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pa / imageBROKER | Sylvio Dittrich

Die Menschen wollen zunehmend mitgestaltenZweierlei Demokratie, eine Republik

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Zum ersten Mal in ihrem Leben sei sie freiwillig zu einer Demonstration gegangen. Über 4.000 waren es gewesen an jenem Samstagnachmittag Ende Januar im ostbrandenburgischen Frankfurt/Oder. Die pensionierte Elektronikfacharbeiterin hat ihr gesamtes Erwachsenenleben in dieser Stadt verbracht. Vor 1989 war sie oft auf den staatlich orchestrierten Aufmärschen auf der »Magistrale« und vor der »Friedensglocke« am Ufer der Oder dabei. Weil man das eben so musste und machte in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik: Betriebspflicht. Im Revolutionsherbst 1989 gehörte sie dann nicht zu denen, die eigensinnig, also ziemlich mutig, durch die Straßen zogen und die eingeübte Aufmarschpraxis durchbrachen. Gegen die gültige Ordnung und für die »Freiheit« zu demonstrieren, irgendwie sei ihr das damals gar nicht in den Sinn gekommen.

Diese Momentaufnahme sagt so viel aus über die Gegenwart der deutschen Demokratie wie über ihre Geschichte. Seit einigen Jahren werden die Ursprünge und der Zustand der deutschen Demokratie so intensiv debattiert wie niemals zuvor. Dem Aufstieg des Rechtspopulismus suchten sich zunächst das politische Feuilleton, die als »Altparteien« bedrängten anderen Parteien sowie nicht zuletzt diverse Regierungs- und Staatsverantwortlichen in den Weg zu stellen – mit Texten und Sonntagsreden, Demokratie-Förderprogrammen und Demokratie-Gedenkinitiativen.

Doch jüngst rührt sich in Ost wie West, Nord wie Süd die gesellschaftliche »Mitte«. Die Mobilisierung der so leicht beschworenen wie schwer fassbaren Zivilgesellschaft taucht das Gesicht der »Berliner Republik« – zumindest vorrübergehend – in ein neues Licht. Bundesweit basteln die Leute Plakate für die »Erhaltung der Demokratie«, stehen für »Toleranz und Vielfalt« im Regen und pfeifen gegen die »Brandstifter-AfD«. Auch wenn das Dagegen oft lauter ist als das Dafür, auch wenn die Sprechchöre »Nazis raus!« statt »Es lebe die Demokratie!« intonieren, ist dies der erste Moment in der jüngsten deutschen Demokratiegeschichte, in dem das gesamte Land als Bundesrepublik sichtbar wird.

Geteilte Demokratiegeschichte

Beides – der Aufstieg des Rechtspopulismus und die demokratische Mobilisierung der Mitte – sind Folgen einer deutsch-deutschen, im doppelten Sinne geteilten Geschichte der Demokratie, die nicht erst 1990 begann, sondern bis 1949 (und darüber hinaus) zurückreicht. Beide Entwicklungen lassen sich besser verstehen und politisch klüger einordnen, wenn man diese geteilte Demokratiegeschichte der longue durée stärker berücksichtigt – ja sie überhaupt als solche begreift.

Wir sind es gewohnt, die deutsche Nachkriegsgeschichte als Kontrastgeschichte zu sehen (und führen seit 1990 die sogenannte Ost-West-Debatte in der exakt gleichen Schemenhaftigkeit): Hier die westdeutsche Demokratiegeschichte, dort die ostdeutsche Diktaturgeschichte, hier die gewachsene Zivilgesellschaft, dort die apathische Nischengesellschaft, hier gelungene Emanzipation, dort weitreichende Stagnation. Dabei trugen nach dem verheerenden Ende des »Dritten Reiches« 1945 beide Teilstaaten die Republik im Namen, berief sich die eine auf die parlamentarische, die andere auf die sozialistische Demokratie. Beide Nachkriegsordnungen versprachen der Bevölkerung umfassende staatsbürgerliche Teilhabe.

»Wahrhaft demokratische Prinzipien gab es nur in der Bundesrepublik.«

Wahrhaft demokratische Prinzipien – politische Gleichheit, freie und geheime Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – gab es dabei freilich nur in der Bundesrepublik. Die andere deutsche Republik war hingegen eine Konsensdiktatur (Martin Sabrow), in der Menschen- und Bürgerrechte tagtäglich mit Füßen getreten wurde; in einer Art »identitärem« Herrschaftsverständnis wurde die absolute Übereinstimmung zwischen einem vermeintlich einheitlichen »Volkswillen« und einer allmächtigen »Einheitspartei« so penetrant eingefordert wie postuliert.

Doch das Diktaturparadigma sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass die DDR (wie die anderen kommunistischen Regime auch) für sich beanspruchte, ebenfalls die Demokratie zu verwirklichen – und zwar nicht die »Klassenstaatdemokratie« der bürgerlich-kapitalistischen Sorte, in der die ungleichen Eigentumsverhältnisse ungleiche Herrschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel der liberalen Demokratie nur betonierten, sondern die »wahre«, die Volksdemokratie. Das auflagenstarke Politische Wörterbuch der DDR, das die SED zur ideologischen Orientierung im Alltag verfassen ließ, definierte sozialistische Demokratie als die »politische Machtausübung der von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführten werktätigen Massen des Volkes, die mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats die formale bürgerliche Demokratie überwindet und ablöst«. Mit diesem Mantra der »Diktatur des Proletariats als höchster Form der Demokratie« und der Überwindung der »falschen« bürgerlichen durch die sozialistische Demokratie entstellte die SED den Demokratiebegriff bis zur Unkenntlichkeit: Demokratie als Farce.

Dennoch spielte die Idee der Demokratie in den politisch-kulturellen, medialen und subjektiven Lebens- und Vorstellungswelten der DDR eine prägende Rolle. Mit dem Rekurs auf diese jahrhundertealte Sehnsuchtsvokabel konnte sich die zweite deutsche Republik als Mitmach-Staat gerieren. Über 90 Mal fielen die Worte Demokratie oder demokratisch in der Verfassung der DDR. Zu Millionen waren Bürgerinnen und Bürger in diversen Massenorganisationen teils selbst-, teils zwangsorganisiert. Die Verfassung knüpfte Bürgerrechte nicht an Menschenwürde und Freiheit, sondern an die Bereitschaft zur staatsbürgerlichen »Mitgestaltung«: »Jeder Bürger hat das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreise, seinem Lande und in der Deutschen Demokratischen Republik«, hieß es etwa in Artikel 3 der 1949 verabschiedeten Verfassung. Mitmachen als moralischer Imperativ.

»›Demokratie‹ war in der DDR eine Frage von nomineller Teilnahme, nicht von substanzieller Teilhabe.«

»Demokratie« war in der DDR eine Frage von nomineller Teilnahme, nicht von substanzieller Teilhabe. Generationen von ostdeutschen Männern und Frauen haben sich (dennoch) an diesem Mitgestaltungspostulat abgearbeitet: sehr viele affirmativ-emphatisch und damit die Diktatur faktisch stützend, was ein wichtiger Grund für deren lange Stabilität war; aber immer auch und ab Mitte der 80er Jahre zunehmend kritisch und damit den scheindemokratischen Popanz des Regimes entlarvend.

Divergierende Demokratietraditionen

Auch wenn also mit Blick auf diesen Staat von einer Demokratiegeschichte im engeren Sinne nicht die Rede sein kann, ist es essenziell, sie als Demokratieanspruchsgeschichte zu verstehen und zu beschreiben. Der strategische, symbolische, propagandistische – oder schlicht: simulative – Bezug auf die Demokratie spielte in der DDR eine zentrale Rolle. Die Geschichte dieses Staates erschöpft sich folglich nicht in der Beschreibung als Diktatur. Vielmehr ist mit ihn auch ein zwar unerfülltes, aber dennoch real wirksames Demokratieversprechen untergegangen.

In demokratiegeschichtlicher Perspektive rücken damit beide deutsche Nachkriegsstaaten als »parallel-verflochtene« (Christoph Kleßmann) Ordnungsentwürfe nach dem Nationalsozialismus in den Blick. Sie brachten zwei spezifische, deutlich divergierende Demokratietraditionen hervor, die die politische Kultur bis heute prägen. Zwischen 1949 und 1989 wurde die Demokratie im Westen als staatliche Ordnung und alltägliche Praxis verhandelt, im Osten als staatliches Postulat und alltägliche Utopie. Entsprechend betrachteten Bürgerinnen und Bürger »ihren« jeweiligen Staat und das mit ihm verbundene Gemeinwesen: als gestaltungsbedürftige, aber auch gestaltungsoffene Daueraufgabe im Westen und als schicksalhafte, zwischen Verheißung und Verzweiflung changierende Herausforderung im Osten.

Wie wirksam und folgenreich dieses Versprechen gerade in Ostdeutschland war und bis heute ist – nicht nur im Sinne einer frustrierenden Simulationspraxis, sondern einer realen Emanzipationserfahrung – lässt sich an der Demokratiebewegung des Jahres 1989 und ihren Folgen zeigen. Sie begann lange vor der »Herbstrevolution« und reichte deutlich über die engeren oppositionellen Kreise hinaus, wie sich etwa an den mutigen Protesten rund um die Kommunalwahlen im Mai 1989 ablesen lässt.

