Der Virtuelle Ortsverein (VOV) der SPD galt in den 90er Jahren als Vorreiter für virtuelle Parteiorganisation. Dennoch fremdelt die »alte Tante SPD« bis heute mit der Art und Weise, wie Onliner Politik machen. Im Erneuerungsprozess der SPD fordert u. a. die Initiative SPD ++ mehr digitale Beteiligungsmöglichkeiten für Mitglieder. Warum tut sich die SPD so schwer mit diesem Thema? Stellen die Digitalen vielleicht mit ihrer Art und Weise, wie sie kommunizieren, das bekannte Machtgefüge in der Partei infrage? Oder haben sie die Verantwortlichen im Willy-Brandt-Haus durch ihre Kommunikationskompetenz so provoziert, dass diese sogar einen Bundesparteitagsbeschluss missachteten? Diese Fragen lohnen den Blick in die Anfänge sozialdemokratischer Netzpolitik, um herauszufinden, was sich innerparteilich ändern muss, damit die Partei für netzaffine Mitglieder (wieder) interessant wird. Denn die Menschen erwarten von der SPD konkrete Antworten auf die Probleme ihres Alltags, der zunehmend digital bestimmt ist. Sollte die Führung der SPD die Digitalisierung wie schon vor 20 Jahren nur als Machtfrage begreifen, verschenkt sie exakt das Potenzial, das für die Partei überlebensnotwendig ist.
Wenn heute die Initiative SPD ++ fordert, Themenforen online zu organisieren und ein Antrags- und Rederecht auf Bundesparteitagen zu etablieren, dann knüpft sie daran an, wie in den 90er Jahren digitale Politik vom Virtuellen Ortsverein praktiziert wurde. Parteimitglieder, die »etwas mit Computern« machten, galten damals zwar noch als Nerds, aber es bewegte sich etwas in die richtige Richtung. Um besser zu verstehen, an welchen innerparteilichen Hürden die erste digitale Community in der SPD letztlich gescheitert ist, ist ein kritischer Rückblick recht hilfreich.
Um die demokratische Teilhabe aller Mitglieder in der SPD zu gewährleisten, ist die politische Willensbildung in der Partei formal von unten nach oben aus den Ortsvereinen heraus organisiert. Für besondere Aufgaben können Arbeitsgemeinschaften und/oder Projektgruppen mit Antrags- und Rederecht auf Parteitagen gebildet werden. Der Virtuelle Ortsverein war jedoch »nur« ein Arbeitskreis, was für die Umsetzung seiner Beschlüsse weitreichende Konsequenzen hatte.
Der VOV war 1995 auf dem Mannheimer Parteitag von einer Handvoll junger, engagierter Menschen, die »der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angehören oder nahestehen und ausschließlich übers Internet zusammenkommen«, gegründet worden. Als nicht eingetragener Verein sollten sich die Mitglieder selbst organisieren und über einen »elektronischen Postverteiler« (E-Mails) bzw. öffentlich in Newsgroups miteinander kommunizieren. Wer sich heute über das Smartphone durch das Internet bzw. durch soziale Medien navigiert, dem müssen solche Technologien als tiefe digitale Steinzeit erscheinen. Doch Mitte der 90er Jahre gab es weder Facebook noch Google. Der Bundeskanzler hieß Helmut Kohl und dieser hatte die Zuständigkeit für den Ausbau von sogenannten Informationshighways bei den Verkehrsministern der Länder verortet.
Als ich 1996 Mitglied im VOV wurde, verfügten kaum mehr als 5 % der Bevölkerung in Deutschland über einen Internetzugang. Die überwältigende Mehrheit der Nutzer war männlich, berufstätig, verfügte über ein überdurchschnittliches Ausbildungsniveau und war zwischen 20 und 39 Jahren alt. Die Frauenquote im VOV pendelte zwischen 9 und 10 %. Dies verleitete übrigens einen (männlichen) Journalisten zu der Frage, warum die Virtuellen ausgerechnet eine Frau zur Vorsitzenden gewählt hätten? »91 % Männer können sich nicht irren«, habe ich ihm mit einem aufmunternden Smiley geantwortet.
Am 27. Januar 1997 folgte die formale Anerkennung des VOV als »Arbeitskreis von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Internet«. Boris Piwinger, Repräsentant des VOV, und Franz Müntefering, damals SPD-Bundesgeschäftsführer, formulierten in die (reale) Geburtsurkunde, dass der Virtuelle Ortsverein »… das Internet für die politische Arbeit der SPD erforschen« solle. Ziel war es, diese neue Form der elektronischen Kommunikation für die Partei zu erproben und in Selbstorganisation Wahlen und Abstimmungen zu entwickeln. In weit über 30.000 Mails haben dies die Mitglieder des VOV von 1997 bis 2002 praktiziert. Und hatte die SPD mit ihrem Leitantrag »Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft« beim Bundesparteitag Anfang Dezember 1997 in Hannover – der Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten kürte – nicht auch demonstrativ signalisiert, dass die an den politischen Fragen rund um die Digitalisierung interessierten Menschen in der Sozialdemokratie herzlich willkommen sind?
Die virtuelle Konferenz tagte damals jeden Tag rund um die Uhr, was sich deutlich vom Parteileben realer Ortsvereine unterschied, wo sich die Mitglieder eher nur einmal im Monat trafen. Das »Rund-um-die-Uhr-Mitmachangebot« des VOV entpuppte sich als innerparteiliche »Marktlücke« und führte zwischen 1997 und 2002 zu einem Mitgliederzuwachs von 300 auf über 1.000. Dieses exponentielle Wachstum konnte allerdings »den« gravierenden Webfehler in der innerparteilichen Willensbildung nicht überdecken. Denn alle Anträge des VOV – ob nun zum Recht auf Information, zum Datenschutz, Domaingrabbing, Identitätsdiebstahl, zur Zukunft der Internetregulierung, zu Softwarepatenten oder zur Vorratsdatenspeicherung –, waren sie auch noch so gut durchdacht, begründet und basisdemokratisch beschlossen, krankten an politischer Folgenlosigkeit. Denn das Organisationsstatut der SPD ließ nur Anträge auf Bundesparteitagen zu, die von realen Ortsvereinen, Arbeitsgemeinschaften und Projektgruppen verabschiedet worden waren.
Als der VOV 2002 einer Empfehlung des Europarats folgte und ein »Recht auf Information« für alle Bürgerinnen und Bürger im Entwurf des Regierungsprogramms forderte, lehnte die Antragsprüfungskommission diesen Beschluss kurzerhand mit der Begründung »Der VOV ist nicht antragsberechtigt!« ab. Es ist sicher nachvollziehbar, dass diese Ablehnung auf den Mailinglisten zu erheblichem Unmut führte. In krassem Gegensatz dazu stand nämlich, dass sich der SPD-Parteivorstand öffentlich mit seiner digitalen Avantgarde schmückte (»Die SPD ist die erste Partei in Deutschland, die einen virtuellen Ortsverein gegründet hat.«). Dies war der Auslöser im VOV, für die Anerkennung als Projektgruppe mit Antrags- und Rederecht zu kämpfen, weil wir politisch an Gesetzentwürfen, die unsere Kernkompetenz betrafen, mitwirken wollten.
Diese Notwendigkeit sah der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Franz-Josef Lersch-Mense, 2003 dagegen eher nicht. Ein Antragsrecht, das sich auf die Kernthemen des VOV beschränke, sei weder mit dem Organisationsstatut der SPD noch mit dem deutschen Parteiengesetz vereinbar, teilte er dem VOV-Vorstand mit. Ein für alle geltendes Antragsrecht zu allgemeinen politischen Themen empfinde der Parteivorstand dagegen als »zu weitreichend«. Lersch-Mense schlug vor, dass der VOV seine Anträge auf IT-Themen beschränke und diese direkt an das Büro des Bundesgeschäftsführers leite, damit der Parteivorstand Einblick in die inhaltliche Arbeit des Arbeitskreises erhalte. Aber nicht nur die stürmische »Rund-um-die-Uhr«-Debattenfreudigkeit des VOV wurde innerhalb der etablierten Funktionärsgremien der Partei als »suspekt« bzw. »irritierend« empfunden. Nicht wenige Parteifunktionäre hatten erhebliche »Bauchschmerzen« hinsichtlich ihrer »digitalen Genossen«, da sich diese aufgrund ihrer Vernetzung zwischen allen bewährten Rechts-Links-Netzwerk-Strukturen bewegten.
In Anbetracht der Lage beschloss der VOV, die Frage »Antragsrecht – ja oder nein?« vom Bundesparteitag im November 2003 in Bochum entscheiden zu lassen. Wir wollten eine rechtsverbindliche Anerkennung mit allen daraus resultierenden Rechten und Pflichten. Und kein – wenn auch sicher gut gemeintes – Wohlwollen von (wechselnden) Funktionären im Willy-Brandt-Haus. Mithilfe von Matthias Kollatz-Ahnen (heute Finanzsenator in Berlin) überwand der Antrag »Anerkennung des VOV (Virtueller Ortsverein) als Projektgruppe (A 264)« die Klippen der Antragsprüfungskommission. Am 19. November 2003 stimmten die Delegierten dafür, den Status des VOV von einem Arbeitskreis in eine Projektgruppe umzuwandeln. Damit hatten wir die (für die Digitalen) größte innerparteiliche Hürde genommen. Der Rest sei wohl nur »reine Formsache« – dachten wir.
Im Frühjahr 2004 wechselte mit Franz Müntefering als Parteivorsitzender auch der Bundesgeschäftsführer im Willy-Brandt-Haus. Kajo Wasserhövel forderte uns umgehend auf, die Richtlinien des VOV ans Organisationsstatut der SPD anzupassen, um diese dann von der Kommission für Organisationspolitik verabschieden zu lassen. Die Zustimmung des Parteivorstands sei »reine Formsache«. Leider sah das der Justiziar der SPD anders. Im Mai 2005 sollte das Kapitel »Ordnungsmaßnahmen« noch einmal überarbeitet werden. Bislang war es im VOV üblich, dass Störenfrieden, die z. B. Hate Speech verbreiteten, durch die Moderation die Schreibrechte entzogen werden konnten. Solche Sanktionsmaßnahmen seien »spezifische Ordnungsmaßnahmen außerhalb der Parteigerichtsbarkeit«, dem könne die Partei nicht zustimmen, so der SPD-Jurist. Nur wie sollte der VOV, wo man ausschließlich schriftlich miteinander kommunizierte, mit dieser für uns unverständlichen Forderung umgehen? In einem realen Ortsverein konnte man renitenten Mitgliedern jederzeit das Rederecht entziehen, das entsprach im Virtuellen Ortsverein dem Entzug der Schreibrechte.
Nach einem längeren Schriftwechsel wurde auch diese Hürde genommen und im November 2005 sollte der Parteivorstand den Bochumer Antrag dann endlich umsetzen. Doch stattdessen wurden dem VOV-Vorstand Sascha Boerger vom neuen Bundesgeschäftsführer Martin Gorholt (der mit dem neuen Parteivorsitzenden Matthias Platzeck ins Willy-Brandt-Haus gekommen war) weitere Wünsche (Wahlverfahren, Spenden, Gastmitglieder) übermittelt. Alle Punkte wurden wie vom Parteivorstand gewünscht in den Richtlinien geändert, und der VOV sah sich im Frühjahr 2006 auf der Zielgeraden. Insbesondere nachdem Kurt Beck, der als Parteivorsitzender auf den erkrankten Matthias Platzeck gefolgt war, die SPD öffentlich als »moderne Mitgliederpartei«, in die über 50 % aller Neumitglieder online eintreten, gepriesen hatte. Geplant wurde, das Mitgliedernetz »SPD.online« zur Community-Plattform umzubauen und den VOV in diesem Zusammenhang zur Projektgruppe zu erheben.
Aus unerfindlichen Gründen war ich skeptisch. Denn sowohl die SPD als auch die innerparteiliche Diskussionskultur hatten sich seit der Einführung der »Agenda 2010« dramatisch verändert. Zwar wurde im VOV immer noch leidenschaftlich über Urheberrechtsfragen, Identitätsmissbrauch, Wahlcomputer, GEZ-Gebühren, Rotlicht-Domains, Jugendschutz, Informationsfreiheitsgesetz oder die Forderung nach Einsicht in das Vertragswerk des Maut-Konsortiums gestritten. Doch immer seltener behandelten die Debatten unser ureigenes Kernthema Digitalisierung. Die Mitgliedergewinnung begann zu stagnieren. Und auch an der Technologie des Virtuellen Ortsvereins nagte der Zahn der Zeit. Denn auf Mailinglisten zu schreiben, erschien nach dem Aufkommen von Facebook vielen jüngeren Genossinnen und Genossen schlicht und einfach unattraktiv.
Im August 2006 schlug Martin Gorholt dann bei einem Treffen im Willy-Brandt-Haus recht unvermittelt vor, den VOV an die Medienkommission des Parteivorstands »anzubinden«. Außerdem sah er noch ein neues Problem beim Thema »Doppelmitgliedschaft«, also gleichzeitig Mitglied im realen Ortsverein und im VOV zu sein. Meinen Einwand, dass diese Problematik doch alle Mitglieder betreffe, die sich im Ortsverein und in Arbeitsgemeinschaften oder Projektgruppen engagierten, bejahte er. Trotzdem sollte der Justiziar seinen neuen Gedanken noch einmal zeitnah prüfen.
Das reale Ende des Virtuellen Ortsvereins kam dann allerdings recht abrupt. Nachdem die virtuelle Konferenz Anfang 2007 einen Antrag gegen den Einsatz von »Bundestrojanern« verabschiedet hatte, sollte ich diesen Beschluss zum nächsten Bundesparteitag auf den Weg bringen. Auf meine wenig freundliche E-Mail an den Bundesgeschäftsführer, wie lange es dieses Mal mit der Entscheidung dauere, verbunden mit der provokanten Frage, wofür die SPD eigentlich neue Mitglieder gewinnen wolle, »wenn die nächste Generation, die jetzt eintreten soll, noch stärker IT-affin ist, als es der VOV je war«, teilte Martin Gorholt am 28. Februar 2007 dem VOV schlicht und analog per Brief mit, dass er »die bisher diskutierte Idee, den VOV zu einer Projektgruppe des Parteivorstandes zu machen«, für »keinen geeigneten Weg« mehr halte.
Rückblickend kann man sicher vieles besser machen bzw. einiges an diesem Verfahren kritisieren. Aber bis heute erscheint es mehr als befremdlich, dass ein Bundesgeschäftsführer einen demokratisch gefassten Beschluss eines Bundesparteitags »nach Gutsherrenart« aushebeln kann. Das war rückblickend der Anfang vom Ende des Experiments »Virtueller Ortsverein«. Am 5. September 2011 ging der VOV dann endgültig vom Netz, nachdem Maritta Strasser der SPD bzw. der Bundesgeschäftsführerin Astrid Klug die Domain www.vov.de übertragen hatte.
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