Der Historikerstreit, der Mitte der 80er Jahre ausgetragen wurde, hat die Öffentlichkeit seinerzeit weit über den Kreis der Fachwissenschaftler beschäftigt. Es ging um die Frage, ob das Menschheitsverbrechen des Holocaust als etwas Einmaliges in der Geschichte der Menschheit anzusehen sei oder ob es, ungeachtet seiner Dimension, mit anderen Verbrechen verglichen und auf eine Stufe gestellt werden könne.
Die Debatte entzündete sich an einem Aufsatz des Berliner Historikers Ernst Nolte, der den Holocaust als Reaktion der Nationalsozialisten auf frühere Massenverbrechen in der Sowjetunion beschrieben und ihn damit in gewisser Weise relativiert hatte. Ihm widersprach der Philosoph Jürgen Habermas, der in den Thesen Noltes, die in Form rhetorischer Fragen vorgebracht worden waren, einen Versuch von Geschichtsrevisionismus sah.
Für den Historiker Fabian Link werden in dieser Auseinandersetzung Denkströmungen erkennbar, die bis in die 60er Jahre zurückreichen und beispielhaft sind für die damals repräsentativen Richtungen der deutschen Soziologie der Nachkriegszeit: auf der einen Seite die stark auf empirische Sozialforschung ausgerichtete Gruppe um Helmut Schelsky (1912–1985) und Arnold Gehlen (1904–1969), auf der anderen Seite das Frankfurter Institut für Sozialforschung mit Max Horkheimer (1895–1973), Theodor W. Adorno (1903–1969) und Friedrich Pollock (1894–1970) als wichtigste Vertreter.
Die Geschichte dieses spannungsreichen, von Kooperation wie Gegensätzen gleichermaßen bestimmten Verhältnisses hat Link in einer überaus materialreichen, auch auf die Ursprünge beider Denkergruppen eingehenden Darstellung nacherzählt. Diese imponierende Arbeit wurde vom Fachbereich Philosophie und Geschichte der Universität Frankfurt als Habilitationsschrift angenommen.
Heute liegen die hier umrissenen Auseinandersetzungen zeitlich weit zurück, und an die medienwirksamen Auftritte von Schelsky beziehungsweise von Horkheimer/Adorno und ihre unermüdlich das gesellschaftliche Terrain durchforstenden Analysen gibt es kaum noch eine lebendige Erinnerung. Damals aber waren diese Sozialwissenschaftler in aller Munde: hier die aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Frankfurter Denker, die als Verfasser großer Studien, voran einer Dialektik der Aufklärung, berühmt und als scharfe Gesellschaftskritiker nachgerade berüchtigt waren, dort ihre deutschen Kollegen, die ihre Rolle im NS-Regime geschickt zu überspielen wussten, indem sie mit fast jugendlicher Verve darangingen, die Strukturen der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu analysieren, meist mithilfe von in den USA entwickelten Forschungsmethoden.
Karrieren der Nachkriegszeit
In Frankfurt war 1923 das Institut für Sozialforschung (IfS) gegründet worden. Seine größtenteils jüdischen Wissenschaftler mussten vor dem Terror des NS-Regimes 1933 den Weg ins Exil antreten, wo sie ihre Arbeit unter schwierigsten Bedingungen fortzuführen versuchten. Nur zögerlich kehrten sie nach dem Zweiten Weltkrieg in die gerade begründete Bundesrepublik zurück, um das IfS wiederzubeleben, erfüllt vom Gedanken der Reeducation der Deutschen nach der geistigen Zerrüttung eines »Dritten Reiches«.
Ganz anders bei Schelsky und Gehlen. Sie waren im Lande geblieben, kamen aus der sogenannten Leipziger Schule von Hans Freyer und einer Gesellschaftswissenschaft mit völkischem Einschlag. Sie profitierten von Forschungsaufträgen etwa zur Siedlungspolitik oder zum Verhältnis von Stadt und Land. Ihre Karriere nach 1945 war ein Musterbeispiel gezinkter Persilscheine, zumal sie keine große Mühe darauf verwenden mussten, ihre NS-Mitgliedschaften (Gehlen 1933, Schelsky 1937) zu verheimlichen.
1948 entdeckten sie als Dozenten in der Amerikanischen Library in Karlsruhe die Bücher amerikanischer Sozialwissenschaftler wie Thorsten Veblen, Georg Herbert Mead, David Risman und Bronislaw Malinowski, deren Ergebnisse und Methoden sie sich aneigneten. Sie erhielten dadurch einen uneinholbaren Wissensvorsprung vor ihren deutschen Kollegen, was ihnen eine neue akademische Karriere ermöglichte.
Schelskys Neustart begann 1948 zunächst als stellvertretender, sodann als erster Direktor der Akademie für Gemeinwirtschaft, von wo er fünf Jahre später an die Hamburger Universität wechselte. Es war für ihn und sein Team eine Zeit intensiver empirischer Sozialforschung. Mehrere Studien stiegen weit über den fachlichen Rahmen in den Rang von Bestsellern auf, so 1955 eine Soziologie der Sexualität mit ihrem fulminanten Angriff auf den amerikanischen Sexualforscher Alfred Charles Kinsey, vor allem aber das Buch Die skeptische Generation von 1957, das viele Schlagwörter lieferte zur Beschreibung der jungen Generation der Bundesrepublik.
Die NS-Vergangenheit, zu der Schelsky sich erst in den 60er Jahren bekannte, spielte dabei kaum noch eine Rolle. Schelskys grundlegende Idee einer »sozialen Demokratie« beruhte aber letztlich, wie Florian Link darlegt, auf der Übersetzung der »in der Zwischenkriegszeit entwickelten Idee einer deutschen Volksgemeinschaft in die amerikanisch-englische Vorstellung einer partizipativen Demokratie«.
Die Frankfurter Wissenschaftler gingen von anderen Voraussetzungen aus. Sie setzten generell auf eine ideengeschichtlich bestimmte Forschung, die im Lichte zeitgeschichtlicher Erfahrung erweitert wurde zu einer geschichtsphilosophisch-universellen Kritik totaler Herrschaft. Vor allem Adorno stand einer rein empirischen Sozialforschung skeptisch gegenüber, da ihr überwiegend statistisches Material nicht ohne Deutungsrahmen auskomme: ihre Methode trage vielmehr zu einem technokratisch-totalitären Gesellschaftsverständnis bei.
Auschwitzprozess und Positivismusstreit
Adorno hatte 1960 die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernommen und verwendete bei seinen Untersuchungen wieder stärker eine marxistische Terminologie. Ein Alarmsignal waren für ihn die ersten Hakenkreuzschmierereien um die Jahreswende 1959/60. Im Lichte des Auschwitzprozesses, der damals in Frankfurt vorbereitet wurde, wurde Auschwitz zum Angelpunkt seiner zeitgeschichtlichen Reflexionen: Die Einmaligkeit des Geschehens müsse als eine Art Mahnung in allen wissenschaftlichen und bildungspolitischen Fragen präsent sein.
Aus der Gruppe um Schelsky gab es zu den aktuellen Ereignissen keinerlei Stellungnahme; für sie war Auschwitz als elementarer Reflexionspunkt irrelevant. »Genau in diesem Schweigen über die deutsche Vergangenheit lag die große Kluft zwischen den beiden Denkkollektiven begründet«, schreibt Fabian Link. »Sie tat sich Ende der 1950er Jahre auf und sollte sich in den Folgejahren weiter vertiefen.«
Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt im vielzitierten Positivismusstreit der 60er Jahre. Sein Ausgangspunkt war eine minutiös vorbereitete Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1961 in Tübingen. An ihr nahmen erstmals auch Vertreter der jüngeren Generation wie Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas teil, die in der Folgezeit weitgehend die Diskussion bestimmen sollten. Höhepunkte des Treffens waren die Referate von Karl Popper und Adorno, die in penibler Kleinarbeit aufeinander abgestimmt worden waren.
Bei allen Unterschieden zwischen dem von Adorno vertretenen Konzept der Totalität und Poppers Konzept eines Kritischen Rationalismus bestand zwischen beiden ein Konsens darüber, dass bei einer wissenschaftlichen Theoriebildung Werturteile niemals gänzlich ausgeschlossen werden können. Folgt man dem Resümee von Ralf Dahrendorf, so fehlte der Kontroverse trotz aller Gegensätze »durchgängig jene Intensität, die den tatsächlich vorhandenen Auffassungsunterschieden angemessen gewesen wäre«.
Fabian Links Buch umreißt eine bedeutende Epoche deutscher Soziologiegeschichte in den beiden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Heute haben sich die einstigen Zentren der Theoriebildung in zahlreiche Teil- und Unterdisziplinen verzweigt; allenfalls die Kritische Theorie ist noch in ihren Ausläufern erkennbar. Anzumerken wäre allerdings, dass es neben Horkheimer/Adorno und Schelsky/Gehlen noch eine dritte sozialwissenschaftliche Schule gab, deren Zentralgestalt der 1949 aus seinem Zürcher Exil nach Köln zurückgekehrte René König war. An thematischer Breite, methodischer Vielfalt und internationalem Radius stand sie den zuvor genannten Schulen nicht nach. Aber mit der Nachzeichnung ihrer Aktivitäten wäre der Rahmen der vorliegenden Untersuchung vermutlich vollends überschritten worden.
Fabian Link: Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit. Wallstein, Göttingen 2022, 640 S., 66 €.
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