Menü

Warum manche ihr Gesicht verhüllen und andere ihre Fotos mit aller Welt teilen Zwischen Erfassungsangst und Erfassungslust

Seit dem 1. Oktober 2017 gilt in Österreich ein Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz. Es heißt wirklich so. Im Amtsgebrauch AGesVG. Obwohl auch Faschingsmasken oder zu weit über die Nase gezogene Schals jetzt offizielles Misstrauen erregen, waren es wohl in erster Linie die Gesichtsverhüllungen nach muslimischer Kleiderordnung, Burka oder Niqab, die als provozierende Zeichen von Fremdheit und, schlimmer noch: von Fremd-bleiben-Wollen angesehen und als Begründungen für die Gesetzesinitiative herangezogen wurden. Trotzdem waren es nur wenige Fälle, von denen die Polizei nach den ersten Wochen berichten konnte; meist handelte es sich um Touristinnen. Und fast alle nahmen den Schleier dann auch bereitwillig ab.

Peinlich eigentlich für eine Gesellschaft im Überwachungsfieber. Immerhin hatten ein paar Gegner des Gesetzes ihren Spaß, als sie im Clownskostüm – also verhüllt – vor das Wiener Parlament ziehen und die Volksvertreter mit einem Tänzchen auf die Schippe nehmen konnten. Das neue Gesetz befeuert natürlich auch die Debatte darüber, ob nicht manche Verordnungen und die hitzige Diskussion darüber in den Medien erst die Probleme erzeugten, die sie eigentlich zu bekämpfen vorgaben. Man muss keine kleinen Kinder erziehen, um zu wissen, wie verlockend ein Verbot sein kann.

So in Belgien, so in Frankreich, so im Tessin, wenn auch nicht in der ganzen Schweiz, so in bayerischen Schulen und Kindergärten. In Lettland und Bulgarien ist Verhüllung verboten, in den Niederlanden wird daran gearbeitet, in Niedersachsen spezifiziert, im Rest der Schweiz dafür geworben. In England gilt zwar kein Gesetz gegen die Verschleierung, jedoch hat sich bei einer Umfrage im vergangenen Jahr eine Mehrheit der Bevölkerung für ein entsprechendes Verbot ausgesprochen.

Das Gesicht als Personalausweis

Seit dem 1. August 2017 haben sich im Berliner Bahnhof Südkreuz die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt, die Bahn und das Bundesinnenministerium zu einem Großversuch zusammengetan – oder sollte man besser sagen: zu einem Großangriff auf die persönliche Freiheit? So sehen es nämlich die Kritiker, etwa der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP, Wolfgang Kubicki: »Eine flächendeckende Gesichtserkennung«, so gibt er zu bedenken, »wäre ein erheblicher Schritt in Richtung Überwachungsstaat«.

Ganz so weit ist es noch nicht: Zum Berliner »Pilotprojekt Gesichtserkennung« haben sich knapp 300 Freiwillige gemeldet, Berufspendler und andere Vielfahrer, deren Gesichtszüge in verschiedene Computerprogramme eingespeist und darin gespeichert wurden, um jedes Mal dann eine Reaktion auszulösen, wenn sie in der Bahnhofshalle von einer der dort installierten Kameras erfasst werden. Als Belohnung für die Teilnahme – keine Ironie! – winkten Gutscheine von Amazon oder smarte Armbanduhren, die Nachrichten empfangen können oder ins Internet melden, wo sich ihr Träger gerade aufhält.

Das Wort »erkennen« ist übrigens beim derzeitigen Stand der Entwicklung Künstlicher Intelligenz ein bisschen hoch gegriffen. Vorerst registriert und vergleicht der »sehende Computer« die Länge der Nase mit den gespeicherten Daten, den Abstand der Augen, die Biegung der Augenbrauen, Form und Breite des Mundes usw. Aber Forschungsinstitute, Geheimdienste und kommerzielle Unternehmen arbeiten mit Hochdruck an der Vision, eine Menschenmenge mit der Kamera zu erfassen, um sofort zu erkennen, wo sich der Terrorist verbirgt, wo sich der polizeibekannte Hooligan im Fußballstadion befindet, wer vielleicht in der vergangenen Woche an einer Demonstration teilgenommen hat oder wer genau zum Zeitpunkt der Aufnahme eigentlich an seinem Arbeitsplatz sitzen sollte. »In fünf Jahren«, sagt der Internet-Skeptiker Sascha Lobo voraus, »ist ihr Gesicht ihr Personalausweis«.

Inzwischen verkünden die Pioniere der grafischen Datenverarbeitung nicht ohne Stolz, dass die Trefferquote in der elektronischen Gesichtserkennung bei über 99 % liege. Allerdings nur unter den strengen Bedingungen eines Labors. Im Großversuch, angelegt auf sechs Monate, tun sich die Algorithmen noch ein wenig schwer, die Person im T-Shirt mit Sonnenbrille und die mit Pudelmütze und Winterpelz als ein und dieselbe zu erkennen. Soll man sich also freuen, wenn die Technik Irrtümer produziert? Systeme müssen ja perfekt funktionieren. Selbst wenn nur einer von 1.000 Besuchern einen Fehlalarm auslöste, müssten sich die Fahnder an einem Knotenpunkt wie dem Berliner Südkreuz jeden Tag 160-mal entschuldigen: »Oh, tut uns leid, Sie sind ja gar kein Terrorist.«

Bemächtigung oder Ermächtigung?

