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Zum theoretischen Aufbruch von 68

Die Nachkriegszeit, mehr Restauration als Neubeginn, war durch Anpassung, Rückzug und Entpolitisierung geprägt. Beschwiegene Schuld wurde durch spießbürgerliche Familienidylle, fleißigen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder kompensiert. Autoritärer Habitus, Bigotterie, Etikette und Sicherheitswahn (»keine Experimente«, so Konrad Adenauer) ersetzten Selbstprüfung, kritisches Denken und Aufarbeitung. Überhaupt war die Kategorie der Gesellschaft den »Ruinenkindern« (Heinz Bude) beim Überlebenskampf oder auf dem Weg zum eigenen Wohlstand in der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) abhandengekommen.

Der kulturelle Aufruhr begann bereits Anfang der 60er Jahre, man denke nur an die Protestsongs von Joan Baez und Bob Dylan oder an die jungen Beatles. Die »Schwabinger Krawalle« im Juni 1962, fünf Tage blutige Auseinandersetzungen zwischen »Teenagern« und der Polizei auf der Straße, waren ein Vorbote der Revolte. Bereits durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer richtete sich der Blick auf die Massenmorde während der Zeit des Nationalsozialismus. Gleichzeitig hatte der geistige Umbruch begonnen, etwa durch die Wende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zur linkssozialistischen und antiautoritären Studentenorganisation nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD 1961. Die Frankfurter Schule, die ab 1931 als Kritische Theorie entwickelte Sozialphilosophie eines gebrochenen Neomarxismus, entfaltete intellektuelle Dominanz. DER SPIEGEL schrieb 1967 über das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« als der »Ordensburg der bundesrepublikanischen revolutionären Intelligentsia«.

Ohne diese Kritische Theorie wäre das apolitische Nachkriegsbild vom »kleinen Mann«, der am Lauf der Dinge eh nichts ändern könne (der höchstens belogen, verführt, voll verratener Ideale einer falschen Sache diente), kaum so schnell unzeitgemäß geworden. Nicht wenige der neuen Begriffs-, Denk- und Erklärungsmuster verbreiteten sich weit über unmittelbare Anhänger und die studentische Protestavantgarde hinaus. Es gehörte bald zum geistig-kulturellen Allgemeingut, dass sich Geschichte als gesellschaftlicher Prozess sozial miteinander verknüpft handelnder Akteure vollzieht, als direkte oder indirekte soziale Interaktion auf der Basis von Werten, Weltbildern, Interessen und Parteinahmen.

Die marxistisch inspirierte Fundamentalkritik der bestehenden Verhältnisse durch die Frankfurter Schule war vielfach ein Ausgangspunkt: Theodor W. Adornos Studien zum autoritären Charakter und sein Verdikt in Minima Moralia: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, was als Aufruf zur umfassenden Rebellion missverstanden wurde; Wilhelm Reichs massenpsychologische Analysen, die Marxismus mit Psychoanalyse und Sexualtheorie verbanden; Herbert Marcuses »große Verweigerung«, dessen neomarxistische Verheißung sich nicht mehr an die arbeitende Mehrheit richtet, die durch »Warenfetischismus« und »repressive Toleranz« manipuliert wären, sondern die rebellische Jugend zur revolutionären Avantgarde erklärt. Marcuse, der eigentliche »Philosoph der Revolte«, propagierte die Zerschlagung der unterdrückenden bürgerlichen Moral, die Ängste und Unsicherheit erzeuge, und entwarf eine kulturtheoretische, konsumkritische und die Sexualität befreiende Revolutionsperspektive.

Auch die Lektüre antistalinistischer Marxisten wie Leo Trotzki, Otto Rühle oder Karl Korsch, die mehr auf revolutionäre Rätediktatur als auf kommunistische Parteiavantgarde setzten, verstärkten den antireformistischen Radikalismus der Neuen Linken. Die Diskreditierung der politischen Demokratie als zu bekämpfender »bürgerlicher Staat« oder die Parole der »permanenten Revolution« hatten auch mit solchen Marxinterpreten zu tun. Von anderen rezipierten Theoretikern des westlichen Marxismus, wie Antonio Gramsci, Georg Lukács, Ernst Bloch, wurden besonders Fragen des Klassenbewusstseins und des revolutionären Willens aufgegriffen. Einerseits wurde die historische Mission der Arbeiterklasse sowie die Rolle von Intellektuellen und der Kultur hinterfragt, andererseits blieb bei aller inhaltlichen Unbestimmtheit das Paradigma vom großen revolutionären Bruch hin zur kommunistischen Utopie der Maßstab. Auch in charismatischen Reden eines Rudi Dutschke rangiert Revolution vor Demokratie, allerdings als allgemeiner und spontaner Aufstand der Massen.

