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Irmgard Keun in einer Werkausgabe Zwischen Lachen, Hohn und Trauer

In den letzten Atemzügen der fiebrigen Agonie der Weimarer Republik erschien in der Literaturszene eine junge Frau wie aus dem Nichts, die praktisch über Nacht zur erfolgreichsten Autorin der 30er Jahre wurde. Aus ihrer atemlosen Prosa hören wir noch heute den Ton dieser Zeit heraus. Irmgard Keun war 26 Jahre jung, als 1931 ihr erster Roman Gilgi, eine von uns erschien. Mit der Geschichte der 21-jährigen Stenotypistin, die Gisela heißt, sich aber Gilgi nennt und mit ihren beruflichen und erotischen Beziehungsproblemen für das junge Heer der weiblichen Angestellten stehen sollte, die weit drastischer den zahlreichen Krisen der Weimarer Republik ausgesetzt waren als die Männer, war der Autorin ein grandioser Volltreffer gelungen. Heute würde man von einem Shootingstar sprechen. Und dieser Newcomerin gelang schon acht Monate später mit ihrem zweiten Roman Das kunstseidene Mädchen erneut ein Riesenerfolg, der sie endgültig berühmt machte.

Irmgard Keun okkupierte das Image der frischen und frechen jungen Frau, die selbst »eine von uns« ist und sich wie ihre Protagonistin Gilgi nichts gefallen lässt, besonders nicht im Umgang mit den Männern. Je länger eine Frau über einen Mann nachdenke, sagt Gilgi, desto weniger verstehe sie von ihm. Es sei also nicht nur töricht, auf den idealen Mann zu warten, sondern auch »furchtbar unmoralisch«, man dürfe sich »doch seine Wünsche nicht fortlügen«. Filme und Schlager der frühen 30er Jahre bestimmen das Leben und die Sehnsüchte der Sekretärin Doris, des »kunstseidenen Mädchens«, die aus ihrem kleinen Angestelltenmilieu ausbrechen und Schauspielerin werden will. Sie nimmt sich vor, zu »schreiben wie Film«, sagt: »Ich will ein Glanz werden.« Schlager und Schreibmaschine, innerer Monolog, der Traum von Hollywood, damals schon. Später wird Irmgard Keun sagen: »Also direkte Vorbilder, die hatte ich nie, die hätte ich auch abgelehnt. Denn ich wollte ja ich sein, ich, ich, ich! Das war die Hauptsache.«

Viele ihrer Romane, vor allem die in den 30er Jahren entstandenen, befassen sich mit der Lebenssituation von Frauen und ihrem Kampf um Selbstständigkeit Es geht dabei nicht um ein abstraktes Emanzipationsprogramm. In dem »Gilgi«-Roman etwa rutscht die Heldin ins Arbeitslosenelend. Doch weiß sie sich zu behaupten, glaubt das zumindest, eignet sich Fremdsprachenkenntnisse an, versucht, durch eine besonders positive Ausstrahlung bei den Herren der Schöpfung zu punkten. Ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin Olga, zu der sie sagt: »(…) es ist doch schön, sein Leben wie eine sauber gelöste Rechenaufgabe vor sich zu haben«. Aber die Rechnung geht nicht auf. Ende offen. In Das kunstseidene Mädchen führen die Liebe und das Verhältnis zu den Männern die Ich-Erzählerin Doris in eine illusionäre Welt von Trugbildern. Sie will kein Tagebuch führen, »denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein (…) Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern.«

Beide Romane waren Ereignisse. Alfred Döblin, Klaus Mann, Bernard von Brentano und Ludwig Marcuse waren von dieser Debütantin begeistert. Kurt Tucholsky schrieb in der Weltbühne: »Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! Hurra! Hier ist ein Talent. Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat: aus dieser Frau kann einmal was werden.« Und Döblin, der sie entdeckt hatte, schrieb ihr: »Wenn Sie nur halb so gut schreiben wie Sie sprechen, erzählen und beobachten, dann werden Sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt hat.«

Es kam anders. Die Nationalsozialisten ächteten die Bücher der jungen Schriftstellerin als »entartete Literatur«, die die Werte von Familie, Ehrbarkeit und deutscher Volkstradition zersetze, warfen sie auf die Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. Irmgard Keun verklagte die Regierung – allerdings vergeblich – auf Schadenersatz. Übelgenommen wurde ihr später, dass sie den Versuch unternahm, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Als ihr dies verwehrt wurde, gab es nur noch den Weg ins Exil. Vom Leben in Hitlerdeutschland erzählt ihr Roman Nach Mitternacht (1937), dessen Handlung an genau zwei Tagen 1936 in Frankfurt am Main spielt. Susanne, die Erzählerin, beobachtet am Opernplatz die Ankunft Adolf Hitlers: »Und langsam fuhr ein Auto vorbei, darin stand der Führer wie der Prinz Karneval im Karnevalszug.« Die Handlung wird nicht kontinuierlich erzählt, sondern von ihrem Ende her aufgerollt. In die Schilderung dieser zwei Tage lässt Susanne Erinnerungen an die vergangenen Jahre einfließen, die ihre persönliche wie auch die allgemeine politische Situation erhellen. So entlarvt der Roman in ironisch-satirischer Darstellung die Haltung des Bürgertums im nationalsozialistischen Deutschland aus der Sicht eines jungen Mädchens.

Im belgischen und holländischen Exil fand Irmgard Keun in Joseph Roth, den sie durch Egon Erwin Kisch in Ostende kennengelernt hatte, ihre »große Liebe«. Roth nannte sie wegen ihrer Zartheit sein »scheenes Kaninchen«. Roth, so bekannte sie später, »war ja auch der einzige Mann, der mich je gefesselt hat, so daß manches Wort von ihm in meiner Seele Wurzeln schlug. Er machte einen so starken Eindruck auf mich, daß ich es nicht nötig fand, seine Bücher zu lesen.« Sie arbeiteten zusammen, gaben sich gemeinsam dem Alkohol hin, was dazu führte, dass Irmgard Keun bis zu ihrem Tod 1982 mehrfach in einer Heilanstalt behandelt wurde. Dennoch war das Exil für beide eine produktive Zeit. Roth schrieb seine Romane Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht, Das falsche Gewicht und Die Kapuzinergruft, Irmgard Keun Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, Kind aller Länder und D-Zug dritter Klasse.

Ihre Jugend hatte die ursprünglich aus Berlin stammende Kaufmannstochter in Köln verbracht, wo sie nach Roths Tod die Kriegsjahre unter falschem Namen in ständiger Angst vor Entdeckung überstand. Das gelang ihr unter anderem auch durch eine Falschmeldung des Daily Telegraph, der sie 1940 für verstorben erklärt hatte. Im Oktober 1946 schrieb sie an Hermann Kesten: »Ich habe wieder etwas Hoffnung. Die Menschen in Deutschland sind genau wie sie immer waren. Sie tragen keine Hakenkreuze mehr am Anzug, aber sonst hat sich nichts mit ihnen geändert. An Köln ist das beste, dass es kaputt ist. Sowas darf ich aber noch nicht einmal den paar Leuten sagen, die keine Nazis sind und auch keine waren.« Nach 1945 war die einst so erfolgreiche Erzählerin weitgehend vergessen. Auch die »Gruppe 47« nahm keinerlei Notiz von ihr, ein Schicksal, das sie mit anderen Exilautoren teilte. Dennoch waren ihr Sarkasmus, ihr Witz nach wie vor präsent. Davon zeugt ihr letzter, von der Kritik weitgehend übersehener Roman Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen. Anfang der 80er Jahre wurden einige ihrer Romane bei Claassen neu aufgelegt. Aber erst jetzt liegt ihr komplettes Werk in drei Bänden mit einem einfühlsamen Vorwort von Ursula Krechel vor. Es hat Irmgard Keun nicht an Selbstbewusstsein gefehlt, auch nicht an Humor. Melodramatik war ihr fremd. Trotz, Empörung und Hass waren die Antriebskräfte ihrer Kreativität. In dem Nachkriegstext Wenn wir alle gut wären von 1954, einer ihrer letzten Arbeiten, heißt es: »Ich zögerte auch noch, meinen Haß, den ich für meine Arbeit brauchte, wieder wach werden zu lassen – diesen Haß gegen das dumpfe und hoffnungslose Böse, gegen die häßliche Unlust am klaren Gedanken – diesen Haß, den ich nie loswerden kann und will.«

Irmgard Keun: Das Werk (hg. im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung von Heinrich Detering und Beate Kennedy). Wallstein, Göttingen 2017, 3 Bde., 2.044 S., 39 €.

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