Menü

Kulturelle Revolution im brasilianischen Film? Zwischen Aufklärung, Wut, und Resignation

Es ist ein Trauerspiel, was sich in den letzten Jahren auf der politischen Bühne des größten Landes Südamerikas ereignet hat. Brasilien sucht seit 1985, dem Ende der 20-jährigen Militärdiktatur, vergeblich nach einer funktionierenden und stabilen Demokratie und wurde dabei mehr als einmal von der politischen Elite enttäuscht. Die letzten Jahre der brasilianischen Regierungs- und Parlamentsarbeit waren von Korruptionsvorwürfen, -prozessen und -verurteilungen sowie entsprechender Hinterzimmer-Politik geprägt. Umso überraschender, dass die aktuelle Regierung unter dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro trotz steigender Arbeitslosenzahlen, fatalem Corona-Management und einer einbrechenden Wirtschaft bei Umfragen hohe Zustimmungswerte erhält.

Der ideologische Wechsel, der sich mit der Wahl Bolsonaros 2018 vollzog, konnte größer kaum sein. Seine demokratisch gewählte Vorvorgängerin Dilma Rousseff (die dann folgende Amtszeit des liberal-konservativen Michel Temer kann als Übergangszeit gewertet werden) von der von 2003 bis 2016 regierenden Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), ist eine ehemalige Guerilla-Kämpferin, die im Zuge ihres Kampfes gegen die Militärdiktatur drei Jahre als politische Gefangene brutaler Folter ausgesetzt war. Der neue Amtsinhaber ist beim Militär Hauptmann der Reserve, machte während der Diktatur Karriere als Leutnant der Artillerie und will heute das Land auf nationalistischen Kurs bringen. Diese enorme ideologische Diskrepanz zwischen Rousseff und Bolsonaro steht spiegelbildlich für die innere Spaltung der brasilianischen Gesellschaft und ihre politische Orientierungslosigkeit.

Ein Teil der gegenwärtigen brasilianischen Filmlandschaft versucht, der zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken. Junge brasilianische Filmemacher versuchen mit politischen Dokumentationen Minderheiten sichtbar zu machen und Missstände zu thematisieren. Ist das der Beginn einer kulturellen Revolution in Brasilien?

Wie konnte sich die politische Ausrichtung des Landes in relativ kurzer Zeit nur um 180 Grad drehen? Meist wird als Antwort das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff 2016 genannt. Im April 2016 wurde sie wegen Haushaltsmanipulation angeklagt, einen Monat später suspendiert und im August desselben Jahres ihres Amtes enthoben. Zur gleichen Zeit spitzte sich der Prozess um eine Korruptionsaffäre gegen diverse Politiker, zu denen auch der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gehörte, medienwirksam zu.

In der von Netflix produzierten Dokumentation Am Rande der Demokratie seziert die Regisseurin Petra Costa die Ereignisse um das Amtsenthebungsverfahren und gibt tiefe Einblicke in die Machtübernahme einer evangelikal-fundamentalistischen, rechtspopulistischen Allianz.

Der Film ist eine Tour d`Horizon über die Situation Brasiliens in einer historischen Krise. Er versucht, die inneren Mechanismen eines korrupten Systems zu durchleuchten und über die Machtstrukturen des Landes aufzuklären. Über die tatsächlichen Umstände des Amtsenthebungsverfahrens oder der vorgeworfenen Korruption erfährt man als Zuschauer wenig. Den Anspruch, die politischen Machenschaften en détail zu erklären erhebt Petra Costa aber auch gar nicht. Stattdessen bietet gerade das Nichtwissen um die Umstände eine der größten Erkenntnisse des Films: Die Politikverdrossenheit der brasilianischen Bevölkerung speist sich nämlich auch aus einem Mangel an politischer Aufklärung. Aus subjektiver Perspektive schildert die Regisseurin, dass sie während des Prozesses selbst nicht wusste, weshalb Rousseff überhaupt angeklagt war. Mit der gleichen Ahnungslosigkeit präsentieren sich interviewte Demonstranten. Als eine Frau, die bei einem Straßenprotest lautstark Parolen gegen die Arbeiterpartei mitsingt, gefragt wird, gegen wen sie denn demonstriere, antwortet sie etwas irritiert »gegen irgendjemanden der Arbeiterpartei«. Auf die Frage, warum sie das tue, erklärt sie dann mit leidenschaftlicher Vehemenz: »Weil die etwas machen, was wir nicht wollen!« Das Beispiel zeigt, wie wenig die Bevölkerung über die Ereignisse informiert war, geschweige denn ein Mitspracherecht hatte. Trotz fehlender Beweise hatte der Prozess aber letztlich enorme Auswirkungen auf die politische Landschaft Brasiliens: Er führte zu einem massiven Imageverlust der PT und verstärkte zudem die Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Politik.

