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Zum Zustand der Demokratie in den USA

Die Medienberichterstattung in den Vereinigten Staaten wird aktuell durch eine einzige Person dominiert: Donald Trump. Auf jede neue Lüge und hanebüchene Verleumdung, auf jeden neuen Tweet und ungerechtfertigten Vorwurf gegen Menschen oder Institutionen, die ihm als Feinde gelten, reagieren Gegner wie Befürworter gleichermaßen aufgeregt. Genau dies ist die Situation, die Trump am besten gefällt: im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, wie in den Reality-TV-Sendungen, in denen er einst der Hauptakteur war. Dieser Aufgeregtheit entzieht sich das vorliegende, von Patrick Horst, Philipp Adorf und Frank Decker herausgegebene Buch Die USA – eine scheiternde Demokratie? Die Autorinnen und Autoren analysieren darin klug und mit wissenschaftlicher Distanz den Zustand der US-amerikanischen Demokratie in der Ära Trump.

Die Verfasser der Beiträge – vornehmlich renommierte deutsche, aber auch einige amerikanische Sozialwissenschaftler – werfen Trump wahlweise »abnormales« (Söhnke Schreyer), »autokratisches« (Claus Leggewie) oder »schurkenhaftes« (die drei Herausgeber im Vorwort) Verhalten vor, aber letztere sehen auch ein, dass »die Krise der Demokratie weit über Donald Trump hinausgeht«. Obwohl sich ihre Argumente auch auf Insiderberichte aus der chaotischen Administration Trumps stützen, sind die Herausgeber doch überzeugt, dass »Trump nicht der Verursacher der Gefährdungen [der Demokratie] sondern ihr Symptom« sei. Daher werden aktuelle Ereignisse nur am Rande angesprochen. Die Kapitel konzentrieren sich vorwiegend auf die komplexeren, strukturellen Unzulänglichkeiten der amerikanischen Demokratie: das Wahlmännergremium (Electoral College), das gerrymandering, die Wahlunterdrückung, den Zusammenbruch des politischen Systems der checks and balances, aber auch auf die angespannten Beziehungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, die sozialen Ungleichheiten, das Dilemma der Migration und die Außenpolitik.

Die behandelten Themen sind vielfältig, bleiben jedoch zumeist durch einen roten Faden verbunden: die Beobachtung, dass die USA eine »defekte Demokratie« zu werden drohe. Dieser Begriff, ursprünglich von Wolfgang Merkel eingeführt, wird von Patrick Horst auf US-amerikanische Zustände angewandt. In Anlehnung an empirische Untersuchungen zur Demokratiequalität, stellt er fest, dass die Erosion der US-amerikanischen Demokratie bereits seit Jahren stattfinde, also schon lange vor der Ära Trump eingesetzt habe. International vergleichend zeigt er, dass die USA nur noch einen der unteren Plätze in der Rangordnung demokratischer Gemeinwesen belegen. Um dieses wachsende demokratische Defizit zu belegen, zieht er den anhaltenden Rückgang der Zustimmungsquote für die Demokratie als Regierungsform unter US-Staatsbürgern heran. Schon vor 30 Jahren bekannten 33 % der Befragten, dass sie einen »starken Anführer« dem demokratischen Regime vorzögen. Hinzu kommt, dass schon vor den Wahlen im Jahre 2016 zwei Drittel der Befragten der Aussage zustimmten, dass die US-Regierung im Interesse der Wenigen und nicht zugunsten der großen Mehrheit handelt (Boris Vormann und Christian Lammert).

Angesichts dieser Befunde ist es vielleicht überraschend, dass so viele der deutschen Autoren die Perspektiven der US-amerikanischen Demokratie optimistischer einschätzen als ihre amerikanischen Kollegen. Sie beschreiben das politische System der USA als widerstandsfähig (Andreas Falke), äußern ihr Vertrauen in Reformen und bessere Wahlausgänge, begrüßen das von Barack Obama eingeführte Krankenversicherungssystem (Patient Protection and Affordable Care Act), und zeigen sich optimistisch hinsichtlich der Fähigkeiten der Einzelstaaten, den Autoritarismus aufzuhalten (Andreas Falke und Jared Sonnicksen).

Auf jeden Fall können die augenscheinlichen Defizite der Demokratie in den USA – einige im Verfassungssystem verankert, andere durch republikanische Politiker auf Bundesstaatsniveau eingeführt –, die Enttäuschung der US-Staatsbürger mit ihrer Regierungsform erklären. So enttarnt Frank Decker die Ungerechtigkeit des Electoral College. Denn es ermöglicht den Sieg eines Kandidaten trotz einer geringeren Anzahl an Wählerstimmen, wie bei der Wahl Trumps und George W. Bushs geschehen. Ebenso können durch geschicktes gerrymandering (Einteilung der Wahlbezirke zugunsten einer Partei) Wahlausgänge massiv beeinflusst werden. Mit dieser Taktik seien, so Philipp Adorf, den Republikanern 10–20 Sitze im Repräsentantenhaus mehr zugefallen, als sie unter der Bedingung fairer Bezirksgrenzen gewonnen hätten. Decker und Adorf verstehen, wie schwierig eine Reform dieser Praktiken sein würde. Die Abschaffung des Electoral College würde eine Verfassungsänderung erfordern: eine fast unüberwindliche Hürde; die Einzeichnung fairer Wahlbezirke setzt das Mitwirken der Regierungen in den Einzelstaaten voraus, was in den republikanisch regierten Staaten unwahrscheinlich ist.