Erinnert sich noch jemand an die Volkszählung von 1987 in der Bundesrepublik? »Wie viel Zeit«, so wurde damals gefragt, »benötigen Sie normalerweise für den Hinweg zur Arbeit oder Schule beziehungsweise Hochschule?« Das klingt nach einer eher geringfügigen Verletzung der Privatsphäre, aber es gab mehr als 1.200 Verfassungsbeschwerden und wütende Proteste gegen die vermeintlich »totale soziale Kontrolle«. »Vom Staat erfasst zu werden«, sagt der Lüneburger Kulturwissenschaftler Andreas Bernard, »war gleichbedeutend damit, den autonomen Kern der eigenen Persönlichkeit preiszugeben, in den Mustern der Strichcodes die Menschenwürde zu verlieren, begradigt und bereinigt zu werden«.

Menschenwürde? Heute gibt die Antwort nach dem Weg zum Arbeitsplatz jeder, der ein Smartphone in der Tasche trägt, und zwar auf den Meter genau. Nur ein paar ganz Hartgesottene sehen darin ein Problem. In jeder Fußgängerzone findet sich einer, der das Meinungsbild der Bevölkerung vor laufender Kamera bestätigt: Datenschutz ist Täterschutz. Wir alle, sagt Andreas Bernard (und so lautet auch der Titel seines 2017 erschienenen Buches), sind heute »Komplizen des Erkennungsdienstes«.

Was sich geändert hat? Erfassung, so erklärt es der Wissenschaftler, werde nicht mehr als »Bemächtigungstechnik« einer fremden Instanz verstanden, sondern ist »für die meisten Menschen zu einem produktiven Akt geworden«. Die Urlaubsbilder, das hochgeladene Foto mit der Freundin, die für das Netz aufgehübschten Stationen der eigenen Karriere: lauter Inszenierungen der eigenen Bedeutung. Jeder gereckte Daumen, jedes »Like« ist dabei nicht nur Nahrung für ein narzisstisches Selbstbewusstsein, sondern auch die Basis eines nach ökonomischen Gesetzen geregelten Austauschs unter Ich-AGs und übermächtigen Konzernen. Ein Profil ist das Abbild einer Persönlichkeit, das im stetigen Austausch mit der Gemeinde der Nutzer Gestalt annimmt, aber niemals selbst Persönlichkeit wird.

Blick in die Zukunft

30 Jahre nach dem Ereignis, aus dem sich eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik formierte, macht das neue China vor, wohin die Reise auch bei uns gehen könnte. Der mit fast unbegrenzter Macht ausgestattete Staatspräsident Xi Jinping hat einer »neuen Ära des Sozialismus chinesischer Prägung« die Richtung vorgegeben; das Motto seiner Partei lautet: totale Kontrolle. Da China für uns weit weg ist, erscheinen zunächst Geschichten wie diese beinahe komisch: In öffentlichen Pekinger Toiletten gibt es Automaten, in denen mit Kamera und Gesichtserkennungsprogramm die Ausgabe von Klopapier überwacht wird. Die offizielle Begründung: massenhafter Diebstahl von Klopapier.

Zugleich aber demonstriert das ungeheuer fortschrittsfreudige System, wie sich aus Daten als Rohstoff ein ganz neues Gesellschaftsmodell bauen lässt – ein Modell, das den Wettstreit zwischen Kommunismus und Kapitalismus endgültig ins warme Dunkel der Geschichte verbannen könnte. Denn Begriffe wie »Wettbewerb« oder »Solidarität« müssen ganz neu vermessen werden, wenn 176 Millionen Kameras Tag und Nacht erfassen, was die Menschen zwischen Peking und Hainan tun oder unterlassen – an jeder Straßenkreuzung, in jedem Supermarkt, im Hörsaal der Universität, am Bankschalter, im Freizeitpark, in der Bahn. Sie erkennen Gesichter, identifizieren Personen, verknüpfen Datenbanken, stellen Dossiers zusammen und ermitteln in Echtzeit, wer genau der Mann ist, der da bei Rot über die Ampel geht. Welchen Beruf er ausübt, ob er Kinder erzieht, wie viel Geld er auf dem Konto hat und ob er schon früher durch Fehlverhalten aufgefallen ist.

Schöne neue Welt oder vielleicht doch so etwas wie eine IT-Diktatur? Das Projekt »Sozialkreditsystem« steht noch am Anfang, jedoch soll das Ziel der totalen Kontrolle bis 2020 erreicht sein. Auch bei uns ist die Versuchung groß, mit mehr Überwachung die Illusion von mehr Sicherheit in einer Welt zu schaffen, die viele ängstlich und unsicher macht. Zugegeben, als vor gut einem Jahr eine junge Frau in der Berliner U-Bahn die Treppe hinuntergestoßen wurde, konnte der Täter gefasst werden, als die Bilder der Überwachungskameras ins Netz gestellt wurden und ein Nachbar sein Gesicht erkannte. Wie viele Kameras hätten aber hingegen den Attentäter, der im Dezember 2016 mit einem Lkw mitten ins Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche raste, aufgehalten? Sein Gesicht war den Behörden längst bekannt. Warum richtete sich trotzdem die erste Forderung von Politikern wie dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer auf mehr Überwachung und Gesichtserkennung?

Das Gesicht gibt einen Menschen preis. Im Gesicht lassen sich Emotionen und Wünsche ablesen – manchmal umfassender, als es dem Betrachteten lieb ist. Die Freiheit einer Gesellschaft besteht jedoch genau darin, dass es jedem freisteht sich zu äußern. Was also hat beides miteinander zu tun: der Wunsch, Gesichter zu speichern, und die Furcht vor Klassifizierung? Die Antwort ist banal: Es sind die zwei Seiten einer Medaille. Alles, was sich messen lässt, kann man kontrollieren und je nach Bedürfnis aktivieren oder mit einem Bann belegen. Das Fremde, Neue, Kreative, Individuelle, also das eigentlich Menschliche – das bleibt unberechenbar.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben