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Karl Marx in Theater und Film Zwischen Belehrung und Dekonstruktion

Schon oft, vor allem nach der Implosion des Sowjetkommunismus, wurde Karl Marx totgesagt. Doch als »Ikone im Kopf« (Beatrix Bouvier) blieb er, erst recht nach der Finanzmarktkrise, höchst lebendig. Keine zeitgenössische Nachdenkerei ohne obligatorischen Karl-Marx-Abend. Im Veranstaltungsprogramm der diesjährigen »phil.cologne« etwa heißt es dazu: »Vor 150 Jahren erschien ›Das Kapital‹ (…) Ist der Kapitalismus die beste aller Welten? Lässt er sich zähmen? Oder hat Marx doch recht und sein Untergang ist gewiss?«

Vielerorts sieht sich eine gegen Geld und Macht widerständige Kultur, wie das abgewickelte Rebellionstheater der Berliner Volksbühne von Frank Castorf, in seiner Tradition. Wo die Verhältnisse als multiple Krise des globalisierten Kapitalismus deutbar sind, wo eine Transformation der kapitalistischen Produktionsweise denkbar scheint, bleibt Marx, wie auch immer kulturalisiert, Kristallisationspunkt für grundsätzliche Kritik und Hoffnung auf eine bessere Welt.

Natürlich gab es in Deutschland politisches Theater vor Marx, etwa die emanzipatorische Botschaft der Aufklärung, Stücke von Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller oder Georg Büchner. Doch gerade ein Marxismus, der zur Organisation der Revolution anstiften wollte, brauchte Medienvielfalt: die Verbreitung von Reden, politisch-wissenschaftliche oder literarische Bücher, eigene Tageszeitungen, die Plakatkunst – und eben das Theater und den Film. Geniale Künstler wie Bertolt Brecht oder Sergej Eisenstein erarbeiteten, selbst zu Zeiten marxistisch-leninistischer Staatsideologie, eine eigenständige ästhetische Praxis und wurden Teil des Weltkulturerbes.

Politische Erziehung mittels Theater und Film

Brecht, Ende der 20er Jahre durch Fritz Sternberg und Karl Korsch zum Marxisten geworden, kleidete seinen zentralen Impuls rückblickend in die berühmte Feuerbach-These des Vordenkers aus Trier: »Ich wollte auf das Theater den Satz anwenden, dass es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern« (1953). Brecht wollte nach der marxschen Lehre erziehen: Botschaft und Moral sind der Sinn seines epischen Theaters, seiner nach wie vor viel gespielten und in den Schulen gelesenen Lehrstücke.

Wo Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1931) mit einem bloßen »Holzhämmer nutzen sich ab« und als »fürchterlich eindimensional« abgetan wird und Brecht pauschal »Tiefe, Widerspruch und Humor« abgesprochen wird, wie jüngst in der Literaturbeilage des SPIEGEL, erinnert dies an den einstigen Furor des Bürgertums. Da wurde denunziert statt rezipiert, was wir von Brechts Drama Die Maßnahme (1930) kennen. Angeblich würde dort, ganz im Sinne des Stalinismus, die tödliche Bestrafung durch die Partei gerechtfertigt. Tatsächlich geht es um die furchtbare Ausweglosigkeit einer Situation, in der nur durch Tötung des Einzelnen verhindert werden kann, dass durch das Scheitern der Revolution sehr viel mehr Menschen sterben müssen. Es hätte nicht so weit kommen müssen, wenn man sich rechtzeitig der Wirklichkeit gestellt hätte. Dabei haben die intellektuellen Agitatoren keineswegs die Macht in ihren Händen, sondern können nur helfen, der Arbeiterklasse mithilfe der Schriften der marxistischen Klassiker die Augen zu öffnen.

In der Frühzeit des Films war Sergej Eisenstein, der junge Starregisseur der jungen Sowjetunion, der Pionier einer vollständigen Revolutionierung des Sehens und damit des Denkens mit dramaturgisch völlig neuen Mitteln. Nach Werken wie Streik (1924), Panzerkreuzer Potemkin (1925) und Oktober (1928), voll fesselndem Pathos, mit völlig neuer Montagetechnik und Bildkomposition, die ihm Weltruhm einbrachten, plante er das marxsche Kapital zu »kinofizieren«, um die Filmkunst von Grund auf zu verändern und das Publikum zu befähigen, in der Schule des Sehens zu einer revolutionären Welthaltung zu gelangen.

Eisenstein vertrat den dialektischen Anspruch des Lernens bis zur Meisterschaft und der anschließenden Zerstörung von Illusionen, um Elemente des Fortschritts im Dienste der menschlichen Gesellschaft weiterzuentwickeln. Sein politisch-ästhetisches Vorhaben, den tendenziellen Fall der Profitrate, die Herrrschaft des Geldes, die Lage der Arbeiter, die Rolle der Modernisierung, die Anhäufung stofflichen Reichtums, die revolutionären und gegenrevolutionären Prozesse usw. filmisch umzusetzen, erwies sich als wahnsinnige Aufgabe und blieb – es wird dennoch weiterhin darüber gerätselt, warum – nur ein Entwurf.

Alexander Kluge verdanken wir 80 Jahre später einen experimentellen Versuch der Nachahmung und Kommentierung, welche Bilder sich zum Kapital finden lassen. Sein neunstündiger Essayfilm Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital präsentiert auf drei DVDs filmische Miniaturen, dokumentarische und inszenierte Sequenzen, Reflexionen über Friedrich Hölderlin und Schiller, sowie Gespräche unterschiedlicher Perspektiven zu Marx’ Theorie, die uns eben so nah und so fern sei wie die Antike: u. a. mit Oskar Negt, Peter Sloterdijk, Boris Groys, Helge Schneider.

Die erste DVD beschäftigt sich mit Eisensteins Anspruch an einen Film, die zweite widmet sich dem Verhältnis von Menschen und Dingen, die dritte schließlich stellt die Tauschgesellschaft in den Mittelpunkt. Kluge »hat mit Eisensteins Projekt so viel und so wenig zu tun wie die meisten Denkmale mit den Personen, die sie darstellen. Denkmale laden jedoch zu Assoziationen ein, und wie verschieden solche Assoziierungsobjekte ausfallen können, erleben wir, Kluge sei Dank, beim Gang über den Friedhof von Highgate, vom vornan stehenden monströsen Marxdenkmal zum versteckt liegenden, verwitterten und mehrfach geborstenen Stein, unter dem Marx und seine Frau tatsächlich begraben sind« (Thomas Kuczynski).

Solch subjektiv-assoziativen Blicke auf das marxsche Hauptwerk haben nichts mehr von der geschichtlichen Notwendigkeit, die darin beschrieben wird. Durch die Vielzahl der mitwirkenden Stimmen entsteht ein breites Angebot historischer Selbstreflexion, eine Art kollektiver Kommentar zu vergangenen Hoffnungen, zu den Irrtürmern und Irrwegen, aber auch zu dem, was bleibt, solange die Vision einer Gesellschaft gleicher Freiheit noch irgendjemanden umtreibt.

Vielleicht ist gerade solch ein kulturalistischer Umgang mit Marx den heutigen postideologischen Zeiten angemessen. Ein »nach allen Seiten offenes artistisches Gesamtkunstwerk«, eine Art »begehbare Installation« (taz) – dieses Verdikt passt dann nicht nur zu Kluges Film, sondern trifft auch Versuche der letzten Jahre, Marx auf die Theaterbühne zu bringen. Hierzu drei Beispiele aus dem zeitgenössischen Regietheater.

Zwischen utopischem Aufbruch und Kulturpessimismus

Das seit 2002 ziemlich angesagte Regiekollektiv »Rimini Protokoll« inszenierte 2006 im Düsseldorfer Schauspielhaus Das Kapital. Der Konsumbürger wurde in die Widersprüchlichkeit seiner Gesellschaft geschubst, der Zuschauer wurde mit vielen Assoziationen aus rund anderthalb Jahrhunderten Werk-, Geistes- und Gesellschaftsgeschichte rund um Marx, Macht und Markt konfrontiert. Auch in Berlin, Frankfurt/M. und Zürich konnte man sehen, was die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel aus authentischen Ich-Erzählungen und Passagen des Opus magnum, stets auch situativ offen und als Collage, Happening und Performance, an Zustandsbeschreibungen und Dekonstruktion zusammenbrachten. Bis hin zum Bericht einer jungen Genossin, die schilderte, wie damals in Heidelberg, es muss wohl Anfang der 70er Jahre gewesen sein, die Teilnehmerzahl des Marx-Lektürekurses, einmal die Woche von 22 bis 24 Uhr, rasch von 80 auf vier schwand. Auf die Frage, warum ausgerechnet Das Kapital, antwortet Haug: »Den Kapitalismus genießen wir, und wir finden ihn auch in vielem scheußlich«. Dieses lockere Lebensgefühl ist sicher nah am Zeitgeist, doch wo bleibt die einstige Ernsthaftigkeit der Weltverbesserung? Wie Generationen von Genossen versuchten, mithilfe der Kapital-Lektüre die Gesetze des Kapitalismus zu erkennen, um Gewissheit zu erfahren, dass dieser seine eigenen Widersprüche produziert, die sich in der Revolution entladen werden – das kann (und will) wohl niemand mehr verstehen.

2009 brachte die Regisseurin Christiane Pohle den 1993 geschriebenen Roman des spanischen Schriftstellers Juan Goytisolos Die Marx-Saga im Hamburger Thalia Theater auf die Bühne. »Man müsse die Toten befragen, bis sie hergeben, was an Energie mit ihnen begraben worden sei, hat Heiner Müller gesagt.« Darum geht der Plot, so Peter Kümmel in der ZEIT: Goytisolo »holt den großen Untoten Karl Marx aus seinem Grab in London-Highgate, stellt ihn auf die Füße und jagt ihn als Wiedergänger durch die Welt. Marx muss nun erleben, was aus der Welt geworden ist, die er verändern wollte. Er wird beschimpft von denen, die er befreien, und er wird gefeiert von denen, die er entmachten wollte. Die absurdeste Szene erlebt Marx in einer Ausstellung mit sozialistischer Kunst. Die glücklichen Arbeiter auf den Gemälden drehen sich zu ihm um und erkennen ihn. Und wenn Öl und Leinwand und die Grenzen der Kunst es ihnen nicht verwehrten, so würden die Kolchosbauern, Pioniere, Traktoristinnen aus dem Bild fahren, sich auf Marx stürzen und ihn zerfetzen«. Im Stück sagt Jenny Marx zu ihrem Mann: »Karl, Dein ganzes Lebenswerk stürzt ab!« Marx ist zum historischen Loser geworden, der Gegenspieler Friedrich Beust (Vorfahre des einstigen Hamburger Bürgermeisters, aber das ist eine andere Geschichte) hat gesiegt. Nicht die Internationale, sondern die Gegeninternationale regiert die zunehmend leere Welt des totalen Ausverkaufs. Der dialektische Umschlag ist vollständig, alle Hoffnungen sind erloschen, angesichts von soviel Niederlage und Kulturpessimismus zieht sich Max lieber wieder in sein Grab zurück.

2016 reaktivierte Karl Sibelius in der marxschen Geburtsstadt, die demnächst dem monumentalen Chemnitzer »Nischel« mit einer 6-Meter-Statue aus China Konkurrenz macht, das Trierer Theater. Im Stück Marx Eins des neuen »Bürgertheaters« erkundete Regisseur Peer Ripberger zunächst mit Laien, aber auch mit Schauspielern, Sängern, Opernchor und Orchester, was politische Utopie heute bedeuten mag. Rund 50 Darsteller inszenierten z. B. wie das Geld die soziale Welt prägt und welchen Wert der Tausch von Arbeiten ohne Geld haben könnte. »Folgen kann man dem Stück auch, wenn man von Marx’ Theorien nichts weiß. (…) Vor allem in der Schlussszene, als die ganzen Mosaike, die am Rande der Handlung entstanden sind, zu einem großen Bild zusammengefügt werden, formulieren die Darsteller, wie sie sich eine bessere Welt vorstellen. ›Bedingungsloses Grundeinkommen für alle auf der ganzen Welt‹ ist dabei wohl die wichtigste Idee. Dazu kommen noch Punkte wie die Enteignung von Steuerflüchtlingen. Aufwertung von Pflege und einiges mehr« (Trierer Volksfreund). Das Stück will das Publikum nachdenklich entlassen, doch so ganz bierernst will alles nun auch nicht genommen werden. Was die Utopie des Grundeinkommens eigentlich mit der marxschen Arbeitswertlehre zu tun hat, oder ob eine gerechte Welt eigentlich demokratisch funktionieren kann – auch solche nicht ganz unwesentlichen Fragen werden eher auf die leichte Schulter genommen.

Zurück zur Weltanschauung?

Gerade hat der Regisseur Raoul Peck den Versuch unternommen, das marxsche Denken in seinem Film Der junge Karl Marx festzuhalten. Die Erwartung, er arbeite dort das Besondere der Frühschriften heraus, wie aus dem Geist des deutschen Idealismus die romantische Idee einer unentfremdeten Gesellschaft hervorging, wird enttäuscht. Vielmehr erzählt der Film die frühe marxsche Entwicklungsgeschichte – man ist an Potsdamer DEFA-Zeiten erinnert – als Aufstieg hin zum genialen, objektiv richtigen Bewusstsein, das im Kommunistischen Manifest mündet und von da an die Welt verändert. Dabei verkommen die anderen Charaktere zu Karrikaturen ihrer selbst, in oft philosophisch-hölzernen Dialogen stehen der christlich-proletarische Wilhelm Weitling oder der anarcho-sozialistische Autodidakt Pierre-Joseph Proudhon wie lächerliche Idioten da. Die putschistische Machteroberung des »Bund der Gerechten«, die Ersetzung dessen Losung »Alle Menschen werden Brüder« durch das Transparent »Proletarier aller Länder, vereinigt euch« wird als revolutionäre Tat gefeiert. Dabei wäre doch angesichts der Diktatur-Erfahrungen des 20. Jahrhunderts anderes interessant: das Spannungsverhältnis zwischen dem humanistischen und emanzipatorischen Kern des marxschen Denkens und der antihumanen Erzwingung der zum Dogma geronnenen Geschichtsphilosophie; sowie die Erkenntnis, dass die Proletarier (die Armen, Marginalisierten, Ausgebeuteten und Arbeitslosen) heute längst keine kämpfende Klasse mehr sind.

So stehen heute ein postmodern-dekonstruierender Umgang mit Marx und die Reideologisierung nebeneinander. Nicht von ungefähr präsentierte sich die Führung der Linkspartei im Friedrichstadtpalast auf der Berlinale-Premiere von Pecks Film. Was offenbar fehlt, ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der marxschen Zwiespältigkeit aus Sicht des Reformismus der sozialen Demokratie. Doch sind die vorliegenden Angebote immer noch besser als keine. Theater und Filme können gerade junge Menschen wieder neugierig machen, sich mit dem Altmeister der Weltverbesserung auseinanderzusetzen. Der Marx der proletarischen Revolutionslehre und des Staatssozialismus mag tot sein, der der Kapitalismuskritik ist es noch lange nicht.

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