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Neue Bücher über Karl Marx Zwischen gestern und morgen

Zwar ist der 200. Geburtstag von Karl Marx erst am 5. Mai 2018, doch schon der 150. Jahrestag der Publikation des ersten Bandes seines Hauptwerkes Das Kapital beschert diesem Buchherbst eine Reihe einschlägiger Publikationen. Am gewichtigsten ist zweifellos Gareth Stedman Jones’ lakonisch Karl Marx betitelte Biografie, die Ende September auf Deutsch erschien. Anders als Jürgen Neffes zwar anschaulich geschriebener, bisweilen aber auch recht reißerisch formulierter Versuch, dem »Kreativteam Marx & Engels« ein Comeback zu ermöglichen (Marx. Der Unvollendete), schließt der 1942 geborene britische Historiker Jones nach rund 700 Seiten detaillierter und tiefgründiger Analyse mit der ernüchternden Feststellung, »dass den Marx, wie ihn das 20. Jahrhundert schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, nur eine zufällige Ähnlichkeit verbindet«.

Das verweist auf das Auseinanderdriften von Lebens- und Rezeptionsgeschichte eines Mannes, der große Teile seines Werkes im Exil schrieb. Als Hintergrund seines bewegten Daseins liefert Stedman Jones eine historische Miniatur des Lebens von Marx’ Vater Heinrich, eines Rabbinersohns: »Denn ohne die Auswirkungen der französischen Revolution hätte Heinrich niemals Anwalt werden können, ohne die Bildungsinitiativen Napoleons hätte er nie seinen juristischen Abschluss bekommen, und ohne eine Anpassung an die immer restriktivere Politik Preußens gegenüber den Juden nach 1815 hätte er niemals Anwalt bleiben können.« Revolutionäre Hoffnungen und deren Enttäuschung zählten für Sohn Karl zum Familienerbe, und er hat versucht, ihnen eine solidere Basis zu geben: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt«, lautet seine grundlegende These, und dieses Sein werde durch die »Entwicklung der materiellen Produktivkräfte« bestimmt.

Doppelt gewappnet gegen Kritik

Wie diese »Idee die Welt eroberte« und dabei transformiert wurde, analysiert die 1976 geborene Historikerin Christina Morina in Die Erfindung des Marxismus. Und Mathias Greffrath teilt das Fell des Bären auf – in einem Sammelband, dessen Autoren Marxens Opus magnum Das Kapital aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachten. Nun kann nach Johann Wolfgang von Goethe solch »ein Buch, das große Wirkung gehabt«, eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden. Dies spricht für Stedman Jones’ quellennahe Darstellung von Leben und Werkentstehung, die auch zeigt, welche Rolle das Vergessen bei der Adaption und den Adepten der marxschen Gedanken gespielt hat.

Kein anderer Denker des 19. Jahrhunderts war auch nur annähernd so weltbewegend wie Marx. Während aber Charles Darwins Evolutionstheorie von Biologen weitgehend anerkannt wird, blieb Marx’ Revolutionstheorie umstritten und gilt spätestens seit dem Zerfall des Ostblocks als historisch widerlegt. Dabei habe Marx, wie Neffe schreibt, Darwins Thesen durchaus begrüßt – »als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes«. Nur hatte Darwin der Teleologie in den Naturwissenschaften den Todesstoß versetzt, während der Marxismus sein teleologisches Erbe beibehielt. Als »Wissenschaftlicher Sozialismus« war er doppelt gewappnet. Seinen Kritikern unterstellte er ein falsches Bewusstsein, während erkennbare Mängel sozialistischer Systeme dadurch erklärt wurden, dass diese »noch nicht weit genug entwickelt« seien.

So steht Marx im Schatten vieler Hypotheken, die seine ikonischen Erben Wladimir Iljitsch Lenin, Josef Stalin und Mao Zedong unabgelöst hinterlassen haben. Gleichwohl fällt es seinen Verteidigern und Aktualisierern nicht schwer, ihn anhand von Zitaten über die enormen, zerstörerischen und endlich gar selbstzerstörerischen Kräfte, die der Kapitalismus entfaltet hat, als hellsichtigen Prognostiker auch unserer aktuellen Krisen darzustellen. Nur sind Prognosen wohlfeiler als Therapien. Hier empfiehlt sich Greffraths Sammelband allein schon deshalb, weil er Abhandlungen von Hans-Werner Sinn, dem ehemaligen Präsidenten des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und der Fraktionsvorsitzenden der Partei DIE LINKE Sahra Wagenknecht zusammenrückt.

Bei aller Kritik an Marxens »wissenschaftlichen Fehlleistungen« würdigt Sinn dessen Verdienste im Bereich der Makroökonomie, schätzt ihn als Krisentheoretiker im Allgemeinen und seiner »Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate« wegen im Besonderen. Vereinfacht besagt diese Theorie: Kapital wächst am Ende schneller als die Möglichkeiten, es gewinnbringend zu investieren.

Wagenknecht sieht eine Erstickung der kapitalistischen Innovationskraft durch zunehmende Monopolisierung: »Der Kapitalismus, so Marx’ Prognose, wird ideenlos und träge.« Eine ähnliche Entwicklung droht für Sinn aufgrund der Nullzinspolitik, die eine schöpferische Zerstörung verhindere: »Die ultralockere Geldpolitik droht zur Verkrustung des Kapitalismus und auf dem Wege ausufernder Rettungsaktionen direkt in die diktatorische Staatswirtschaft zu führen.« Während der Ordoliberale Sinn seine Würdigung des Krisentheoretikers mit der Mutmaßung beendet, »Marxens Behauptung, der Kapitalismus werde am Fall der Profirate zugrunde gehen und dem Sozialismus den Weg ebnen«, könne sich »auf diese Weise doch noch irgendwie bewahrheiten«, hat die Linke Wagenknecht diesen Weg bereits irgendwie vor Augen: »Neue Formen des Wirtschaftseigentums sollten zu Anstrengung, Kreativität und Leistung motivieren, aber nicht länger individuelle Bereicherung auf Kosten anderer ermöglichen.«

Bleibt nur noch zu klären, wie sich solch neue Formen des Wirtschaftseigentums gegen die alten durchsetzen sollen. Im Kommunistischen Manifest heißt es weit drastischer: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Das aber schrieben Karl Marx und Friedrich Engels als junge Männer, die die Französische Revolution noch nicht weit hinter sich und die brutale Ausprägung der Industriellen Revolution direkt vor Augen hatten.

Vor Augen hatte Marx laut Stedman Jones auch die Niederlage der Revolution von 1848, als er in London schrieb: »Alle Häuser sind jetzt mit dem geheimnisvollen roten Kreuz gezeichnet. Die Geschichte ist der Richter – ihr Urteilsvollstrecker der Proletarier.« Diese Anspielung an die Feme erinnert an den vermummten Gast, den Heinrich Heine in Deutschland. Ein Wintermärchen beschrieben hat und der hinter ihm erschiene, wenn er am Schreibtisch säße. Zur Rede gestellt, antwortet die Gestalt mit dem Liktorenbeil: »Du bist der Richter, der Büttel bin ich, / Und mit dem Gehorsam des Knechtes / Vollstreck’ ich das Urteil, das du gefällt, / Und sei es ein ungerechtes.« Kurzum: »Ich bin die Tat zu deinem Gedanken.«

Marxistische Theorie und geschichtliche Praxis

Was Heinrich Heine noch Albträume bereitet hat, ist von Marx an die Geschichte delegiert worden. Die Frage nach individuellem Recht und Unrecht wird kassiert, und es wäre leicht, das Bild der roten Feme bis zum Zaren- und Kulakenmord, zu den Schauprozessen und zur Kulturrevolution fortzuschreiben. Marx, Engels und die wichtigsten Mitglieder der »Gründergeneration«, die Christina Morina vorstellt, waren aber auch Kinder einer Zeit, in der solchen Metaphern noch kein Hautgout anhaftete. Schließlich zählte das uniforme Auftreten von Menschenmassen zur Militärtradition, und das Bild einer Armee der Arbeit(er) lag nahe, auch wenn deren Angehörige nicht bewaffnet, sondern mit Werkzeugen einer friedlichen Produktion oder Ernte – Hammer und Sichel – versehen waren.

Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Victor Adler, Jean Jaurés, Jules Guesde, Georgi W. Plechanow, Wladimir I. Lenin und Peter B. Struve beschreibt die Autorin als Vertreter einer politischen »Hingabebewegung« mit vergleichbaren Sozialisierungs- und Politisierungserfahrungen. Angesichts der Verelendung der Arbeiter ging es darum, die Philosophie auf die Füße zu stellen und mit der gesellschaftlichen Praxis in Einklang zu bringen. Generell ging es der sich entwickelnden Arbeiterbewegung weniger um den sofortigen Sturm auf die Bastille als vielmehr um praktische Verbesserungen. Arbeiterkonsum- und Bildungsvereine entwickelten eine Parallelgesellschaft, deren Mitglieder von der Wiege bis zur Bahre solidarisch versorgt waren.

Weder Marx und Engels noch die intellektuellen Protagonisten Morinas entstammten proletarischen Verhältnissen, und keiner von ihnen hat sich im Laufe seiner politischen Entwicklung von einem »bürgerlichen« Lebensstil abgewendet. Das Angenehme an Marxens Vermittlung von Theorie und Praxis war ja, dass sie in beide Richtungen funktionierte. Zwar müsse »materielle Gewalt« durch ebensolche gestürzt werden, zitiert Morina aus Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – »allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift«.

In ihrer Schlussbetrachtung teilt Morina ihre Protagonisten in »Feldforscher«, »Abenteurer« und »Bücherwürmer« ein, um dann festzustellen: »Bemerkenswert ist, dass die typischen Berufsrevolutionäre in meinem Gruppenbild – Luxemburg, Lenin, Guesde und Plechanow – demnach eine Mischung aus Abenteurer und Bücherwurm waren; keiner von ihnen war Feldforscher.« Es waren die Gedanken von Lesern, die die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern wollten: »Sie verkörperten den vermeintlich niemals abschweifenden, kühlen, auf die soziale Gegenwart gerichteten ›Tatsachenblick‹, den Marx und Engels in ihren Texten stets für sich behaupteten und damit gleichfalls die allgemeine, sozialwissenschaftsaffine politische und intellektuelle Kultur ihres Zeitalters reflektierten.«

Der Griff ins Leere

Angesichts der damals rasch anwachsenden Zahl von städtischen Lohnarbeitern scheint die Vorstellung einer organisierten Masse, die, diese Gedanken aufgreifend, allein schon durch ihre Größe selbst durch unblutige Maßnahmen wie Streik und Boykott die kapitalistische Gesellschaftsordnung aufheben und in eine genossenschaftlich-sozialistische transformieren würde, nicht aus der Luft gegriffen.

Nur hat die Geschichte des Marxismus gezeigt, dass der Egoismus nicht abstirbt und sich als privilegierte Avantgarde des Proletariats kommod einzurichten weiß. So attraktiv es auch sein mag, mit Jürgen Neffe die marxschen Gedanken bis in die Zeit der Subprime-Krise und darüber hinaus in unsere nähere Zukunft hin weiterzudenken, so war die Welt zu seinen Lebzeiten doch bei Weitem nicht so »entwickelt«, wie er es in manchen Beschwörungen der kapitalistischen Dynamik antizipiert hat: »Seit er denken kann«, schreibt Neffe über Marx, »kennt er nur permanente Revolution durch technischen Fortschritt und gesteigertes Tempo in allen Lebensbereichen«. Seine Vorstellung von Revolutionen als »Lokomotiven der Geschichte« war seinerseits so zeitbedingt wie später Walter Benjamins Einwand, sie seien vielleicht eher »der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse«.

Man kann Marx und seinen Nachfolgern eine zeitbedingte Fetischisierung der industriellen Produktion vorhalten. Diese Fixierung hat dazu beigetragen, dass in der sowjetischen Planwirtschaft Rekordernten an den Straßenrändern verrotteten, weil es an Transportmitteln fehlte, und in China Millionen verhungerten, weil es angebliche Rekordernten nur auf dem Papier gab. Karl Marx hat die ungeheure Kreativität und Produktivität einer arbeitsteiligen Gesellschaft erfasst, hat Ausbeutung und Entfremdung angeprangert und die selbstzerstörerischen Kräfte des Kapitalismus hellsichtig analysiert. Nur was danach kommen wird, hat weder er zu sagen vermocht noch die Schar seiner Schüler. Benjamins Griff nach der Notbremse aber fasst ins Leere.

Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie. S. Fischer, Berlin 2017, 896 S., 32 €. – Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete. C. Bertelsmann, München 2017, 656 S., 28 €. – Christina Morina: Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte. Siedler, München 2017, 592 S., 25 €. – Mathias Greffrath (Hg.): RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert. Antje Kunstmann, München 2017, 200 S., 22 €.

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