Menü

Ein neues Jahrhundert Sozialer Demokratie

Zur Notwendigkeit eines sozialdemokratischen Narrativs

Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung. Andrea Nahles hat auf dem in seinen Folgen noch nicht abzuschätzenden Bonner SPD-Parteitag Ende Januar mit großer Leidenschaft an ein sozialdemokratisches Grundprinzip erinnert, das gerne vergessen wird, das aber schwer zu erfüllen ist: im Kleinen das Große sehen können. Eine Formulierung, die gänzlich missversteht, wer vergisst, dass es dabei vor allem auf »das Große« ankommt, das »im Kleinen« jederzeit erkennbar sein muss, auf die Reform, die die sozialen Grundwerte der gleichen Freiheit jeweils in der Realität des gesellschaftlichen Zusammenlebens ein deutliches Stück wirklicher werden lässt. Im »Kleinen«, den jeweils erreichbaren Reformschritten, muss stets so viel vom »Großen« wirksam sein, wie in der gegebenen Lage realisierbar ist. Wer aber geplanten Reformen nur zustimmt, wenn mit ihnen das Große als Ganzes ins Werk gesetzt wird, überlässt der politischen Konkurrenz das Feld. Die Sozialdemokratie hat sechs Jahrzehnte heftigen Ringens mit sich selbst gebraucht, vom Anfang des Revisionismusstreits 1896 bis zum Godesberger Programm 1959, ehe diese Einsicht für sie zum Gemeingut wurde. Diese schließt immer die Beweispflicht ein, dass das Große in dem Kleinen, um das es geht, überzeugend enthalten ist. Dabei geht es immer sowohl um die Sache selbst, den Inhalt der geplanten Reformen und um ihre wirkungsvolle Vermittlung in die Gesellschaft hinein. Es ist offenbar vor allem das Letztere, was schon in der Zeit der Großen Koalition, mehr noch im Wahlkampf selbst, misslang. Für viele aber ist mangels einer lebendigen Debatte undeutlich geworden, was genau das Große für die Sozialdemokratie heute sein muss. Es ist überaus deutlich geworden, dass die Partei nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie zu beidem fähig ist: dem überzeugenden Bild vom Großen, für das sie glaubhaft steht, und mobilisierenden Ideen, wie das Wichtigste davon im Kleinen Schritt für Schritt Gestalt annehmen kann.

Als Diskussionsforum der Sozialen Demokratie wird diese Zeitschrift daher die in der Januar/Februar-Ausgabe begonnene kritische Bestandsaufnahme zur Lage der SPD mit einer Serie von Beiträgen fortsetzen, die einige Vorschläge dazu entfalten, welche die großen Ziele einer Sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert sein sollten und worin die kleinen Schritte bestehen können, um davon so viel wie möglich in der überschaubaren Zukunft zu erreichen. Die Autor/innen der Beiträge sind Mitglieder einer Arbeitsgruppe der SPD-Grundwertekommission.

 

Ein neues Jahrhundert Sozialer Demokratie – vierzehn Thesen

 

1.  Die Widersprüche des 21. Jahrhunderts

Der bedeutende Gelehrte Ralf Dahrendorf trat 1983 mit dem Befund hervor, das 20. Jahrhundert habe sich im Ergebnis als eine Epoche erwiesen, in der es der Sozialdemokratie gelang, die Gesellschaften in Europa mit ihren Grundwerten und politischen Ideen zu prägen. Ihre historische Mission habe sich damit erfüllt. Nun aber zeigt sich, dass in der anschließenden Ära des Neoliberalismus vieles zurückgedreht wurde und die meisten der zentralen Herausforderungen unserer Zeit abermals, wenn auch auf neue Weise, sozialdemokratische Antworten verlangen. Der Anspruch des Neoliberalismus als besserer Problemlöser in Zeiten der Globalisierung ist durch die verheerenden Folgen seiner Politik und die Finanzmarktkrise 2008 gründlich widerlegt. Ungleichheit und Unsicherheit sind wieder gewachsen, die Schere zwischen den globalen Problemen, voran dem Klimawandel, und der politischen Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft bleibt weit geöffnet – gleichzeitig fordern dramatische Entwicklungen wie die digitale Revolution und die weltweite Massenflucht die Werte einer humanen Gesellschaft auf neuartige Weise heraus. Es ist offensichtlich: Die großen Probleme der Zeit verlangen nach sozialdemokratischen Antworten – eine Politik der Gleichheit, der sozial verantwortlichen Gestaltung von Staat, Wirtschaft und Lebensbedingung der Menschen sowie den zielstrebigen Aufbau einer fairen und kooperativen Weltgesellschaft. Die historische Gelegenheit für eine neue Offensive der Sozialen Demokratie ist günstig. Es gilt jetzt, verlorenes Vertrauen in die sozialdemokratischen Parteien durch zeitgemäße politische Antworten zurückzugewinnen.

2.  Soziale Demokratie, Gute Gesellschaft

Um den Stand der Verwirklichung Sozialer Demokratie annähernd zu bestimmen, sind Indikatoren für soziale Teilhabe und Sicherheit aufschlussreich, vor allem die Gleichheit der Bildungschancen, der Einkommen und Vermögen, die Sicherungsleistung und das Niveau des Sozialstaats, Schlüsselelemente der Wirtschaftsdemokratie wie Mitbestimmung und Machtgleichheit in der Tarifautonomie, die soziale Einbettung der Märkte und die Chancen für sozialen Aufstieg. In vielen dieser Bereiche haben sich die Messwerte in den letzten Jahrzehnten verschlechtert, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Jetzt kommt es darauf an, das Versäumte zu korrigieren und auf die neuen Herausforderungen Antworten zu geben, die dem Anspruch der Sozialen Demokratie auf gleiche Freiheit nicht nur im rechtlichen, sondern auch im sozialen Sinn, in der Lebenswirklichkeit aller auf überzeugende Weise Geltung verschaffen. Die Soziale Demokratie der gleichen Teilhabechancen aller und die durch eine solidarische und humane Kultur gekennzeichnete Gute Gesellschaft müssen weltweit die Tagesordnung des neuen Jahrhunderts bestimmen.

3.  Vertrauen neu bilden

Das Vertrauen in die sozialdemokratischen Parteien ist zurückgegangen, weil sie einen Anteil an den sozialen Rückschritten in der Phase der neoliberalen Dominanz hatten. Aber Verratstheorien und moralische Anklagen erklären nichts und helfen nicht bei der Neuorientierung. Stattdessen gilt es, die Sichtweisen und Handlungsgründe der Akteure in jener Zeit zu verstehen und gemachte Fehler zu korrigieren. Nur dadurch lässt sich verlorenes Vertrauen zurückgewinnen und künftiges Handeln konsequenter orientieren. Zur gemischten Bilanz dieser Zeit gehört auch die Feststellung, dass trotz aller Probleme in Deutschland tatsächlich die Zahl der Arbeitsplätze erhöht und die bedrohte Finanzierung des Sozialstaates gesichert werden konnte, aber um den unerwünschten Preis der Zunahme von prekärer Arbeit und Ungleichheit sowie geschwächter sozialer Sicherheit. Die sozialdemokratische Partei in Deutschland ist zwischenzeitlich dazu übergegangen, erkannte Fehlentwicklungen dieses früheren Kurses zu korrigieren.

4.  Das Projekt der Sozialen Demokratie

Die sozialdemokratischen Grundideen der gleichen Freiheit und der sozialen Sicherheit durch wirtschaftliche und soziale Grundrechte sind unter den Bedingungen einer beschleunigten Globalisierung und eines wiedererstarkten Kapitalismus auf neuartige Weise herausgefordert. Sie bleiben die besten Wegweiser auch für die Lösung der neuen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und globalen Probleme, verlangen aber der heutigen Zeit gemäße Wege ihrer Verwirklichung ab. Heute geht es um realisierbare Strategien der Gleichheit, der Kontrolle wirtschaftlicher Macht, der Erneuerung und transnationalen Erweiterung der Demokratie, der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, der sozialen und demokratischen Gestaltung der digitalen Revolution, der Modernisierung des Sozialstaats und der Revitalisierung der zivilgesellschaftlichen Grundlagen von Solidarität und einer humanen Lebenskultur. Zu alledem bedarf es des Ausbaus fairer Strukturen für transnationales Regieren, in Europa und der Welt. Nach dem offensichtlichen Scheitern der neoliberalen Versprechungen zeichnet sich eine neue Zuwendung zu diesem politischen Projekt allmählich ab.

