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Zur Bedeutung von Engagement- und Demokratiepolitik

Im Rückblick auf »1968« entfaltet sich unser Verständnis von Zivilgesellschaft als vorstaatlicher, aber politischer Raum. Diesen Raum mit seinen Zugängen zur Öffentlichkeit prägt neben klassischen Vereinen und Verbänden auch eine Vielzahl von Akteuren, deren Mittel der politischen Beteiligung oft unkonventionell sind und den Protest einschließen. Die Themen der Neuen Sozialen Bewegungen und der Bürgerinitiativen waren zunehmend geprägt von einem postmateriellen Wertekanon: Umweltschutz, Antiatomkraft, Datenschutz. Heute sind die Themen der sozialen Gerechtigkeit längst zurückgekehrt, befeuert von einer wachsenden sozialen Ungleichheit und einer ungebremsten technischen Entwicklung.

Die SPD hat ab 1969 mit Willy Brandt und dessen Motto »Mehr Demokratie wagen« viele Aktive angesprochen und so zunächst eine Stärkung erfahren. Doch mit dem Radikalenerlass und der Zustimmung zur Atomenergie – um zwei der Schlüsselthemen zu nennen – hat sie auch dazu beigetragen, dass sich die Partei DIE GRÜNEN entwickeln konnte. Diese verstand sich in den ersten Jahren als »Bewegungspartei« der linkslibertären Neuen Sozialen Bewegungen. Mit ihrem Berliner Grundsatzprogramm von 1989 deutete die SPD einen Lernprozess an, indem sie sich den Themen und Anliegen dieser Bewegungen stärker öffnete. Durch den Fall der Mauer und die Agenda der deutschen Einheit wurden in der Folgezeit aber die notwendigen innenpolitischen Reformen überdeckt.

Als 1999–2002 unter der rot-grünen Bundesregierung eine Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« eingerichtet wurde, waren sich die Sachverständigen weitgehend einig: Eine solche Kommission hätte es ohne die Auswirkungen von 1968 und die Neuen Sozialen Bewegungen nicht gegeben. Ein bei der Friedrich-Ebert-Stiftung parallel zur Enquete eingerichteter Gesprächskreis – er trägt heute den Titel »Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Demokratie« – arbeitet weiterhin an den Themen der Engagement- und Demokratiepolitik. Mittlerweile wissen wir mehr über das individuelle Engagement und über die Organisationen der Zivilgesellschaft.

Auf Empfehlung der Enquetekommission des Deutschen Bundestages wurde 2002 das »Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement« (BBE) gegründet, das aktuell ca. 270 Mitgliedsorganisationen zählt – darunter fast alle großen Dachverbände der Zivilgesellschaft, alle Bundesländer, den Bund, europäische Partner, aber auch Gewerkschaften und Unternehmen. Das BBE ist so das größte organisationsgebundene Netzwerk zu den Themen des Engagements und zu den Bedarfen einer zivilgesellschaftlichen Strukturpolitik, in dem Zivilgesellschaft, Staat und Kommunen wie auch Akteure der Wirtschaft zusammenwirken.

Als weitere Folgen der Kommissionsempfehlungen – von denen die meisten parteiübergreifend erfolgten – wurden bis heute die neuen Politikfelder »Engagementpolitik« und »Demokratiepolitik« auch institutionell ausgebaut. Allerdings gibt es im Bundestag nur einen Unterausschuss zum bürgerschaftlichen Engagement und Demokratiefragen werden noch immer in parallelen Ausschüssen verhandelt.

Es ist zudem festzustellen, dass die Bedeutung der Engagement- und Demokratiepolitik als junge und fragile Politikfelder bislang im Zentrum der SPD nur schwach verankert ist und sich Partei und Fraktion hier kaum abzustimmen scheinen.

Im Vorfeld der letzten Bundestagswahl gab es zahlreiche Stellungnahmen von Vereinen, Verbänden und NGOs zu den Handlungsbedarfen der beiden neuen und eng verschränkten Politikfelder. Auch das BBE hat zentrale Impulse für die Parteien und die neue Bundesregierung veröffentlicht. Über eine deutliche Stärkung dieser Politikfelder wäre eine wesentlich engere Kooperation mit der Zivilgesellschaft bei strukturellen Entwicklungsbedarfen des demokratischen Gemeinwesens zu erwarten.

Der Koalitionsvertrag bietet immerhin wichtige Anknüpfungspunkte:

Ausschuss »Bürgerschaftliches Engagement« im Deutschen Bundestag: Für die Stärkung der eng zusammenhängenden und noch immer jungen Politikfelder der Engagement- und Demokratiepolitik ist die Sichtbarkeit und Bedeutung der Themen im Bundestag von großer Bedeutung. Daher wäre die Einrichtung eines regulären Ausschusses für bürgerschaftliches Engagement wichtig. Fragen der Förderung von Engagement und Demokratie könnten dort in der ganzen Breite ebenso diskutiert werden wie die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten gegen Gewalt und unziviles, menschenfeindliches Handeln.

Demokratie-Enquete: Im Koalitionsvertrag ist eine Expertenkommission zu Fragen der Demokratieentwicklung angekündigt. Hier würde sich die Einsetzung einer Demokratie-Enquete im Deutschen Bundestag empfehlen. Dies wäre ein transparentes und partizipatives Format, das auch Bürgerforen und organisierte Zivilgesellschaft gut integrieren könnte.

Infrastruktur für die Förderung von Engagement und Partizipation: Für den Bildungsbereich haben sich die neuen Koalitionäre viel vorgenommen und sogar die partielle Aufhebung des Kooperationsverbotes in Aussicht gestellt. Der Bund soll also künftig in der Bildung wieder kommunal mitfördern können, und es würde sich anbieten, in diese Strategie auch die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auf kommunaler Ebene einzubeziehen. Zu den Kompetenzen der zivilgesellschaftlichen Infrastruktureinrichtungen und der dort agierenden Hauptamtlichen gehören viele Dinge wie Engagement- und Demokratieförderung oder Kooperation in lokalen Bildungsräumen und -landschaften.

Einrichtungen des Engagements als Lernorte in kommunalen Bildungslandschaften: Das informelle und non-formale Lernen in den Handlungs- und Erfahrungsräumen des Engagements und die dort möglichen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit wie auch die dort möglichen Kompetenzgewinne sind für die Schulen wie auch die Organisationen und Akteure der Zivilgesellschaft von großer Bedeutung. Daher gilt es, die verschiedenen Lernorte wechselseitig stärker füreinander zu öffnen und zu vernetzen. Auch die Volkshochschulen und außerschulischen Bildungs- und Fortbildungsträger sind hier einzubinden. Den Kommunen kommt dabei eine zentrale Zukunftsaufgabe der unterstützenden Koordination und Entwicklung zu.

Bürgerwissenschaften (Citizen Science) und Zivilgesellschaftsforschung: Citizen-Science-Förderung und die Fortentwicklung einer inter- und transdisziplinären Zivilgesellschaftsforschung sollten stetig fortentwickelt werden. Dialogische Kommunikationsformen auch mit wissenschaftsferneren Zielgruppen sind auszubauen.

Digitalisierung und Zivilgesellschaft: Die Digitalisierung stellt auch die Zivilgesellschaft vor neue Herausforderungen – seien sie technischer Art oder politisch-öffentlicher (wie der Umgang mit Hate Speech und Fake News und die demokratiepolitischen Herausforderungen von Datenschutz, Transparenz, Informationsfreiheit und dem Schutz von »Whistleblowern«).

Integration, kollektive Identitäten, politische Kultur: Die Frage der Integration von Zuwanderern wird künftig viel stärker als bislang mit den zentralen Themen des Zugangs zu Bildungsangeboten, zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und Angeboten der Zivilgesellschaft verbunden werden müssen. Nur durch die Einbindung der Bürgergesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements – das haben die Erfahrungen während der »Flüchtlingskrise« 2015/16 deutlich gezeigt – kann Integrationspolitik auf Dauer erfolgreich sein. In den kommenden Jahren wird uns dieses Thema als großes und komplexes Querschnittsthema begleiten und vor allem eine Herausforderung für gute Vernetzung und Kooperationspraxis der zivilgesellschaftlichen Akteure in den Kommunen und Regionen darstellen.

Erwerbsarbeit, Engagement und eine neue Beschäftigungspolitik: Die Unterscheidbarkeit von Erwerbsarbeit und Engagement ist nicht nur eine Grundsatzfrage guter Engagementförderung, sondern auch eine praktische Anforderung guten Freiwilligenmanagements. Im Austausch mit Gewerkschaften, mit der Arbeitsmarkt- und Engagementforschung, mit Engagementträgern und der Engagementpraxis gilt es trennscharfe und praxistaugliche Kriterien zu entwickeln, die es erlauben, Erwerbsarbeit und Engagement besser zu unterscheiden.

Dann wären aber auch transparente Wege in die Erwerbsarbeit besser möglich. Engagement als Ort des informellen und non-formalen Lernens ist schließlich auch ein Ort für beruflich nutzbare Kompetenzgewinne. Ein zweiter und eigenständiger Schritt wäre dann der in den Arbeitsmarkt – hier können die Prozesse des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) eine bessere Vergleichbarkeit von formal wie informal erworbenen Kompetenzen ermöglichen. Das wäre Grundlage einer neuen Beschäftigungspolitik, die die Infrastrukturen der Engagementförderung als Bildungsinfrastrukturen anspricht und die das Lernen in der Engagementpraxis ermöglicht und begleitet.

Aufsuchende Engagementförderung: Mit der gesamten Diskussion ist natürlich auch die Frage nach »aufsuchenden Formaten« in der Engagementförderung angesprochen, mit denen auch »bildungsfernere Gruppen« in das Engagement einbezogen werden können.

Schon diese wenigen Kernpunkte zeigen, dass es in der Engagement- und Demokratiepolitik diverse Großbaustellen gibt, die es in den nächsten Jahren zu bearbeiten gilt. In einem solchen Umfeld kann die SPD eine partnerschaftliche Kooperation mit den Akteuren der Zivilgesellschaft fortentwickeln. Die Zivilgesellschaft entwickelt sich dynamisch, die Ansprüche an Mitwirkung, Beteiligung und Gestaltung auch. Um die gesellschaftlichen Partizipationswünsche jenseits der Parteien aufzunehmen, sollte die SPD hinsichtlich ihrer Programmatik, ihrer Organisationskultur und -praxis einen Öffnungsprozess für zivilgesellschaftliche Trends einleiten. Dazu braucht sie Netzwerke und Bündnisse sowie neue Dialogformate, sozusagen ein erneuertes zivilgesellschaftliches Fundament.

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