Aus diesem diffus-gemeinsamen theoretischen Aufbruch von 1968 entwickelten sich vier ideengeschichtliche Metamorphosen, die die 70er und 80er Jahre wesentlich prägten:

Erstens flüchtete sich die akademische Revolutionseuphorie ein paar Jahre lang in vermeintlich polit-ökonomische Gesetzmäßigkeiten, vor allem den »Grundwiderspruch« von Kapital und Arbeit und die marxistische Krisen- und Zusammenbruchstheorie. »Das Kapital lesen« wurde an der Universität zur stereotypen Antwort auf alle Fragen theoretischer wie unmittelbar praktischer Natur. Die fieberhafte Lektüre marxistischer Klassiker und der Geschichte der Arbeiterbewegung erweckte den Glauben an die Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt. Der Überbietungswettbewerb, die Wahrheit des »Wissenschaftlichen Sozialismus« zu besitzen und dem richtigen Modell des Realsozialismus zu folgen, schuf zahlreiche sektiererische Kleinstparteien und »seminarmarxistische« Gruppen. Gemäß der leninistischen Beantwortung der »Organisationsfrage« wurden meist Avantgardeparteien aufgebaut: maoistische K-Gruppen, trotzkistische Gruppierungen, »Revolutionärer Kampf«, Satelliten der von DDR und UdSSR gelenkten DKP usw. Überall waren Revisionismus und Reformismus die Kampfbegriffe, mit denen der angebliche Verrat von SPD und Gewerkschaften gegeißelt wurde. Gemeinsam war allen die geschichtsdeterministische Gewissheit von der demnächst finalen Krise des Kapitalismus und der – von intellektuellen Kadern anzuleitenden – Revolution, die letztlich irgendwie auf die Eroberung der politischen Macht mittels Bürgerkrieg und Putsch hinauslief. Diese sozialpsychologisch eigenartige Wende der 68er zum Autoritären, Dogmatischen und Selbstsicheren verflüchtigte sich so plötzlich wie sie gekommen war, links wurde im Übergang zu den 80er Jahren das Alternativkulturelle hegemonial.

Zweitens war die »Gewaltfrage« nie ganz geklärt worden, auch die Unterscheidung zwischen »Gewalt gegen Sachen« und jene gegen Personen, blieb zweideutig. Doch wo der kapitalistische Staat und seine Notstandsgesetze als faschistoid galten – »den latenten Faschismus herauskitzeln«, so Ulrike Meinhof – und wo zudem Revolutionsromantik, mindestens mit Straßenschlachten und Barrikadenkämpfen, immer dazugehörte, ist der Irrweg, den einige gingen, nicht allzu weit. Imperialismusanalysen und internationale Solidarität – mit Iran, Vietnam, Lateinamerika, Kuba, Palästina usw. – mündeten in der Übertragung des Klassenkampfes auf die Völker der »Dritten Welt«. Nicht von ungefähr waren Che Guevara, Ho Chi Minh oder Mao Zedong Ikonen der Revolte. Es kam zur bedingungslosen Identifikation mit kämpfenden Befreiungsbewegungen, die als Speerspitze der weltweiten Revolution gegen den westlichen Imperialismus und kolonialisierenden Spätkapitalismus interpretiert wurden. Hiervon war es theoretisch kein großer Schritt (praktisch schon: der entscheidende Schritt hin zum Mord) zum »Konzept Stadtguerilla« von der Roten Armee Fraktion (RAF) und anderen. Der antiimperialistische Kampf bis zum globalen »Sieg im Volkskrieg« sollte durch »bewaffnete Propaganda« illegaler Guerillagruppen in die Metropolen getragen werden. In der Wirklichkeit halfen terroristische Kleinstgruppen mit, dass aus dem sozialliberalen Demokratisierungsaufbruch eine Aufrüstung des Sicherheitsapparates in der »bleiernen Zeit« (Margarethe von Trotta) wurde.

