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Zum Leben und Wirken von Walter Dirks (1901–1991)

Im Januar 1985 wurde der 84-jährige Walter Dirks gemeinsam mit dem zwei Jahre später verstorbenen Eugen Kogon Mitherausgeber der neuen Monatszeitschrift Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Es ging dem damaligen Chefredakteur Peter Glotz mit der Fusion, dem unsere Zeitschrift ihren sperrigen Namen verdankt, darum, die seit 1954 bestehende Die Neue Gesellschaft – ihr Name knüpfte an den der SPD-Theoriezeitschrift Die Gesellschaft (1924–33) der Weimarer Republik an – zu öffnen für kulturelle und intellektuelle Debatten des kritischen Bürgertums und aufgeklärten Feuilletons.

Bereits im April 1946 hatten Dirks und Kogon die Frankfurter Hefte gegründet, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt fast 70.000 Abonnenten hatten. Die Frankfurter Hefte hatten in den 50er Jahren einen nicht hoch genug einzuschätzenden Einfluss auf das geistige Klima der Bundesrepublik. Hier artikulierte sich der Widerstand gegen die westdeutsche Restauration, hier manifestierte sich der Antifaschismus der deutschen Intellektuellen. Nach der totalen Niederlage und der Befreiung vom Faschismus von außen stand der moralische und geistige Neubeginn, zunächst nur jenseits von Kapitalismus und Nationalismus denkbar, auf der Tagesordnung. Dazu strebten die Frankfurter Hefte, in den Worten von Dirks, »ein Bündnis der Arbeiter-Mehrheit, der Links-Bürger und der Katholiken« an. Wiewohl Dirks kein SPD-Parteimitglied war, war man links der Mitte nie weit auseinander. »Themen und Autoren stimmten häufig überein, beide Zeitschriften versuchten, ihr Teil zu einer ›neuen Gesellschaft‹ beizutragen, die auch wiederum bei beiden eine demokratisch-sozialistische sein sollte«, hieß es in der letzten Ausgabe der NG. Bis heute fühlt sich die NG|FH – auch durch den Mitherausgeber Wolfgang Thierse – dem Erbe des kritischen Katholizismus verpflichtet, stellt sich Fragen christlicher wie humanistischer Werte.

Entsprechend ist es, zumal eine umfassende Biografie noch aussteht, unsere Chronistenpflicht, auf den Sammelband »Sagen, was ist« mit vielen Aspekten des publizistischen und intellektuellen Lebens von Walter Dirks hinzuweisen – entstanden nach einer vor Jahren stattgefundenen Konferenz im Archiv der sozialen Demokratie der Friedich-Ebert-Stiftung. Man lernt in dem Band nicht nur Dirks als engagierten Intellektuellen kennen, als umtriebigen Autor, kritischen Journalisten und Kommentator der Zeitläufe, auch in der seinerzeit neuen föderalen und öffentlich-rechtlichen Radiokultur. Sein Wirken ist eingebettet in Aufsätze zur politischen Kultur besonders der unmittelbaren Nachkriegszeit, der 50er und der frühen 60er Jahre. In dem Buch, das in die drei Teile »Intellektuelle Gründung der Bundesrepublik«, »Linkskatholizismus« sowie »Europa und Dritter Weg« gegliedert ist, werden viele Richtungsdebatten der jungen Bundesrepublik lebendig, Debatten, die in der Konzentration auf »68 und die Folgen« oft in den Hintergrund geraten sind.

Das frühe Programm von Dirks und den Frankfurter Heften hieß: »Die Zeitschrift (...) wolle der geistigen Klärung der Grundlagen des deutschen und europäischen Wiederaufbaus dienen«. Aus der Analyse, »jener tiefer sitzenden zum Teil sehr alten Überlieferung der deutschen Geschichte«, wurde eine Haltung anhaltender Opposition gegenüber der bestehenden Ordnung, die er nie ganz verlieren sollte.

Dirks geistige Unabhängigkeit entzog sich gängigen Einordnungen, er fühlte sich »zwischen den Stühlen« und sprach davon, »die Tugenden der Rechten zu haben (Ehrfurcht, Disziplin, Treue) und die Handlungen der Linken zu tun«. Er definierte, sicher auch mit Blick auf sich selbst, den öffentlichen Schriftsteller, den »Publizisten«, bereits im Jahr 1947 als einen »Mann, der die Wahrheit« sagt und zwar im Hinblick auf das Allgemeine, auf das, was alle Menschen untereinander verbinde. Zeitlebens war für sein Denken dreierlei typisch:

Erstens: Er war gläubiger Katholik, ja auch kurzzeitiges Gründungsmitglied der Frankfurter CDU, wurde geradezu zu der Symbolfigur des deutschen Linkskatholizismus, der von den Weimarer Jahren bis zur bundesdeutschen Friedensbewegung in die 80er Jahre hinein über verschiedene Kreise, Bewegungen, Initiativen und Organisationen durchaus einflussreich war. Der Linkskatholizismus beschäftigte sich nicht nur mit Fragen der Reform und Demokratisierung der Kirche, strebte nicht nur eine Neugestaltung der katholischen Lebenswelt aus dem Engagement des Einzelnen heraus an, sondern ist darüber hinaus gekennzeichnet durch eine kosmopolitisch-transnationale, das Bündnis von Kirche und Nationalismus-Militarismus ablehnende Ausrichtung. Er wurde durch den Geist von Versöhnung und Pazifismus geprägt bis hin zum von Dirks 1966 mitgegründeten Bensberger Kreis, in dem die Aussöhnung mit Polen eine besondere Rolle spielte. Manchem ging es auch um eine kapitalismuskritische Auslegung der katholischen Soziallehre und gar um die Suche nach einer Wahlverwandtschaft zwischen Marxismus und Christentum. Wolfgang Thierse schrieb in der NG|FH 2011: »Walter Dirks hat einen weltzugewandten, sozial sensiblen und kulturell aufgeschlossenen Katholizismus verteidigt – und gelebt.«