5.  Die Selbstgefährdung der menschlichen Zivilisation

Die Erde steuert auf einen verhängnisvollen Zeitpunkt zu, der schon dann eintreten kann, wenn das Zusammenspiel von Klimaänderungen, Öl- und Wasserknappheit, nachholender Industrialisierung und weiteren 1,5 Milliarden Menschen Synergien erzeugt, deren negative Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen.

In der Nachkriegszeit konnte der Wohlfahrtsstaat die sozialen Folgen der »Entbettung« der Ökonomie aus gesellschaftlichen Bindungen in Grenzen halten, doch in der neoliberalen Phase wurden die Konsequenzen aus der Verschwendung natürlicher Ressourcen und der Überlastung ökologischer Systeme lange Zeit nicht gesehen, verdrängt oder die Erkenntnisse blieben folgenlos. Aber es geht nicht allein um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die soziale Umwelt und die natürliche Umwelt verschlechtern sich gemeinsam, und wir werden die Umweltzerstörung nicht angehen können, wenn wir nicht gleichzeitig auf die sozialen Zusammenhänge achten.

Die große Herausforderung heißt daher: Den Kapitalismus national, europäisch und global, sozial und ökologisch zu bändigen. Das erfordert Antworten, die Deutschland nicht allein geben kann, aber bei denen unser Land und die Europäische Union eine wichtige Rolle einnehmen können. Quantitatives Wirtschaftswachstum für sich genommen kann daher weder ein Ziel noch eine Voraussetzung für Soziale Demokratie sein.

6.  Strategien der Gleichheit

Destruktive Ungleichheiten haben sich zementiert und verhindern die gerechte Verteilung der Lebenschancen, die wirtschaftliche Entwicklung, die demokratische Teilhabe und das Vertrauen der Menschen in Gesellschaft und Staat. Gegen sie muss der Kampf vor allem geführt werden. Wenn es richtig ist, dass die Prinzipien der Sozialen Demokratie maßgeblich sind, um die großen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen, und diese auch in der Gesellschaft wieder eine neue Wertschätzung erfahren haben, dann heißt das Gebot der Stunde: Re-Sozialdemokratisierung der Sozialdemokratie durch eine umfassende Strategie der Gleichheit, national, europäisch und global.

7.  Wirtschaftsmacht demokratisch kontrollieren

Wirtschaft und Wirtschaftsmacht sind entscheidend für die Verteilung der meisten Lebenschancen, speziell von guten Arbeitsverhältnissen und für den Umgang mit der Natur. In diesem Zusammenhang muss nicht nur der Kapitalismus als solcher mit seinen neuen Dimensionen der Finanzmarktdominanz, der Macht der Multis, und seiner Rolle in der EU ins Auge gefasst werden, sondern auch die Dimension des technischen Fortschritts im Zeitalter der Digitalisierung und Robotisierung. Gegen die problematischen Entwicklungen in all diesen Bereichen muss die Demokratisierung der wirtschaftlichen Macht als eine Grundbedingung für gesellschaftlich verantwortliche Gestaltung der neuen Entwicklungen durchgesetzt werden: durch Beteiligung der Beschäftigten, Unternehmensmitbestimmung, Tarifpolitik, staatliche Marktregulierung sowie öffentliche Güter. Hinzukommen müssen neue Instrumente der transnationalen Einbettung der Märkte.

8.  Die digitale Revolution gestalten

Digitalisierung bedeutet die beschleunigte Revolutionierung von Wirtschaft, Lebenswelt und Politik. Sie ist nicht nur eine Herausforderung für Arbeitsplätze und soziale Sicherheit, sondern auch für die menschliche Freiheit im Ganzen, in einem Maße, das weit über unsere bisherigen Erfahrungen hinausreicht. Die Besonderheiten des neuen digitalisierten Plattformkapitalismus bedrohen auch die finanziellen und gesellschaftlichen Grundlagen sowie die Sicherungsformen unseres Sozialstaates. Es besteht das Risiko, dass der Sozialversicherungsstaat durch einen bedingungslosen Grundsicherungsstaat ersetzt wird. Nach den Erfolgen der weitgehenden politischen und sozialen Gestaltung der Industriellen Revolution im 20. Jahrhundert durch die Kräfte der demokratischen Arbeiterbewegung, steht die Sozialdemokratie nun vor der großen Aufgabe des 21. Jahrhunderts: die digitale Revolution politisch, sozial und human zu formen.

9.  Globale Gerechtigkeit und Kooperation

Armut, Flüchtlingsbewegungen und internationaler Terrorismus sind zentrale Herausforderungen einer wachsenden Weltgesellschaft, die durch eine faire institutionalisierte Weltordnung gerahmt und sozial reguliert werden muss. Die Verwirklichung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte in den armen Ländern unter wesentlicher Mithilfe der reichen Länder ist ein entscheidender Schritt, um ein Mindestmaß an globaler Gleichheit, humaner Sicherheit und verbesserten Entwicklungschancen für alle Länder der Welt zu gewährleisten. Eine veränderte Handelspolitik muss die Entwicklungshindernisse für die schwächeren Länder überwinden. Dafür muss auch das transnationale multilaterale Regieren ausgebaut und demokratisiert werden. Eine wesentliche Maßnahme auf diesem Weg ist die Reform der Vereinten Nationen auf allen maßgeblichen Ebenen. Sie muss getragen sein von einer größeren ideellen, finanziellen und politischen Verantwortung der Nationalstaaten, und einer stärkeren, aktiven Beteiligung der Zivilgesellschaften.

10.  Migration und Integration

Flucht und Massenmigration sind Folgen von globaler Ungleichheit, ökologischer Verwüstung, Willkürherrschaft, Terrorismus und Bürgerkriegen, die alle eng miteinander zusammenhängen. Echte und nachhaltige Flüchtlingspolitik muss bei den Fluchtursachen ansetzen. Große Flüchtlingsströme in kurzer Zeit stellen auch große Anforderungen an die kulturelle, ökonomische und soziale Integrationsfähigkeit der aufnehmenden Gesellschaften. Als Grundrecht darf das Asylrecht nicht durch eine Obergrenze infrage gestellt werden. Gleichwohl ist eine Steuerung der Migration notwendig, die an den Außengrenzen der EU ansetzt und als gemeinsame europäische Herausforderung angenommen wird. Es geht dann um eine »doppelte Integration«, bei der die unterstützungsbedürftigen Zuwanderer und Einheimischen gleichermaßen berücksichtigt werden und sich im Sinne einer wechselseitigen Anerkennung auf Augenhöhe und gemeinsam entwickeln können.

11.  Demokratie als Bürgergleichheit

Die repräsentativen Demokratien haben gegenwärtig ein Glaubwürdigkeitsproblem, das maßgeblich mit der zunehmenden Ungleichheit zusammenhängt, denn diese gefährdet nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern auch die politischen Teilhabechancen. Es drohen die Vertiefung der schon erkennbaren Spaltung der Gesellschaft und eine bloße Zweidritteldemokratie. Eine Neubelebung der Demokratie verlangt sowohl mehr gesellschaftliche Gleichheit wie institutionelle Innovationen der Demokratie selbst auf nationaler, europäischer und globaler Ebene. Eine wachsende Zahl wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme braucht transnationale Antworten. Auch wenn der souveräne Status des Nationalstaats sich dadurch verändert, spielt er als maßgebliches Scharnier im sich entwickelnden europäischen und globalen Mehrebenensystem des Regierens heute und künftig weiterhin eine Schlüsselrolle.

12.  Eine solidarische und freundliche Gesellschaft

Eine Gesellschaft, die das Prinzip des ökonomischen Wettbewerbs auf alle Lebensbereiche und auf den ganzen Menschen anwendet, in der eine manisch entfesselte Maxime der privaten Nutzenmehrung umfassend regiert, wird den Menschen und ihren Bedürfnissen nicht gerecht. Sie produziert fortwährend destruktive Folgen für das Gemeinwohl und tiefes menschliches Leid und Unbehagen. Und sie zerstört ihre eigenen Grundlagen. Dem stellt die Sozialdemokratie das Leitbild einer kooperierenden, solidarischen und freundlichen Gesellschaft entgegen. Es gilt, die dafür geeigneten Bedingungen in der Gesellschaft zu fördern.

