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Plädoyer für eine partizipative und progressive Politik Zur Zukunft politischer Führung

Leben wir in einer Zeit der Führungs- und Zukunftslosigkeit? Umfragen zufolge glaubt eine große Mehrheit der Deutschen nicht daran, dass das Land die besten Jahre noch vor sich hat. Ein Land, dessen Kitt die Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« ist, ist kaum zukunftsfähig. Das Gefährliche ist seine Neigung, die tatsächliche mit einer idealen Zeit zu verwechseln. Der 2017 verstorbene Philosoph Zygmunt Bauman spricht in seinem letzten Buch von »Retropien« – von Visionen, die sich aus einer verlorenen Vergangenheit speisen. Profiteure sind vor allem rechte Populisten und Extremisten, zu den Verlierern gehören auch die beiden einst großen Volksparteien SPD und CDU. Ein Ende ihres Schrumpfens ist nicht abzusehen. Europaweit geht der Trend nach unten. Die heutige Medienökonomie befördert das Ideal der Populisten einer antipolitischen und postfaktischen »Demokratie der Nichtwissenwollengesellschaft« (Eduard Kaeser) weiter. Die gute Nachricht: Die veränderten Zeiten bedeuten auch neue Chancen. In der konnektiven Netzwerkgesellschaft gibt es kein strategisches Zentrum mehr, das alle Fäden zusammenhält und Politik steuert. Dennoch kann Politik dezentraler und demokratischer werden.

Demokratie ohne Führung?

Politikwissenschaftler, Soziologen und Ökonomen wie Robert Michels, Max Weber und Joseph A. Schumpeter stellten Anfang des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Demokratie und politischer Führung. Eine »führerlose« Demokratie erschien ihnen nicht möglich oder nicht wünschenswert – oder beides. Ihr Plädoyer für die Stärkung sachkompetenter Führungspersönlichkeiten, die sich für das Wohl aller Bürger einsetzen, stößt in der real existierenden Medien- und Netzwerkdemokratie jedoch zunehmend an Grenzen. Die Gesellschaft ist pluralistischer und individualistischer geworden, die Herausforderungen komplexer; und Politik findet immer weniger in geografischen Grenzen statt. Die Nebenfolgen – die Entmachtung der Bürger auf der Inputseite und ihre politische Beschränkung auf die reine Bewertung des politischen Outputs – führen zu einer wachsenden Entfremdung zwischen politischer Führung bzw. Klasse und den Zuschauern und Konsumenten von Politik. Diesen Wandel hat Colin Crouch vor Jahren als »Postdemokratisierung« beschrieben. Danach findet, während die formellen Verfahren und Institutionen (Wahlen, Parlamente, Gewaltenteilung) weitgehend intakt sind, die Legitimation politischen Handels durch die Beteiligung der Bürgerschaft kaum noch statt.

Politische Führung der Zukunft: partizipativ und progressiv

Megatrends wie Migration und Klimawandel haben in den letzten Jahren zu einer Gegenbewegung geführt. Die Bürger flüchten nicht – wie erwartet – weitgehend passiv in die Politikverdrossenheit, sondern schreiten zum friedlichen bis aggressiven Protest gegen die politische Klasse und die Selbstentmachtung der Politik. Sie wehren sich gegen eine »Basta«-Politik von oben wie gegen die Politik der zu kleinen Schritte. Die Methoden Schröder und Merkel sind heute passé.

Politische Führung wird künftig partizipativ und progressiv zugleich sein müssen. Die hyperschnelle, dezentralisierte Kommunikation hat für eine neue Mündigkeit der Bürger gesorgt. »Aber welche Demokratie passt dazu?« ist die entscheidende Frage, die der belgische Historiker David Van Reybrouck in seinem 2013 erschienenen Band Gegen Wahlen stellt. Seine Antwort ist eine Kombination aus repräsentativer und deliberativer Demokratie. Der Kerngedanke: Die Bürger sollen mitreden und sich nicht nur regieren lassen. Demokratie muss wieder erlebbar werden! Wahlen sind nie Selbstzweck, sondern eine Methode zur Gestaltung von Demokratie. Sie sind Ausdruck einer sich möglichst selbst organisierenden und freien Zivilgesellschaft. Die Parteien sollen sich dieser Zivilgesellschaft nicht bemächtigen, sondern dazu beitragen, ihre Träger – Bürger, Vereine und Stiftungen – zu ermächtigen, öffentliche Aufgaben möglichst ohne Zwang zu regeln. Ihre Prinzipien heißen: dezentral vor zentral und horizontal statt vertikal. Politische Führung bedeutet nicht, im Namen der Bürger Entscheidungen zu treffen, sondern gemeinsam mit ihnen Prozesse in Gang zu setzen, deren Entscheidungen am Ende von möglichst vielen akzeptiert werden. Voraussetzung ist ein Kommunikationsstil, der den Dialog auf Augenhöhe sucht. Es geht um ergänzende, nicht ersetzende Formen der Partizipation, welche die Demokratie beleben. Europaweit gibt es inzwischen – vor allem auf lokaler Ebene – eine neue Bewegung der »Bürgerversammlungen«. Ihre Grundidee: Wo alle ausreichend Zeit und Informationen haben, komplexe Fragen zu diskutieren, entstehen gute und akzeptierte Lösungen. Emotional aufgeladene Fragen werden versachlicht, gesellschaftliche Konflikte entschärft. Irland hat mit Unterstützung einer Bürgerversammlung Referenden zur »Ehe für alle« und zum Abtreibungsrecht vorbereitet, der französische Präsident Emmanuel Macron will in diesem Jahr mit einem Bürgerkonvent einen nationalen Konsens in der Klimapolitik erreichen und hat dazu vor kurzem ein Referendum vorgeschlagen.

Progressive Politik

Beschleuniger und Agenten einer Revitalisierung der Demokratie sind kreative Politiker, die sich als »politische Unternehmer« verstehen: Sie bedienen nicht nur bereits existierende Forderungen und Interessen, sondern erzeugen neue, indem sie eine neue Politik anbieten. Repräsentation bedeutet für sie nicht mehr die Re-Präsentation – die Wiedergabe von etwas, das bereits existiert –, sondern das Erschaffen von etwas, das zuvor nicht existiert hat. Sie verkörpern den neuen Politikertypus: den »progressiven Politiker«. Progressive Politiker nehmen den Kampf gegen die rechten und linken Reaktionäre auf und setzen auf eine Politik des Ausgleichs und der Versöhnung scheinbarer Gegensätze und Widersprüche. Sie verkörpern einen unternehmerischen Politikertyp. Bürger sind für sie keine Kunden sondern Partner. Demokratie ist für sie mehr als wählen, sondern mitmachen und gemeinsam Probleme lösen. Politische Führung bedeutet nicht mehr, im Namen der Bürger Entscheidungen zu treffen. Sondern: gemeinsam mit ihnen Prozesse in Gang zu setzen, deren Entscheidungen am Ende von möglichst vielen akzeptiert werden. Das Verhältnis zwischen Politikern und Bürgern ist nicht mehr eines zwischen Eltern und Kindern, sondern eines zwischen Erwachsenen.

Mit dem Wandel in der Kommunikation und Entscheidungsfindung geht eine neue Führungskultur einher. Führungskonzepte der Wirtschaft, wie Führen durch (dezentrale) Teams, finden langsam auch in den Parteien Eingang. Die Zeit des Vorgebens und Anweisens ist vorbei. Klassische Hierarchiemodelle sind out, kooperative und kollaborative Führungsmodelle sind in. Profitieren werden von diesem Wertewandel Parteien und Politiker, die eine moderne Führungskultur verkörpern und in der Lage sind zusammenzuführen, zu vermitteln und zu überzeugen.

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