Entscheidend war dabei, dass in dieser Bewegung jedoch nicht primär die repräsentativ-parlamentarische Demokratie verhandelt wurde, sondern die Idee der direkten oder Basisdemokratie. Tausende von Bürgerbriefen, Petitionen und Konzeptpapieren aus den Monaten rund um den Mauerfall belegen dies eindrücklich. Darin formulierten Oppositionelle ebenso wie Männer und Frauen aus der Breite der Bevölkerung die gesellschaftliche Antwort auf das hohle SED-Volksvertretungsversprechen – endlich sollte »wirklich« das Volk herrschen, und das war nur mit »echter«, »unmittelbarer« Bürgerbeteiligung denkbar, gegen oder zumindest fernab der einen Partei und der ihr hörigen staatlichen Institutionen.

»Der demokratische Umbruch wirkt auch eigensinnig-destabilisierend im politischen System.«

Diese Demokratiebewegung wirkte weit über 1989/90 hinaus. Einerseits prägte es die politische Kultur des vereinigten Deutschlands in überaus konstruktiver Weise. Viele damalig Politisierte und »Bürgerbewegte« wandten sich der Politik dauerhaft zu, nahmen sie als Lebensaufgabe an. Statistiken zur ostdeutschen Elitenrepräsentation untermauern das eindrücklich: Nur und gerade im »staatspolitischen Sektor« waren Ostdeutsche seither leicht überrepräsentiert. Die zeitweilige Doppelspitze in der Führung des Landes unter Angela Merkel und Joachim Gauck war also keine Ausnahme von der Regel, sondern vielmehr Ausdruck einer insgesamt gelungenen Ankunft der Ostdeutschen in der bundesrepublikanischen Demokratie.

Andererseits wirkt der demokratische Umbruch auch eigensinnig-destabilisierend im politischen System der erweiterten Bundesrepublik fort. Mit dem Aufstieg von Pegida und AfD als vermeintlich bürgerlichen »Sammlungsbewegungen« und »Alternative« zum »Regime der Altparteien« griffen die Rechtspopulisten (mehr oder weniger kalkuliert) die basis- und straßendemokratischen Impulse der 89er Revolution auf. Deshalb stoßen sie in Ostdeutschland auf besonders große Resonanz.

Die »gebrannte« Mitte der ostdeutschen Gesellschaft

Zwischen diesen beiden Polen liegt nun nicht so sehr die schweigende, sondern die »gebrannte« Mitte der ostdeutschen Gesellschaft, die auf die doppelte Diktaturmobilisierungserfahrung des 20. Jahrhunderts lange vor allem mit hartnäckiger staatsbürgerlicher Zurückhaltung reagiert hat. Das Ergebnis war geringere Wahlbeteiligung, Parteienmitgliedschaft und -bindung, weniger gewerkschaftliche Organisation und niedrigeres Institutionenvertrauen. Ungeachtet dessen hat die übergroße Mehrheit im Osten die Übernahme der Grundgesetz-Ordnung und die Deutsche Einheit nie infrage gestellt. Sie schätzt laut Umfragen die Demokratie als Staatsform ebenso sehr wie der Rest des Landes – eine Staatsform, die sich die Ostdeutschen nach 1990 nicht etwa gerahmt von einem »Wirtschaftswunder« aneignen durften, wie die Bundesbürger nach 1949, sondern parallel zu den existenziellen Überlebenskämpfen der Transformationszeit erlernen mussten.

Nicht nur gemessen an der Gesamtbevölkerung einer mittelgroßen Stadt in Ostbrandenburg, sondern gerade angesichts dieser Vorgeschichte, waren die 4.000 Frankfurter Demonstrantinnen und Demonstranten an jenem Samstag im Januar also eine beeindruckende Zahl. Wahlberechtigt sind dort gut 45.000 Menschen, es waren also fast zehn Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. In vielen Orten Westdeutschlands, wo die Demokratie bereits ein ganzes Menschenalter lang gilt und selbst da, wo die AfD ihre schwächsten Ergebnisse erzielt, waren es meist auch nicht viel mehr.

»Demokratie ist auf die individuelle Zuwendung möglichst vieler in der Bevölkerung angewiesen.«

Vielleicht sind also die Zeichen der Zeit als demokratiegeschichtliche Zäsur lesbar. Vielleicht gibt dieser Moment, in dem erstmals seit 1990 das gesamte Land als Bundesrepublik sichtbar wird, Anlass zur Hoffnung, dass die Demokratie im Osten noch und im Westen wieder stärker als gestaltungsbedürftige Ordnung verstanden wird. Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie ist auf die individuelle Zuwendung möglichst vieler in der Bevölkerung angewiesen – auch und gerade der Skeptiker, und jener, die noch nicht seit Generationen in diesem Land leben, und eben auch jener, die sich in der DDR, auf welcher Seite auch immer, am verlogenen Demokratieideal der SED aufgerieben haben. Die Geschichte der Demokratie in Deutschland gilt es in diesem Sinne, als Ringen um den Abgleich von Anspruch und Wirklichkeit, fortzuschreiben. An reichhaltigen Erfahrungen mangelt es jedenfalls nicht.

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