13.  Eine humane Lebenswelt

Wie human, gesichert, solidarisch und demokratisch eine Gesellschaft ist, entscheidet sich überall auf der Welt vor Ort, in den unmittelbaren Lebenswelten und Nachbarschaften, in denen unterschiedliche Menschen ihr Leben miteinander verbringen und gemeinsam über die Bedingungen ihres Zusammenseins entscheiden. Hier werden die Qualität ihres Lebens und ihrer Beziehungen zueinander unmittelbar erfahrbar; hier müssen sich Mitmenschlichkeit und Toleranz bewähren; hier werden deren Vorzüge aber auch unmittelbar erlebt; und nur hier kann demokratische Selbstbestimmung bei der Regelung der Grundfragen des Zusammenlebens praktiziert und eingeübt werden. Hier wird Vertrauen gebildet oder verspielt; hier können Freundschaften wachsen und Freundlichkeit als öffentliche Tugend erprobt werden. Eine humane Lebenswelt und eine aktive Zivilgesellschaft geben der Gesellschaft ihre moralische Infrastruktur.

14.  Eine realistische Strategie

Um sich wieder glaubwürdig in der »Arbeiterschaft« und der Unterschicht der Gesellschaft zu verankern und damit mehrheitsfähig zu werden, muss die Sozialdemokratie die mentalen Hindernisse überwinden, die ihr heute den Zugang zu diesen Gruppen versperren und sie den rechten Populisten überlassen. Dazu gehört die Anerkennung eines verletzten Gerechtigkeitsempfindens in der »Arbeiterschaft« ebenso wie eine Politik der Verbesserung der Lebenslage, Lebenssicherheit und des sozialen Status der gering qualifizierten und prekären Arbeiter, die sich nicht in der Aufforderung zur Höherqualifizierung erschöpfen darf. Dazu gehört auch, Verunsicherung durch ungesteuerte Zuwanderung ernst zu nehmen und mit einer glaubwürdigen Politik der »doppelten Integration« aufzufangen.

Um die veränderten gesellschaftlichen Spaltungslinien angemessen zu erfassen, ist eine einfache Gegenüberstellung »kosmopolitischer« (weltoffener) und »kommunitaristischer« (lokalgemeinschaftlicher) Mentalitäten unzureichend. Die meisten Menschen sind, in dem Maße wie ihr Bedürfnis nach einer intakten und berechenbaren Lebenswelt auf der Basis einer gemeinsamen Zivilkultur befriedigt ist, für geregelte Zuwanderung offen.

Das Projekt der Sozialen Demokratie findet bei vielen Akteuren in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Unterstützung: Gewerkschaften, Angehörige der neuen digitalen und Dienstleistungsberufe, zivilgesellschaftliche Akteure, solidarische Milieus der Mitte, Religionsgemeinschaften und Intellektuelle. Es ist die große Herausforderung für die sozialdemokratischen Parteien, überzeugende Programme aufzulegen, in denen sich große Mehrheiten wiederfinden und durch deren konsequente Verwirklichung mehrheitsfähige soziale und gesellschaftliche Koalitionen zu bilden. Sie müssen die von Rechtspopulisten beeinflussten Milieus durch einen neuen Entwurf der Sozialen Demokratie zurückgewinnen, der glaubhafte Antworten auf ihre alltäglichen Sorgen gibt. Dann wird das von Willy Brandt für eine sozialdemokratische Mehrheitsbildung beschriebene Bündnis zwischen »aufgeklärtem Bürgertum« und »demokratischer Arbeiterbewegung« auch unter den aktuellen Bedingungen auf neue Weise wieder möglich. Das 21. Jahrhundert muss eine neue Epoche der Sozialen Demokratie werden. Das ist notwendig und es ist möglich.

(Thomas Meyer; Gesine Schwan; Dierk Hirschel; Christian Krell; Henning Meyer; Wolfgang Merkel; Hans Misselwitz; Michael M. Müller; Wolfgang Schroeder / SPD-Grundwertekommission)

 

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben