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Zur Krise der europäischen Sozialdemokratie

Es ist kaum zu bestreiten, dass die deutsche, ja die europäische Sozialdemokratie insgesamt in einer Krise steckt. Ihre politischen Gegner sollten sich über diesen Befund jedoch nicht freuen. Ohne zwei große Volksparteien in der Mitte, von denen die eine nach links und die andere nach rechts integriert, sind zumindest Demokratien mit Verhältniswahlrecht gefährdet. Österreich, möglicherweise demnächst Italien, schon länger Ungarn und Polen, belegen das. Frankreich ist die große Ausnahme. Dort waren die Sozialisten nie Volkspartei, aber immerhin stark genug, über mehrere Jahre den Präsidenten oder den Ministerpräsidenten zu stellen. Jetzt sind sie im Parlament auf eine kleine Gruppierung geschrumpft. Die Nachfolger der Gaullisten ihrerseits konnten nach rechts nicht integrieren und sind zwar in geringerem Maße gestraft, aber von der Präsidentschaftskandidatin der Rechten, Marine Le Pen, übertrumpft worden. Dass diese Geschichte am Ende glimpflich ausgegangen ist, haben wir dem taktischen Geschick von Emmanuel Macron zu verdanken. Dieser hat mit einem Ergebnis von 24 % im ersten und mit 66 % im zweiten Wahlgang gegen Le Pen letztendlich triumphal gewonnen. Darüber hinaus hat er eine politische Bewegung ins Leben gerufen, die mit neuen und zu einem großen Teil unerfahrenen Kräften die linken wie rechten Populisten in Schach hielt und sogar die Mehrheit der Mandate eroberte. Dieses Großexperiment hängt so stark vom Geschick eines Einzelnen ab, dass die weitere Entwicklung schwer vorauszusagen ist. Immerhin hat Macron gezeigt, dass mit einer entschiedenen Politik der Mitte sowie einem energischen Zentrismus, der die alten Lager sprengte und sich zudem proeuropäisch positionierte, Wahlerfolge möglich sind. Und das in einem Land, das traditionell für Revolutionsromantik einerseits und nationale Beschwörungen andererseits anfällig ist.

Es kann demnach auch ohne den bewährten Antagonismus zwischen einer linken und einer rechten Volkspartei gut gehen, muss es aber nicht. Das wahrscheinlichere Szenario ist das des Erstarkens der populistischen Ränder und der Erosion der Demokratie.

Die Krise der europäischen Sozialdemokratie ist ein durchaus paradoxes Phänomen. Die sozialdemokratischen Parteien leiden fast durchgängig an Wähler- und Mitgliederschwund, und das in einer Phase, in der die zentralen Themen sozialdemokratischer Politik immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Der Internationale Währungsfonds, zahlreiche Nobelpreisträger der Ökonomie, selbst die Financial Times kritisieren die wachsende Ungleichheit im Weltmaßstab, speziell in den hochentwickelten Ländern. Diese wird als eine Gefährdung, nicht nur der politischen Stabilität, sondern auch der Wachstumsperspektiven angesehen. Fast allen politischen Akteuren ist zudem seit der Weltwirtschaftskrise und der anschließenden Finanzkrise zahlreicher entwickelter Länder deutlich geworden, dass die globalen Finanzmärkte einer politischen Regulierung bedürfen. Die rund drei Jahrzehnte währende Markteuphorie mit einem Programm, das von seinen Gegnern als Neoliberalismus gebrandmarkt, aber besser als Marktradikalismus bezeichnet wird, hat nur noch wenige glühende Verfechter. Die Kritik am Casinokapitalismus ist in den ökonomischen und politischen Eliten angekommen – in der breiten Bevölkerung war sie nie umstritten.

Abgrenzung und Vermischung politischer Strömungen

Die Idee, durch politische Gestaltung die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern, unterscheidet die Sozialdemokratie von anderen politischen Kräften. Die Kräfte links von der Sozialdemokratie vertrauen auf sozioökonomische Konflikte, die marxistische Variante auf die Dynamik des Klassenkampfes, und halten die politischen Akteure dabei nur für Statthalter dieser Konflikte. Diese wissen nicht, was sie tun. Sie sind lediglich Interessenvertreter, obwohl sie vorgeben, Gestalter zu sein. Die beiden wichtigsten Kräfte rechts von der Sozialdemokratie sind ebenfalls skeptisch gegenüber dem Primat des Politischen. Die Liberalen vertrauen auf den Markt und das Individuum und fürchten sowohl Rationalitäts- als auch Freiheitsverluste, die die Politik verursacht. Damit sind zwei in Konflikt stehende Strömungen des Liberalismus markiert; der Wirtschafts- und der Bürgerrechtsliberalismus. Die vergangenen 30 Jahre waren von einer Dominanz des Wirtschaftsliberalismus in seiner marktradikalen Form geprägt. Der Konservatismus dagegen vertraut auf die Bindungskräfte der Kultur und der Gemeinschaft, misstraut den utopischen Potenzialen politischen Engagements, befürchtet den Verlust vertrauter Lebensverhältnisse und schätzt die stabilisierende Rolle staatlicher Institutionen.

Die modernen Parteien lassen sich keiner dieser vier Paradigmen des politischen Denkens eindeutig zuordnen. Parteien bedienen sich heute unterschiedlicher Theorieelemente, was die Einheitlichkeit ihrer Programmatik gefährdet, dafür aber die Chance eröffnet, unterschiedliche Strömungen politischen Denkens sowie verschiedene Milieus zu integrieren. Die Union hat diese Vermischung politischer Strömungen von Beginn an zum Programm erhoben. Sie versteht sich als christlich, aber konfessionsübergreifend, sozial, liberal und konservativ. Eine kohärente Programmatik erübrigt sich bei diesem Selbstverständnis. Dies ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Die Kanzlerschaft Angela Merkels ist der Beleg dafür.

Betrachtet man die politische Entwicklung in Deutschland und Europa, so spricht alles für die Notwendigkeit einer Neuaufstellung der Sozialdemokratie, wenn diese das anhaltende Siechtum beenden will. Diese Einsicht gewinnt zwar stetig Anhänger, jedoch ist die Ratlosigkeit groß, wie sie umzusetzen wäre. Es existieren dafür drei gegensätzliche Entwürfe: Der erste macht den »dritten Weg« von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder für den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie verantwortlich und bietet als Lösung die Rückkehr zur Programmatik der 70er Jahre an. Nennen wir diese Option die Corbyn-Variante, benannt nach dem britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn. Sie fordert ein Ende der Austeritätspolitik, eine höhere Staatsverschuldung als Wirtschaftsmotor, die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Ambivalenz gegenüber Europa. Konsequent zu Ende gedacht wäre eine solche Programmatik nur bei einer weitgehenden Rückkehr zur nationalstaatlichen Souveränität realisierbar. Das ist der Grund, warum sich Corbyn weder für noch gegen den Brexit ausgesprochen hat. Diese Ambivalenz beruht auf einem Spannungsverhältnis zwischen linkem Internationalismus einerseits und sozialistischer Kritik der Globalisierung andererseits. Corbyn hat wie Bernie Sanders in den USA, der linke Konkurrent von Hillary Clinton im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten, eine wachsende und begeisterte Anhängerschaft unter jungen Menschen. Bei denen nimmt die Wut über die erfahrene Ausgrenzung im eigenen Land und die Schwierigkeiten, nach dem Abschluss von Schule und Studium im Berufsleben Fuß fassen zu können, sowie die moralische Kritik an der Ungerechtigkeit in den globalen Ausbeutungsverhältnissen zu. Die Hoffnung richtet sich dann auf unbeugsame ältere Repräsentanten einer Politik, die von der Ungerechtigkeit dieser Welt – national und international – ihren Ausgang nimmt. Die Umsetzung dieser Programme würde jedoch vermutlich in denselben Schlamassel führen, wie ihn Frankreich 1981 in den ersten Monaten nach dem Machtwechsel unter dem Präsidenten François Mitterrand und der sozialistisch-kommunistischen Regierung erlebte. Schon damals war die weltwirtschaftliche und speziell finanzwirtschaftliche Verflechtung zu groß, als dass man den radikalen Kurswechsel eines europäischen Landes hätte zulassen können. Mitterrand reagierte geistesgegenwärtig, verabschiedete die Blütenträume sowohl der sozialistischen als auch des kleineren kommunistischen Partners und erzwang eine stabilitätsorientierte Finanzpolitik. Dennoch gelang es in den folgenden Jahren, das sozialstaatliche Niveau in Frankreich deutlich anzuheben. Da die demografische Situation Frankreichs als einzigem europäischen Land stabil ist und die Finanzierung der Altersversorgungssysteme daher nicht vor solchen Herausforderungen wie zum Beispiel Deutschland, Österreich oder auch Italien steht, konnte Frankreich diesen Kurs länger durchhalten als die meisten anderen Industriestaaten. Jetzt allerdings scheint diese Gnadenfrist endgültig verstrichen und Macron steht vor der Aufgabe, das zu realisieren, an dem sein Vorgänger François Hollande gescheitert ist: einen nachhaltigen Umbau der sozialen Sicherungssysteme und zugleich eine gewisse Liberalisierung des erstarrten Arbeitsmarktes. Für die sozialdemokratische Linke in Europa ist Macron eine »Neoliberaler«, und manche seiner Sprüche aus der Vergangenheit nähren diesen Verdacht. Aber ihre Alternativen sind rückwärtsgewandt: Das Ausmaß der globalen und insbesondere innereuropäischen wirtschaftlichen Verflechtung lässt einen binnenstaatlich orientierten Sozialismus heute noch weit weniger zu als in den 80er Jahren. Eine sozialdemokratische Agenda muss mit der ökonomischen Konkurrenzsituation der Weltmärkte kompatibel sein, also soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz verbinden. Ein sich zunehmend verschuldender Staat wäre innerhalb weniger Jahre weitgehend politisch handlungsunfähig und würde schließlich in die Abhängigkeit entweder von globalen Finanzmärkten oder gar von europäischen Rettungsschirmen geraten, wie das Beispiel Griechenland zeigt.

Mit anderen Worten: Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit muss stabilitätsorientiert sein. Sie darf nicht zu strukturellen Haushaltsdefiziten führen, sondern muss sich des keynesianischen Postulats besinnen, dass steigende Staatsverschuldung der Stabilisierung der Konjunktur zu dienen hat und daher in guten Konjunkturphasen wieder abgebaut werden muss.

Die Alternative zu einer »vulgärkeynesianischen« Renaissance der demokratischen Agenden der 70er Jahre kann allerdings auch nicht der Weg von Tony Blair oder zuletzt Hillary Clinton sein. Diese Politikvariante verbindet eine wirtschaftsliberale Praxis mit linksliberaler Rhetorik. Dies war einer der Gründe für das Scheitern Clintons bei der Präsidentschaftswahl: Ihre Reden bei Goldman Sachs, ihre Befürwortung eines robusten internationalen Interventionismus der USA, ihre Nähe zu den Finanzzentren New Yorks und den ökonomischen Interessen der Hollywoodindustrie kontrastierten allzu auffällig mit ihren linksliberalen und feministischen Positionen. Diese Politikvariante setzt auf Bildung als Heilmittel für alle sozialen Gebrechen eines Landes: Wenn jemand arbeitslos ist, dann ist er es, weil er nicht hinreichend gebildet ist, etwa nicht studieren konnte. Tatsächlich sind die inklusiven Bildungsprogramme der USA oder auch Großbritanniens, verbunden mit einer wirtschaftsliberalen, zu großen Teilen privaten Finanzierung von Schule und Studium, auf ganzer Linie gescheitert: Großbritannien hat fast die doppelte Akademikerquote wie Deutschland, aber auch eine mehr als doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die beiden großen angelsächsischen Demokratien weisen trotz einer Form der Gesamtschule für alle, in Gestalt der Highschool, eine weit geringere soziale Mobilität auf als zum Beispiel Deutschland, Österreich oder gar die Schweiz. Die Forderung an die Abgehängten und Ausgegrenzten, sich doch um ein höheres Maß an Bildung zu bemühen, klingt in deren Augen oftmals zynisch. Wenn die eigenen beruflichen Qualifikationen durch Verlagerung von Industrien ins Ausland wertlos werden, dann ist die Kritik an einer ungezügelten Globalisierung naheliegender als das Vorhaben, mit 50 Jahren noch einmal ein College zu besuchen. Die Verkürzung sozialer Gerechtigkeit auf Bildungsanstrengungen scheint mir eines der Hauptprobleme des angelsächsischen Linksliberalismus zu sein, der in Europa am deutlichsten die grünen Parteien prägt, aber auch die CDU merkelscher Prägung, generell die modernisierungsfreundlichen Konservativen, ebenso wie die modernisierungsfreundlichen Sozialdemokraten. Diese unausgesprochene Klammer in der Mitte, so sympathisch sie auftritt, ist für beide Volksparteien jedoch auch eine große Gefahr. Beide verlieren ihre Bindungskraft gegenüber ihren angestammten politischen Milieus: die Sozialdemokratie in der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerschaft mit ihren Kernen der teils gut verdienenden Facharbeiter in der Industrie, und die CDU im konservativen Bürgertum sowohl des gehobenen als auch des kleinbürgerlichen Milieus. Diese gelockerten Bindungskräfte führen zur Wahlenthaltung oder zur Wahl rechtspopulistischer Parteien. Das zeigen die Wählerstromanalysen der letzten Bundestagswahl, aber auch der letzten Präsidentschaftswahl in Frankreich. Die berechtigte Frage lautet: »Gibt es dazu eine vertretbare programmatische Alternative?«

Bei der Beantwortung muss man zwischen dem Ordoliberalismus, der die Nachkriegspolitik in Deutschland, aber auch in anderen westlichen Ländern geprägt hat, und dem sogenannten Neoliberalismus oder besser Marktradikalismus der vergangenen 30 Jahre unterscheiden. Der Ordoliberalismus sieht einen Staat vor, der die Regeln festlegt, nach denen dann die Märkte funktionieren. Das setzt voraus, dass der Staat nicht selbst Akteur im ökonomischen Geschehen ist, sondern neutraler Schiedsrichter. Er muss hinreichend stark sein, um nicht zum Getriebenen ökonomischer Prozesse zu werden. Er darf daher auch nicht selbst zum Konkurrenten privater Anbieter werden und muss zudem strikt gemeinwohlorientiert agieren. Damit stellt sich der richtig verstandene Ordoliberalismus gegen sogenannte pluralistische Demokratietheorien, die auch die Politik als Marktgeschehen begreifen, mit Anbietern und Nachfragern, mit nutzenoptimierenden Politikern und einer marktförmig organisierten öffentlichen Verwaltung in Zeiten von »New Public Economics«. Der Ordoliberalismus ist als wissenschaftliches Paradigma in den vergangenen Jahrzehnten in die Defensive geraten, als politisches Programm jedoch keineswegs. Vor Kurzem ist einer der einflussreichsten Gestalter der Politik ins repräsentative Glied zurückgetreten, der über Jahrzehnte eine vom Ordoliberalismus geprägte Politik gemacht hat: Wolfgang Schäuble. Aber auch der große sozialdemokratische Wirtschafts- und Finanzpolitiker Karl Schiller vertrat einen keynesianisch moderierten, im Ganzen ordoliberalen Ansatz, was ein Grund für seinen Rücktritt war.

Sozialdemokratische Ordnungspolitik

Das Defizit des Ordoliberalismus ist, dass er die zentrale Dimension der Politik, nämlich die soziale und politische Gerechtigkeit, ausblendet. Ihm geht es um das Funktionieren der Wirtschaft und die Rolle des Staates als Garanten der Regeln, nach denen Märkte zu organisieren sind. Eine Sozialdemokratie der Zukunft sollte die Programmatik des Ordoliberalismus zu einer sozialdemokratischen Ordnungspolitik umbauen. Es ist die ordnungspolitische Rolle des Staates im nationalen, europäischen und globalen Rahmen, die es erlaubt, sozialdemokratische Programmatik zu konkretisieren.

Der starke Staat einer zukünftigen Sozialdemokratie ist kein ökonomischer Akteur unter anderen und profiliert sich auch nicht als Produzent von Gütern und Dienstleistungen, sondern Garant öffentlicher Infrastruktur, allgemeiner und beruflicher Bildung, individueller Sicherheit und öffentlicher Ordnung. Diese Programmatik kann durchaus mit dem Ausbau des öffentlichen Dienstes verbunden werden, sofern dieser nicht durch Haushaltsdefizite, sondern eine nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik gesichert ist.

Die Sozialdemokratie der Zukunft verabschiedet sich also vom Paradigma einer defizitgetriebenen Wachstumspolitik, macht ihren Frieden mit einer stabilitätsorientierten Haushalts- und Finanzpolitik, wendet sich aber gegen die periodisch auftretenden Steuersenkungspläne von Liberalen und Konservativen. Sie verstärkt den Umverteilungseffekt von Steuern dadurch, dass die Progression langsamer greift und damit die gehobenen Facharbeiter und Akademiker einkommensschonender als heute mit einem Spitzensteuersatz, der schon ab einem Jahresverdienst von 56.000 Euro brutto Anwendung findet, behandelt, aber andererseits in den höheren Einkommensbereichen deutlich stärker zugreift. Hier scheint mir auch die Tabugrenze von 50 %, deren verfassungsrechtliche Relevanz mehr als zweifelhaft ist, nicht relevant zu sein. Ein übersichtlicher Stufensteuersatz von beispielsweise 20, 40 und 60 %, der jeweils nur das zusätzliche Einkommen erfasst und insofern entgegen der üblichen Einschätzung ohne alle Sprünge ist, wäre sozialpolitisch durchaus sinnvoll. Die Beitragsbemessungsgrenze sollte vollständig aufgehoben werden, um eine inklusive und solidarischere, aber auch besser finanzierte Sozialversicherung in ihren unterschiedlichen Sparten zu ermöglichen. Statt der abstrusen Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, das die staatlichen Transferleistungen in astronomische Höhen treiben, ein gigantisches Steueraufkommen erforderlich machen und die Finanzierbarkeit öffentlicher Einrichtungen gefährden würde, benötigt es eine soziale Grundsicherung, die im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder hohem Alter ein gleich hohes Basiseinkommen für alle vorsieht und damit den Bürgerstatus konkretisiert: Die Bürgerschaft als Ganze sorgt dafür, dass keines ihrer Mitglieder in unwürdige Abhängigkeitsverhältnisse gerät.

Kosmopolitismus der Globalverantwortung

Die größte Herausforderung einer sozialdemokratischen Ordnungspolitik der Zukunft wird die Gestaltung der Weltwirtschaft sein. Im Modus der Freihandelsverträge der vergangenen Jahrzehnte wird sich keine ökonomisch stabile und sozial gerechte Weltwirtschaftsordnung etablieren lassen. Hier ist an die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) anzuknüpfen, um einen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen dann Konkretisierungen durch spezifische internationale Vertragswerke möglich sind. Unter den weltwirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Gegenwart und der erwartbaren Zukunft hat sozialdemokratische Ordnungspolitik eine globale Dimension. Um ihr gerecht zu werden, müsste die europäische Sozialdemokratie zu ihren internationalistischen Wurzeln zurückkehren.

Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass die großen internationalen Herausforderungen durch Vertragswerke oder gar lediglich Absichtserklärungen auf Regierungsebene nicht zu bewältigen sind. Dies gilt in ähnlicher Weise für die anderen großen Weltprobleme: Die weltweiten Hungerkatastrophen (aktuell sind rund 815 Millionen Menschen chronisch unterernährt), die Weltarmut (2,5 Milliarden Menschen leben von weniger als zwei US-Dollar Kaufkraft am Tag), die verbreitete Kinderarbeit, die Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen, der verantwortliche und nachhaltige Umgang mit den natürlichen Ressourcen, der Schutz der Artenvielfalt und der Umweltschutz etc. erfordern eine Institutionalisierung globaler politischer Verantwortung. Nicht nur im Rahmen des Integrationsprojektes der Europäischen Union, sondern auch im globalen, weltpolitischen Rahmen ist eine Ausweitung demokratischer Gestaltung und Kontrolle erforderlich. Der traditionelle Internationalismus der politischen Linken muss durch einen Kosmopolitismus der Globalverantwortung ersetzt werden. Es kann nicht sein, dass die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Welthandelsorganisation die ökonomischen und damit auch die sozialen Geschicke der Weltgesellschaft steuern. Den Vereinten Nationen fehlen anderseits die erforderlichen Strukturen und funktionierenden demokratische Entscheidungsverfahren, um diese Aufgabe zu schultern. Das alte sozialdemokratische Versprechen einer Freundschaft der Völker gehört im 21. Jahrhundert auf die Agenda als der große globale Gestaltungsauftrag einer Weltwirtschafts- und Sozialpolitik. Die Zeichen stehen gut für das Primat des Politischen, dem programmatischen Kern der Sozialdemokratie, aber bislang sieht es nicht so aus, als ob sie diese Zeichen erkennt.

 

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