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Zwei Mythen über den deutschen Merkantilismus

In der Dezember-Ausgabe 2019 der »NG|FH« hat Jürgen Kocka unter dem Titel »Die gegenwärtige Krise der Sozialdemokratie« der Reformpolitik der Regierung unter Gerhard Schröder positive Effekte attestiert. Die Sozialdemokratie habe damit »dem Gemeinwesen Bundesrepublik einen großen Dienst« erwiesen. Im Folgenden bringen wir eine kritische Replik aus gewerkschaftlicher Sicht.

Eigentlich wollte Jürgen Kocka in der NG FH die noch ausstehende Diskussion über den »historischen Ort« von Schröders Reformpolitik nicht führen, nimmt dann aber trotzdem mit zwei Thesen dazu Stellung. Die erste lautet: Deutschland war sozialökonomisch der »kranke Mann« Europas und Schröders Politik war historisch notwendig. Die zweite These, die Kocka direkt mit seiner ersten verknüpft, lautet, dass diese Politik dem Land »sehr gut getan« und »erheblich zur sehr positiven sozialökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik beigetragen« habe. Damit versucht er zu begründen, warum die SPD versuchen sollte, »ihre große Tradition als vermittelnde Spagatpartei links von der Mitte wiederzubeleben mit neuen Inhalten und mit neuem Schwung«.

Kockas zwei Thesen zu Schröders Reformpolitik basieren – so meine Kritik – auf populären Mythen, die bis heute noch in der SPD nachwirken, obwohl sie in den aktuellen innerparteilichen Debatten zunehmend infrage gestellt werden. Eine analytisch begründete Kritik an den Reformen der rot-grünen Regierung wird in der SPD allerdings noch nicht versucht. Wir lesen in der internationalen polit-ökonomischen Debatte seit einer Reihe von Jahren eine oft massive Kritik an der radikalen Exportorientierung der deutschen Wirtschaft, die auf im internationalen Vergleich niedrigen Arbeitskosten und die restriktive deutsche Finanzpolitik zurückgeführt werden kann. Das macht es notwendig, den Versuch zu unternehmen, diese Mythen sowohl mit theoretischen als auch mit empirischen Hinweisen zu entzaubern.

War Deutschland zwischen 2002 und 2005 tatsächlich der in ökonomischer Sicht »kranke Mann« Europas? Dafür spricht nur eines: die im europäischen Vergleich nach der Konjunkturkrise 2001/02 hohe Arbeitslosigkeit, die zwischen 2002 und 2005 von 4,1 auf 4,9 Millionen registrierte Arbeitslose angestiegen war. Das hatte zwei Gründe: zum einen die fortbestehende hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, die Folge der ökonomischen Schocktherapie war, mit der der Beitritt der früheren DDR durchgesetzt wurde. Im Unterschied zu den Schocktherapien, denen die osteuropäischen Gesellschaften wie Polen, Tschechien oder die Slowakei ausgesetzt waren, war die deutsche Einheit anders als in diesen Ländern mit weitgehender Deindustrialisierung verbunden, die durch hohe soziale Transfers abgefedert wurde.

Zweitens war die hohe Arbeitslosigkeit eine Folge der prozyklisch wirkenden Fiskalpolitik durch die Kombination von groß dimensionierten Unternehmenssteuersenkungen und gleichzeitiger Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Achim Truger hat die gesamtstaatlichen Einnahmenverluste der rot-grünen Steuerpolitik bis 2010 auf 762,5 Milliarden Euro beziffert. Das führte dazu, dass auf den Anstieg der Arbeitslosigkeit ab dem 2. Halbjahr 2001 nicht antizyklisch mit mehr Staatsausgaben, sondern mit der Politik der »ruhigen Hand« reagiert wurde. Auch die Herabsetzung des Niveaus der gesetzlichen Renten in Verbindung mit dem Aufbau kapitalgedeckter Zusatzrenten wirkte prozyklisch, weil dadurch die bereits hohe Sparquote weiter anstieg. Der fundamentale Fehler in dieser Debatte bestand darin, zu hohe Arbeitskosten für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen – analog zum einzelwirtschaftlich geprägten ökonomischen Alltagsdenken, das zu hohen Arbeitskosten per se die Verantwortung für Arbeitslosigkeit zuschreibt.

