierung zu erweitern, um die Zerstörung der Biosphäre aufzuhalten und eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen, oder geht es heute um eine grundlegende Veränderung unserer Produktionsweise und unseres Konsumverhaltens und damit zugleich um eine andere Vorstellung von einem guten Leben auf unserem begrenzten Planeten Erde?

Die beiden einleitenden Aufsätze von Wolfgang Roters und Dieter Grunow behandeln vor allem methodische Fragen, d. h. Begriffsklärungen und die genaue Kennzeichnung der zu behandelnden Probleme sowie die präferierte Vorgehensweise bei dem Versuch ihrer Lösung. Zwar ist auch hier von der Notwendigkeit eines Kurswechsels zur Nachhaltigkeit die Rede, es wird vor weiteren Finanzcrashs nach dem Muster der Lehman-Krise gewarnt, die zu erwarten seien, wenn das Weltfinanzsystem nicht grundsätzlich neu geregelt werde (Grunow), und das Anthropozän wird als angemessene Bezeichnung für das gegenwärtige Erdzeitalter herangezogen, womit ein grundlegend neues Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Natur signalisiert werde (Roters). Dennoch bleiben beide Autoren weitgehend dem traditionellen Fortschrittsdenken verhaftet. Vor allem Grunows Festhalten an der luhmannschen Systemtheorie und damit an der Akzeptanz der Eigenlogik von Teilsystemen wie Markt/Wirtschaft und Recht behindert letztlich seinen Blick auf grundsätzlich andere Entwicklungsperspektiven jenseits der eingeübten Verwaltungsroutinen.

Das ist bei den beiden folgenden Beiträgen von Rolf Kreibich und Harald Welzer anders. Kreibich entwickelt seine Vorstellungen einer nachhaltigen Gesellschaft, indem er die 1992 von den Vereinten Nationen in Rio de Janeiro beschlossene Agenda 21 zum verbindlichen Rahmen für das politische Handeln der nächsten Jahrzehnte erklärt und daran die Forderung nach weitreichenden Strukturreformen anschließt. Die Durchsetzung einer dieser Leitlinie folgenden koordinierten Weltpolitik hält er nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich, weil den meisten Politikern heute klar sei, dass die Vorteile eines solchen Kurswechsels bei Weitem die Nachteile überwiegen. »Wir können heute mit Gewissheit sagen, dass die nachhaltige Entwicklung viele Gewinner und nur wenige Verlierer hat.« Freilich, gerade dieser Hinweis auf die Vorteile einer nachhaltigen Entwicklung wird bei Kreibich nicht näher expliziert, sodass er leicht dahin (miss)verstanden werden könnte, dass hier mit »Vorteilen« vor allem oder ausschließlich materielle Vorteile gemeint sind. Harald Welzer dagegen konzentriert sich nicht wie Kreibich allein auf die naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Aspekte einer Entwicklung zur Nachhaltigkeit, sondern skizziert eine »konkrete Utopie« einer nachhaltigen Gesellschaft, in der auch immaterielle und psychologische Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. Es geht, so Welzer, nicht nur darum, eine Katastrophe abzuwenden oder Schlimmeres zu verhüten, es geht um den möglichen menschlichen Gewinn durch eine »nachhaltige Lebenskunst«, die das Glück nicht mehr ausschließlich in gesteigertem Privatkonsum sucht, sondern stärker auf Bereitstellung öffentlicher Güter und auf Zeitwohlstand setzt. »Die nachhaltige Gesellschaft, die das Primat der Ökonomie durch das der Ökologie ersetzt«, so Welzer weiter, erfordert allerdings nicht die Verstaatlichung aller Lebenssphären und die Abschaffung der Marktwirtschaft, sondern »stellt ›den Markt‹ dagegen wieder in eine dienende Funktion«.

Svenja Schulze steuert einen Beitrag unter dem Titel »Den sozialen und ökologischen Umbau mutig gestalten« bei, der die ökologischen Fragen im Zusammenhang vieler sich überlagernder Krisen – Klimakrise, Biodiversitätskrise, Flüchtlingskrise, Rechtspopulismus, Corona usw. – diskutiert und dabei deutlich werden lässt, dass die ökologischen Probleme eng mit den wachsenden sozialen Problemen auf der Welt zusammenhängen.

Warum dieser Beitrag nicht mit denen von Welzer und Grunow zusammen im Teil 1 »Zukunft und Zukünfte« platziert ist, sondern im Teil 3 unter der Überschrift »Herausforderungen«, ist nicht ganz nachvollziehbar. Die An- und Zuordnung der vielen zum Teil durchaus inhaltsreichen und gut geschriebenen Beiträge ist insgesamt nach meiner Wahrnehmung eher ein Manko. So finden sich im Teil 4 unter der Überschrift »Staat und Politik« Wolfgang Thierses »Nach 30 Jahren. Ein freundlicher Blick auf die Deutsche Vereinigung«, Jürgen Rüttgers' »Smart City und der ›European Way of Life‹«, Thomas Meyers »Das Vermächtnis der Arbeiterbewegung und die Zukunft der Demokratie« und mehrere Beiträge zur Zukunft der Bildung und der Rolle der Digitalisierung. Was diese Texte miteinander verbindet, wird nicht recht klar.

Das Buch wirft zwar sehr grundlegende Fragen auf, die ein politisches Weiter-so eigentlich unmöglich erscheinen lassen, fährt dann aber in vielen Beiträgen dennoch ungerührt mit pragmatischem business as usual fort. Klaus Töpfer etwa reiht über sieben Seiten eine biblische Plage an die andere (Corona-, Klima-, Hunger- und Ungleichheitskrise), warnt im Anschluss an Herfried Münkler vor einem möglichen Scheitern der Parlamentarischen Demokratie und davor, dass die Menschheit sich im Anthropozän auf eine gefährliche Terra incognita großkalibriger Geo-Engineering-Projekte mit verheerenden Konsequenzen einlassen könnte, nur um am Ende als einzigen Ausweg, das Festhalten an der »politischen, der demokratischen Entscheidung« zu empfehlen, von der er zuvor im Anschluss an Münkler vorausgesagt hat, dass ihr Überleben nicht eben wahrscheinlich ist.

Die Beiträge in diesem Buch, die am ehesten das Denken und Wirken desjenigen charakterisieren, dem das Werk gewidmet ist, sind in den Teilen 5 und 6, die sich unter den Überschriften »Stadt und Ruhr« mit Problemen der baulichen, infrastrukturellen und kulturellen Entwicklung von Stadträumen, insbesondere der Metropolregion Ruhr, befassen, zu finden. Hier lässt sich der Denk- und Handlungsstil des Wissenschaftlers und Politikers Christoph Zöpel deutlich erkennen. Die 20 Texte, die sich mit dem Thema einer nachhaltigen Raum- und Stadtplanung – vornehmlich am Beispiel des Ruhrgebiets – beschäftigen, sind auch deswegen besonders interessant., weil sie nicht, wie immer noch weithin üblich, auf Abbruch und Neubau im großen Stil setzen, sondern von vornherein die kulturelle und industriegeschichtliche Vergangenheit der Region mit einbeziehen. Der von Christoph Zöpel geprägte Begriff der Ruhrbanität macht deutlich, dass es ihm und seinen Mitstreitern von Anfang an nicht darum ging, die komplizierte und vielfach beschädigte Siedlungs- und Industrielandschaft des Ruhrgebiets in eine weitere gesichtslose Hochhaus- und Verkehrsstraßenmetropole zu verwandeln. Im Gegenteil sorgten sie dafür, dass an vielen Orten alte Industrie- und Zechenanlagen zu Museen und Veranstaltungsorten umgewandelt wurden, alte Stadtkerne und repräsentative Bauten vorsichtig renoviert, Gewässer wie die Emscher reanimiert, Grünzüge und Naherholungsräume in der ganzen Region in die Planung aufgenommen wurden.

Es ist eine solche Mischung aus planerischer Kühnheit und Behutsamkeit im Umgang mit dem gewachsenen Oikos, die angesichts der kaum bezweifelbaren Tatsache, dass der Mensch heute zu dem entscheidenden erdgeschichtlichen Einflussfaktor geworden ist, besonders wichtig ist, damit die Anerkennung des Anthropozäns uns nicht zu gefährlichem Größen- und Machbarkeitswahn verleitet. Wie die Grenzen der Lesbarkeit der Welt uns zu neuem Staunen führen mögen, so sollte uns die Einsicht in die Grenzen der Machbarkeit wieder für die Aufgabe sensibilisieren, komplexe Lebensräume als Orte der Humanität zu schaffen und zu hegen.

Wolfgang Roters/Horst Gräf/Hellmut Wollmann (Hg.): Zukunft denken und verantworten. Herausforderungen für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Springer VS, Heidelberg 2020, 808 S., 69,99 €.

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