Patrick Horst rückt die von einigen Einzelstaaten eingeführten »strict Voter ID laws« (strenge Wählerausweisgesetze) in den Vordergrund, die unzähligen Staatsbürgern ihr Wahlrecht vorenthalten – ein Grund, warum die USA den untersten Platz in der internationalen Rangordnung für Wahlintegrität belegt (Platz 24 von 24). Er führt diese Ergebnisse auf die US-Verfassung selbst zurück, die das Wählen mehr als Privileg denn als Grundrecht betrachtete, und dementsprechend Wahlrechte pauschal der Willkür der Einzelstaaten überließ. Nach dem Bürgerkrieg und der daraus resultierenden Befreiung der Sklaven, sollten Afroamerikaner als Vollbürger über uneingeschränkte Wahlrechte verfügen. Um das zu verhindern, hat die weiße Bevölkerung in allen Südstaaten allmählich sogenannte Jim-Crow-Gesetze erlassen, die die Wahlbeteiligung unter der afroamerikanischen Bevölkerung extrem reduzierte. Diese Praktiken setzen sich auch heute, wenn auch weniger ausgeprägt, weiter fort. Die sogenannte Wahlunterdrückung (vote suppression) hat also eine lange Tradition in den USA. Damals garantierte sie den Demokraten im Süden die Vorherrschaft; heute kommt sie eher den Republikanern zugute.

Söhnke Schreyer beurteilt die Wirksamkeit der in der US-Verfassung eingebetteten checks and balances. Er ist besorgt, dass auch dieser Bestandteil der demokratischen Ordnung wegen der aktuellen Polarisierung und dem heftigen Parteienstreit in den USA erodiere. Republikanische Kongressabgeordnete seien, so Schreyer, einen »faustischen Pakt« mit Donald Trump eingegangen: Sie verzichteten auf ihre Aufsichtsverantwortung gegenüber der Exekutive aufgrund derselben Parteizugehörigkeit und aufgrund des Einflusses von Trump auf die Parteibasis, die ihrerseits abtrünnige Republikaner an der Wahlurne bestrafen können. Trotzdem glaubte er bei Erscheinen des Buches an eine mögliche Reaktivierung der checks and balances, wenn die Demokraten 2018 wenigstens eine Kammer im Kongress wiedergewönnen – was inzwischen ja eingetreten ist. Die Verhöre über die Normen- und Rechtsübertritte von Trump haben schon begonnen.

Am Ende der institutionengerichteten Beiträge veranschaulicht Marcus Höreth den Verfall demokratischer Normen am Beispiel der Ernennung und Bestätigung von Neil Gorsuch im Jahr 2017 als Richter am Obersten Gerichtshof. Der Auftakt zu diesem Prozess war die normverletzende Entscheidung der Republikaner im Senat, dem 2016 von Obama nominierten Richterkandidaten, Merrick Garland, die Gelegenheit zu verweigern, vor dem relevanten Ausschuss aufzutreten, um seine Eignung für das Amt zu zeigen. Als Trump die Präsidentschaft erhielt und den rechtsextremen Kandidaten Neil Gorsuch für die noch freie Stelle ernannte, schafften die Republikaner die gängige Norm ab, dass ein Richterkandidat 60 Stimmen im Senat erhalten muss, um bestätigt zu werden. Höreth zufolge muss dieser normmissachtende Vorgang nicht als zeitweilige Entgleisung angesehen werden, sondern als langfristige Bedrohung gegen die Legitimität des Obersten Gerichtes und ihrer Rechtsfindung, die vom Publikum immer mehr als Waffe in den Händen der »Grand Old Party« (GOP) betrachtet werden wird. Zudem weist er darauf hin, dass die Abschaffung der 60-Stimmen-Norm den Parteien immer weniger Anreize bietet, gemäßigtere Richterkandidaten zu küren, was auch zur weiteren Polarisierung und Erosion der amerikanischen Demokratie beitrüge.

Andere Autoren legen ein größeres Augenmerk auf die Ursachen wachsender Ungleichheit, die die Demokratie gefährdet. Christiane Lemke sieht die USA auf der Schwelle zum ungezügelten Kapitalismus. Obwohl das Land derzeit immer noch demokratisch sei, könne es bald in eine Plutokratie umschlagen. Betsy Leimbigler und Christian Lammert bemerken, dass die extreme Ungleichheit in den USA bereits undemokratisch sei, da sie die volle Ausübung der jedem Bürger und jeder Bürgerin zukommenden »sozialen Rechte« erschwere. Hinzu kommt, dass große ökonomische Ungleichheit die Demokratie unmittelbar unterminiert. Vormann und Lammert untersuchen den wachsenden Einfluss von Wahlkampfspenden und Lobbying auf die amerikanische Politik. Ihnen zufolge stammten bis 2012 40 % aller Wahlkampfspenden aus den Händen der reichsten 0,01 % der Bevölkerung. Die Autoren zeichnen überzeugend die Entwicklung der Wahlkampfspendengesetze, die Praktiken und relevanten Gerichtsurteile auf. Sie zeigen, wie reiche Individuen und Organisationen wie die »Super PACs« diese Gesetze umgangen bzw. so sehr abgeschwächt haben, dass die Ursprünge der Wahlkampf- und Lobbyspenden im Dunklen bleiben (»dark money«). Die Macht der Wahlkampfspender und Lobbyisten höhlen das demokratische Prinzip, dass alle Bürger/innen einen gleichen Einfluss auf politische Entscheidungen haben sollten, aus.

Trotz seiner Exzellenz gibt es auch Defizite in diesem Buch. Es gibt einige kleine Fehler, die die Schlagkraft der darin enthaltenen Argumente etwas schwächen. Um nur einen zu nennen: Höreth zitiert den Satz von Alexander Hamilton (Federalist 78), dass das Oberste Gericht die am wenigsten gefährliche Verfassungsgewalt sein wird, weil ihm sowohl »purse« und »sword« fehlen. Aber er ersetzt das Wort »purse« mit »power«, wobei er den Sinn des Spruchs verfehlt: dass das Gericht weder über die Finanzen (wie der Kongress) noch über die Streitkräfte (wie die Exekutive) verfügt.

Außerdem hätte das Buch gewonnen, wenn ein Beitrag systematisch den Einfluss der Medien auf die US-amerikanische Demokratie untersucht hätte. In einem ausgezeichneten Kapitel über seine Erfahrungen und Beobachtungen als Korrespondent für die ARD im Weißen Haus bietet Jan Philipp Burgard zwar wichtige Einsichten in die zentrale Stellung der rechtsextremen Medien (Fox News, Talk Radio) in der Trump-Regierung und in seiner »Basis«. Aber es wäre auch aufschlussreich gewesen, den massiven Veränderungen in der Medienwelt seit etwa 20 Jahren nachzugehen. Es ist zum Beispiel wichtig zu wissen, dass die Zeitungen in Amerika – und mit ihnen die kritische Untersuchung der Gemeinden- und Einzelstaatsangelegenheiten – allmählich in eine Todesspirale geraten sind. Beispielsweise sind in den 13 Bundesstaaten im Westen der USA in den letzten 14 Jahren 48 Tages- und 157 Wochenzeitungen eingegangen.

Es gibt immer mehr »Zeitungswüsten« in denen es überhaupt keine Berichterstattung mehr über lokale Politik gibt und erst recht keinen kritischen Journalismus. Deshalb beziehen immer mehr Amerikaner ihre politischen Informationen aus dem Internet oder dem Kabel- und Satellitenfernsehen. Auffällig ist außerdem, dass fast 40 % aller Amerikaner ihre Lokalnachrichten von Fernsehsendern beziehen, die in vielen Fällen über die Sinclair Broadcast Group vernetzt sind. Sinclair besitzt fast 180 lokale Rundfunksender, die alle auf nationaler Ebene koordiniert und deren politische Einstellungen durch die Treue zu Trump geprägt sind. Wenn die Qualität einer Demokratie von der Gesinnung und den Überzeugungen des Volkes abhängt, ist es beunruhigend festzustellen, dass in den USA diese so durchgängig von Trump- freundlichen, unkritischen Medien gestaltet werden.

Abgesehen von diesen kleinen Bedenken ist dieses Buch allen politisch Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen. Anstatt Trump für alle Missstände in den USA verantwortlich zu machen, analysieren die Autoren scharfsinnig die Ursprünge und Ursachen der Dysfunktionen der Demokratie in diesem Lande und bieten einige wohlüberlegte Reformvorschläge an. Darüber hinaus stellen viele Autoren kluge Vergleiche zwischen den politischen Zuständen in Amerika und Europa an. Zum Schluss verdienen die Autoren reichliches Lob für ihre intensiven Forschungen. Es gibt kaum eine wichtige Quelle, die sie nicht entdeckt und herangezogen haben. Ihre allgemeine Arbeit – und das Buch im Besonderen – stehen in der besten Tradition der deutschen Sozialwissenschaft. Letzteres ist daher ein unbedingtes »must read«.

Patrick Horst/Philipp Adorf/Frank Decker (Hg.): Die USA – eine scheiternde Demokratie? Campus, Frankfurt/M. 2018, 406 S., 34,95 €.

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