Drittens wurde der »Marsch durch die Institutionen«, den Rudi Dutschke 1967 ausrief, wobei er eher die Zerstörung der Institutionen von innen durch »Permanenzrevolutionäre« meinte, allgemein so aufgegriffen, als sei dies der »lange Marsch« der Machtergreifung der Neuen Linken. Tatsächlich wurden ja Schulen, Universitäten, Medien, staatliche Institutionen, politische Ämter usw. zu weiten Teilen durch die ehemaligen 68er geprägt – sie machten nicht nur akademische Karrieren, sondern reformierten die Institutionen im demokratischen Sinne von innen heraus und veränderten damit nachhaltig das Land. Ein erfolgreiches Beispiel dieser Dialektik stellen die Jungsozialisten nach ihrer »Linkswende« 1969 als »sozialistischer Richtungsverband«, damals mit dem Motto »Wir sind die SPD der 80er Jahre«, dar. Seit Mitte der 60er Jahre bis 1973 stieg der Anteil der unter 35-Jährigen in der SPD von weniger als 50 % auf fast zwei Drittel der Parteimitglieder, die viele SPD-Gremien »übernahmen«. Die Jusos traten, sich in unterschiedlicher Weise als Marxisten verstehend, für eine Demokratisierung aller Lebensbereiche, insbesondere der Wirtschaft und des Staates ein, für die Vergesellschaftung von strukturbestimmenden Bereichen der Wirtschaft und der »Schlüsselindustrien«, für zentrale gesamtgesellschaftliche Planung der Investitions-, Forschungs- und Entwicklungsprioritäten bei relativer Autonomie der einzelnen Unternehmen. Diese antikapitalistischen Strukturreformen sollten, eben verstanden als Teil des »Marsches durch die Institutionen«, durch eine »Doppelstrategie« von inner- und außerinstitutioneller Arbeit durchgesetzt werden. Dies bedeutete einerseits, mit dem »Standbein« in der SPD zu agieren und dort Machtpositionen zu besetzen, um inhaltliche Positionen durchzusetzen, und andererseits mit dem »Spielbein« in sozialen Bewegungen präsent zu sein und mit diesen gemeinsam inhaltlichen Druck auf die politischen Institutionen und natürlich auch auf die Mutterpartei SPD auszuüben. Die Frage nach der Rolle und den Grenzen des Staates bei antikapitalistischer Politik sowie die Frage nach der Rolle und den Grenzen der SPD im Transformationsprozess hin zum Sozialismus wurden in jahrelangen »Strategiedebatten« diskutiert. Und von diesem Zustrom Jüngerer mit »antikapitalistischem Anspruch« zehrt die SPD, deren Altersdurchschnitt jetzt über 60 Jahre liegt, immer noch.

Viertens sind die Neuen Sozialen Bewegungen, vor allem die Frauenemanzipations-, die Antiatom- und Ökologiebewegung, die Friedensbewegung, die Jugendbewegung und Alternativkultur der 80er Jahre, indirekte Folgen von 68. Es gab diesen Strang des Wandels, bei dem vieles an utopische Sozialisten und die untergegangene Arbeiterkultur erinnert, bereits früh: der kollektiven Selbstveränderung und Selbsthilfe, des Naturnahen und Spirituellen, der Verweigerung und des gemeinschaftlichen Ausstiegs, von Wohn- und Arbeitsprojekten des alternativen Lebens, denken wir nur an das »Love and Peace« der Hippies, an den Aufstand der Frauen gegen die SDS-Machos, an Landkommunen, an die befreiende Wirkung von »Sex, Drugs and Rock’n’Roll«. Der postmaterialistische Wertewandel, der in den 60ern begann, kam schließlich auch bei der Neuen Linken an. Der Widerstand gegen Kernkraftwerke, der Kampf gegen die fortschreitende Umweltzerstörung (Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome war 1972 erschienen), die Angst vor einem Atomkrieg in Europa angesichts der Nachrüstung – diese Schlüsselthemen prägten zunehmend die ehemaligen 68er und die nachfolgende Generation. Das dominierende Politikmodell war jetzt nicht mehr revolutionär, aber auch nicht traditionell reformistisch- sozialdemokratisch, sondern verstand sich basisdemokratisch, als Bürgerbewegung von unten, als Erkämpfung von Freiräumen und konstruktivem Aufbau neuer Sozialformen bereits im Hier und Jetzt. Die Neuen Sozialen Bewegungen, die deshalb neu genannt wurden, weil man ihnen historisch eine systemverändernde Kraft wie einst der alten sozialen Bewegung, der Arbeiterbewegung, zutraute, mündeten immerhin in einer zweiten Welle von demokratischen und wertorientierten Institutionalisierungsprozessen. Auch führten sie mit den GRÜNEN zur Öffnung des Parteiensystems und zu einer veränderten, Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit einbeziehenden, Programmatik der SPD (Berliner Programm von 1989).

Selbst die DDR-Bürgerbewegung der 80er Jahre und erst recht die rot-grüne Bunderegierung (1998–2005) hatten noch mit dem nachhaltigsten geistig-kulturellen Umbruch nach 1945 zu tun. Erst jetzt scheint der Politisierungszyklus, der aus »1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur« (Wolfgang Kraushaar) erwuchs, endgültig zu Ende zu gehen. Weniger weil die Alt-68er nun zwischen 65 und 80 Jahre alt sind, sondern weil das Pendel des geistig-kulturellen Momentums derzeit gegen das »versiffte links-rot-grüne 68er Deutschland« (Jörg Meuthen) ausschlägt. Erzkonservative, populistische und rechte Denkfiguren gewinnen zunehmend Land. Auch der deutsche (Un-)Geist rührt sich wieder, wovon Tausende Unterschriften von »Autoren, Publizisten, Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Akademikern« der »Erklärung 2018« zeugen, deren kurzer Pegida-Solidaritätstext über anhaltende »illegale Masseneinwanderung« und »Rechtsbruch an den Grenzen« fabuliert. Doch es war nicht alles umsonst, auch wenn mancher Rentner der Revolte dies so sieht, denn »Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) und kulturelle Modernisierung werden nicht so leicht rückgängig zu machen sein.

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