Zweitens: Er war überzeugter, wiewohl parteiloser demokratischer Sozialist, der, wie Peter Glotz mal leicht indigniert anmerkte, »in den späten Achtzigern das Wort Sozialismus so selbstverständlich in den Mund (nahm), wie im Herbst 1945«. Das war die lebenslang sich treu bleibende Suche nach einer »gerechten Ordnung«, die grundsätzliche Positionierung als dritter Weg (nicht Kapitalismus, nicht Sowjetkommunismus), von ihm bezeichnet als »unkonventioneller« Sozialismus und als »Sozialismus aus christlicher Verantwortung«. Ein solcher »freiheitlicher Sozialismus« bedeutete für Dirks gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung, Wirtschaftsdemokratie, Genossenschaftsgedanken und Eigentumsbildung der besitzlosen Schichten. Es ging eben nicht um Kollektivismus, sondern darum, die Idee einer Politik der sozialen Reformen und des sozialen Ausgleichs mit der »alten abendländischen Idee der freien und verantwortlichen Persönlichkeit« zu verbinden. An der SPD kritisierte er, was manchem höchst tagesaktuell vorkommen mag, dass deren Selbstgerechtigkeit und Pragmatismus zu stark sei, sie solle »wieder analytisch und utopisch werden«, analytisch im Hinblick auf die gesellschaftlichen Missstände und utopisch mit Blick auf das Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft.

Drittens: Er war ein glühender Europäer, seit Kriegsende sah er die Notwendigkeit, Deutschland europäisch einzubetten, sah er in der europäischen Verständigung eine der wichtigsten Konsequenzen aus dem deutschen Expansionsdrang und dem Völkermorden der Nazibarbarei. Er engagierte sich für die deutsch-französische ebenso wie für die deutsch-polnische Verständigung. Auch sein – allerdings vor allem – essayistisches Engagement gegen Aufrüstung und Atomwaffen in den 50er Jahren und auch noch einmal, Pax Christi unterstützend, in der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre hat hiermit zu tun. Seine Vision einer Konföderation der europäischen Völker, in die ein föderalistisch organisiertes, zudem vereintes Deutschland einmünden sollte, klingt äußerst aktuell. Auch Dirks trieben schon Fragen um, wie viel Integration und Zentralität eine europäische Ordnung eigentlich verträgt.

Eine Bibliografie seiner Schriften zählt für den Zeitraum zwischen 1921 und 1991 4.108 Titel, vor allem Zeitungsartikel, aber auch wissenschaftliche Aufsätze und eine ganze Reihe von Büchern. Sein wohl berühmtester Text heißt »Der restaurative Charakter der Epoche«, veröffentlicht im September 1950 in den Frankfurter Heften. Früh zerrannen bereits die Hoffnungen der »Stunde Null« (die es so natürlich nicht gab), des Aufbruchs in eine bessere Zukunft, auf einen neuen Geist und eine gerechte Gesellschaft. Was sich vollzog, so Dirks, war »die Wiederherstellung der alten Welt«. Wiederaufbau hieß die Parole, aber »Angst, Bedürfnis nach Sicherheit und Bequemlichkeit« siegten über »Mut, Wahrheit und Opfer«. Dies hatte zunächst wohl noch mit zeitverhafteten Illusionen und gewissen Revolutionssehnsüchten zu tun, mündete aber bald in der festen Rolle des kritischen Oppositionellen, auch des Warners und Außenseiters, des intellektuellen Gegenspielers zum »neoliberal-christlich-demokratischen Regiment« von Konrad Adenauer. Dirks beharrte auf dem vermeintlichen Nachkriegskonsens von Humanismus, Christentum und Demokratie und hielt trotz Westbindung und Remilitarisierung an der deutschen Einheit fest. Was auch eine Äquidistanz in der Blockkonfrontation bedeutete: Im Westen, so lautet die vielleicht leicht elitär-intellektuelle Kritik, werde der Mensch vielfach zum Kaufkraftträger erniedrigt, im Osten werde er durch die Methode des diktatorischen Zwanges zum Werkzeug und Opfer totalitärer Herrschaft. Die Abwehr jeglicher Fremdbestimmung von außen und die Kritik an deutschen Kontinuitäten des Adenauer-Staates – das war der Kampf seines Lebens.

Ulrich Bröckling schrieb zu seinem zehnten Todestag in der NG|FH: »Und doch: Wer etwas über die politischen Hoffnungen und Enttäuschungen des vergangenen Jahrhunderts lesen will, der lese Walter Dirks.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Benedikt Brunner/Thomas Großbölting/Klaus Große Kracht/Meik Woyke (Hg.): »Sagen, was ist«. Walter Dirks in den intellektuellen und politischen Konstellationen Deutschlands und Europas- J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019, 288 S., 32 €.

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