Maria Ramos’ Dokumentation O Processo (dt.: Der Prozess) untermauert die Ratlosigkeit, die das Amtsenthebungsverfahren mit sich brachte. Kommentarlos und rein beobachtend zeigt die Regisseurin die Reden, Argumente und Plädoyers der in das Verfahren verwickelten Politiker und Juristen. Der Titel wird nicht zufällig gewählt worden sein, denn wie im gleichnamigen Roman von Franz Kafka fühlt man sich inmitten eines Prozesses, bei dem man nicht weiß, welche Schuld dem Angeklagten überhaupt angelastet wird. Die einen sprechen von Putsch, die anderen von Amtsmissbrauch und Verfassungsbruch. Beweise sieht man auch hier nicht. Das Verfahren gleicht einem rhetorischen Spießrutenlauf, bei dem sich Anklage und Verteidigung stetig im Kreise drehen. Rouseffs Anwalt José Eduardo Cardozo bringt die Absurdität des Prozesses wohl am besten auf den Punkt, als er nach einer Pause seine Kollegen fragt, ob sie zurück in die Hölle gehen wollen. Eine Hölle, in der die Sache an sich keine Rolle spielt und fatalerweise am Ende vor allem demokratische Standards und politische Transparenz auf der Strecke bleiben.

Es sind wichtige Dokumentationen, die die politische Szenerie Brasiliens entlarven und aufzeigen, wie die Entfremdung zwischen einer demokratischen Gesellschaft und der von ihr gewählten parlamentarischen Politikebene fortschreitet. Der beobachtende Stil, vor allem bei O Processo, ist ein Abbild der hilflosen Stimmung im Land: Die teilnahmslose Kamera beobachtet fast resignierend das Geschehen und gewährt dabei keinerlei Mitgestaltungsmöglichkeit.

Kino des Sichtbarmachens

Der dokumentierende Film als Medium, um gesellschaftliche Missstände sichtbar zu machen, erfreute sich auch abseits der politischen Bühne großer Beliebtheit unter brasilianischen Filmemachern. So widmet sich der 2019 erschienene Film Chão (Landless) von Camila Freitas der Bewegung der Landlosen (Movimento dos Sem Terra), einer Massenbewegung in Brasilien die sich für eine umfassende Landreform stark macht. Unter den Mitgliedern der Bewegung sind vor allem Landarbeiter und deren Familien, die sich gegen die Übernahme des Landes durch Großgrundbesitzer aufbäumen. Tatsache ist, dass Brasilien in punkto Gleichverteilung von Land an fünftletzter Stelle steht und als Erbe der Sklavenhaltung noch immer geradezu feudale Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Bauern und Großgrundbesitzern bestehen. Bolsonaro lässt die Proteste der Landlosen brutal beenden und befürwortet die Bewaffnung der Großgrundbesitzer. Landless lässt die Landarbeiter zu Wort kommen und beobachtet, wie Menschen innerhalb einer bröckelnden Demokratie für ihre Rechte kämpfen und trotz der harten staatlichen Repressalien von ihrer politischen Stimme Gebrauch machen. Auch hier fällt der beobachtende Stil des Films auf. Keine Erzählstimme leitet durch den Film. Die Leinwand gehört der Wut und Verzweiflung der Aktivisten in ihrem Kampf um ihre Existenzen.