Ein Blick auf die Entwicklung der Außenhandels- und Leistungsbilanzsalden und auf die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten zeigt, dass die internationale Wettbewerbsposition der deutschen Unternehmen nicht durch zu hohe Arbeitskosten gekennzeichnet war, eher im Gegenteil: Bereits 1995 und 1996 wiesen sowohl das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wie das wirtschaftsliberal eingestellte Ifo-Institut darauf hin, dass bezogen auf Löhne und Steuern die internationale Wettbewerbsposition nicht gefährdet war. Daran änderten die durch die hohen sozialen Transferleistungen für die neuen Länder angestiegenen Sozialversicherungsbeiträge nichts. Entscheidend war die allgemeine Lohnzurückhaltung der Tarifparteien, die 1996 ihren Anfang nahm mit dem Angebot der IG Metall, auf die Ausschöpfung des Produktionszuwachses zu verzichten, wenn die Unternehmen die Beschäftigung ausweiten würden. Das geschah, weil die Gewerkschaften im Globalisierungsdiskurs der 90er Jahre Produktionsverlagerungen ins Ausland, insbesondere nach Osteuropa, befürchteten.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit hatte auch einen geldpolitischen Grund. Wegen der unterdurchschnittlichen deutschen Inflationsrate und einer gemeinsamen Geldpolitik im Euroraum waren die Realzinsen in Deutschland entsprechend höher, was Investitionen tendenziell bremst. Der wichtigere Faktor war aber eine aus makroökonomischer Sicht verfehlte Finanzpolitik. Die rot-grüne Bundesregierung hatte die Arbeitsmarktsituation, auf die sie im März 2003 mit der Agenda 2010 zu reagieren versuchte, zu einem großen Teil selbst zu verantworten. Die Arbeitslosigkeit war im Zeitraum von 1999 bis 2005 keine Folge zu hoher Arbeitskosten sondern der Schwäche des Binnenmarktes. Der deutsche Außenhandelsüberschuss stieg zwischen 1999 und 2005 von 65,2 auf 158,2 Milliarden Euro, die Leistungsbilanz entwickelte sich von einem kleinen Minus 1999 auf einen Überschuss von 92,2 Milliarden Euro im Jahr 2005. Ausgerechnet 2003, dem Jahr der Verkündung der Agenda 2010, wurde Deutschland Exportweltmeister.

Unstrittig ist, dass nach 2005 die Zahl der registrierten Arbeitslosen zurückgegangen ist. Da das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen deutlich schwächer angestiegen ist, ist dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit auch auf den steigenden Anteil von Teilzeitbeschäftigung an der gesamten Beschäftigung zurückzuführen. Hoch umstritten in der ökonomischen Forschung ist die Frage, ob dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit primär konjunkturelle Gründe hatte oder ob die positiven Arbeitsmarkteffekte auf das durch das Hartz-Regime verstärkte bessere »Matching« zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen zurückzuführen war. Es liegt auf der Hand, dass die Angst vor dem Abstieg in Hartz IV und die Sanktionen in diesem System Arbeitslose unter Druck setzen, auch schlecht entlohnte Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren. Das hatte aber zugleich negative gesamtwirtschaftliche Folgen, weil der bereits bestehende Sektor niedriger Löhne größer wurde und sich verfestigte. Im 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird gezeigt, dass zwischen 1995 und 2015 die unteren 40 % der abhängig Beschäftigen zum Teil massive Reallohnverluste hinnehmen mussten. Das hat den Binnenmarkt zusätzlich geschwächt und die Exportabhängigkeit verfestigt.

Es spricht viel dafür, dass der langfristige Anstieg der Beschäftigung nach der Wirtschaftskrise 2009 nur wenig auf die Arbeitsmarktreformen sondern weitaus mehr auf die Stärke der deutschen Unternehmen auf den internationalen Märkten zurückzuführen ist. Hier spielten die Arbeitsmarktreformen insofern eine Rolle, als sie dazu beitrugen, den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten und den Preisanstieg zu dämpfen. Das hat zum weiteren Anstieg der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse beigetragen; eine Entwicklung, die aus internationaler und europäischer Sicht deutlich kritisiert wurde, weil auf diese Weise Arbeitslosigkeit in andere Länder exportiert wird. Es ist durchaus irritierend, wenn Deutschland als Teil einer Währungsunion nicht berücksichtigt, was erhebliche Unterschiede in den jeweiligen Handels- und Leistungsbilanzsalden der Mitgliedsstaaten für einen gemeinsamen Währungsraum bedeuten. Deutschland trägt ein hohes Maß an Verantwortung für die ungleiche soziale und ökonomische Entwicklung und das insgesamt schwache wirtschaftliche Wachstum im Euroraum.

Die langfristigen ökonomischen und sozialen Folgen nicht nur der Agenda 2010 sondern auch der steuerpolitischen und rentenpolitischen Entscheidungen der rot-grünen Bundesregierung, lassen sich an weiteren Prozessen zeigen:

Das ist zum einen die zunehmende Altersarmut, die auf die Rentenreformen von 1999/2000 mit dem Absenken des Niveaus der gesetzlichen Rente und der völlig unzureichenden Wirkung von Riester- und Rürup-Renten zurückzuführen ist. Und zweitens ist das der Teil von Altersarmut, der durch den großen Niedriglohnsektor und die Verfestigung niedriger Löhne systematisch herbeigeführt wird.

Die massiven Steuersenkungen und damit verbundenen Einnahmeverluste ab 2000 haben zum deutlichen Rückgang der öffentlichen Investitionen und der daraus folgenden Erosion der öffentlichen Infrastruktur geführt. Mit der Folge, dass inzwischen auch die Unternehmen und renommierte Ökonomen sowohl aus neoklassischer wie aus keynesianischer Sicht, eine öffentliche Kreditaufnahme fordern und auch die Schuldenbremse zunehmend kritisiert wird. DGB und BDI plädieren, gestützt auf Untersuchungen ihrer Forschungsinstitute, für zusätzliche öffentliche Investitionen von insgesamt 450 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren.

Trotz erheblicher Nettofinanzierungsüberschüsse bleibt das Niveau der privaten Investitionen in Deutschland niedrig. Auch eine steigende Ertragskraft und sehr gute Finanzierungsbedingungen haben nicht zu einer nachhaltigen Belebung der Investitionstätigkeit geführt. Gegenwärtig befindet sich die Exportindustrie, die bisher die deutsche Konjunktur getragen hatte, in einer hartnäckigen Krise.

Der soziale Doppelcharakter des deutschen Kapitalismus

Der deutsche Kapitalismus verdankt seine Stärke im internationalen Wettbewerb zwei Bedingungen, die die deutsche Inflation niedrig halten. Das ist zum einen eine restriktive Finanzpolitik und zum anderen eine ganz überwiegend zurückhaltende Lohnpolitik der Tarifparteien. Bis 1999 wurde das durch eine monetaristische Geldpolitik der Bundesbank noch ergänzt oder sogar vorangetrieben. Die niedrige Inflation bedeutete bis zur Einführung des Euro eine nominale Abwertung gegenüber den Handelspartnern und sicherte dadurch eine starke Wettbewerbsposition. Mit geldpolitischen Maßnahmen versuchte die Bundesbank die entsprechenden Aufwertungen gering zu halten. Mit dem Euro entfiel zwar die auf Stabilität fixierte nationale Geldpolitik, aber die nach 1999 im Bündnis für Arbeit verstärkte deutsche Lohnzurückhaltung erwies sich als funktionales Äquivalent des Verlustes der nationalen Zinssouveränität. Die Konzentration auf Exportstärke zusammen mit einer auf Austerität gerichteten Finanzpolitik und Lohnzurückhaltung resultierte in einer Schwächung des Binnenmarktes. Mit der Folge der Herausbildung einer Zwei-Drittel-Gesellschaft. Die im Armuts- und Reichtumsbericht analysierte gespaltene Lohnentwicklung (40 % der Beschäftigten mit Reallohnverlusten, 10 % mit Reallohnstagnation und 50 % mit Reallohnzuwächsen) illustriert diese Entwicklung. Diese Ambivalenz des deutschen Modells gilt es zu berücksichtigen. Seine Exporterfolge haben einmal ihre innergesellschaftlichen Schattenseiten und zum anderen stehen den eigenen Leistungsbilanzüberschüssen logisch zwingend die Leistungsbilanzdefizite wichtiger Handelspartner gegenüber. Deshalb zwingt der strukturelle Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands diese anderen Länder geradezu zu protektionistischen Reaktionen. Die rot-grüne – aber auch die schwarz-rote Wirtschaftspolitik mit der Einführung der Schuldenbremse 2009 – hat diese Prozesse radikalisiert und dadurch die Ungleichgewichte in Europa und in der Welt erhöht. Das ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte.

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