Während auf dem Land das eigene Zuhause auf dem Spiel steht, kämpfen Minderheiten in der Stadt um die Anerkennung ihrer Identität und gegen Diskriminierung. Vor allem die LGBTQ+-Bewegung sucht zunehmend nach Repräsentationen und damit auch Präsenz im öffentlichen Diskurs. Angesichts der Vielzahl an brasilianischen Filmen über Diversität hinsichtlich Identität und Sexualität hat sich mittlerweile schon der Titel »Brasilian Queer Cinema« in der Szene etabliert. Auch hier sind es Dokumentationen wie Indianara von Marcelo Barbosa und Aude Chevalier-Beaumel, die Menschen mit Transidentität bei ihrem politischen Aktivismus für die eigenen Rechte begleitet und ihren Kampf um Anerkennung sichtbar macht. Aber auch in fiktionalen Filmen finden die Gefühle und Leiden von Minderheiten ihren Ausdruck. So präsentiert etwa Armando Praça in seinem Film Greta eine einfühlsame Darstellung der Gefühlswelt und inneren Zweifel seiner transidentitären Hauptperson, so widmet sich die Regisseurin Cris Lyra der engen Beziehung einer Gruppe homosexueller Frauen in ihrem Film Breakwater (Quebramar).

Mit Filmen über und von Minderheiten stellen sich die Filmemacher gegen die künstlerische Unterdrückung durch die derzeitige brasilianische Kulturpolitik. Nach seinem Amtsantritt verkündeten Bolsonaro und sein ehemaliger Kulturminister Roberto Avim eine »große konservative Wende« und eine »Restauration der Kultur«. Eine Netflix-Produktion wurde Anfang 2020 zur Zielscheibe der ideologischen Neuausrichtung. Als der populäre Streaming-Dienst Die erste Versuchung Christi (A primeira tentação de Cristo), eine brasilianische Satire über einen homosexuellen Jesus veröffentlichte, machte die evangelikale Kirche von ihrem enormen Einfluss im Land und auf den Präsidenten Gebrauch und veranlasste eine Petition gegen den Film und seine Protagonisten. Als die Petition zwei Millionen Unterschriften versammeln konnte, der Produzent aber dennoch auf Meinungsfreiheit setzte, verübte eine rechtsextreme Gruppe einen Terroranschlag auf das Produktionsstudio. Diese Gewalteskalation und versuchte Zensur verdeutlichen auf erschreckende Weise, inwieweit Bolsonaros offen zur Schau gestellte Homophobie identitätspolitische Ressentiments schürt.

Der Einfluss der evangelikalen Kirchen im Land reicht bis in die führenden Riegen der Kultur- und Medienlandschaft. So ist der Milliardär und selbsternannte Bischof der »Universalkirche des Königreichs Gottes«, Edir Macedo, Eigentümer von RecordTV, einem der größten Sendernetzwerke Brasiliens. Auch große Teile der Filmlandschaft werden durch fundamentalistische Gruppen kontrolliert, so die neue Leitung des Nationalen Filminstituts Ancine. Edilásio Santana Barra Júnior, Mitbegründer und Pastor der »Kontinentalkirche der Liebe Jesu«, verspricht in Zukunft »Produktionen mit nationaler und evangelikaler Thematik« zu unterstützen. Oder die neue Staatssekretärin für Kultur, Regina Duarte, die offenbarte, sich »mit Körper und Seele für die Regierung« und für eine »Kultur der Freude und des Glücks« stark zu machen.

Gegen den Widerstand der Regierung und der institutionellen Autoritäten verschafft sich die unabhängige brasilianische Filmszene aber wieder Gehör. Sie fungiert als Sprachrohr eines großen Teils der Gesellschaft, der sich nicht mit den diskriminierenden Anschauungen und destruktiven Machenschaften ihres Präsidenten und seiner Regierung zufriedengeben will. Es sind Filme, die über die Situation im Land aufklären wollen, die Minderheiten eine Stimme schenken und letztlich durch das Nachzeichnen verschiedener Kämpfe Hoffnung zurückgeben, wenn es heißt aufzustehen und für mehr Demokratie zu kämpfen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben