Menü

©
picture alliance / imageBROKER | Markus Beck

Eine kleine Geschichte der europäischen Grenzpolitik Zwischen Öffnung und Schließung

Der Erste Weltkrieg brachte ein recht simples Instrument wieder ins Spiel, um Grenzen neu zu sichern: Das Visum ermöglichte von nun an die Externalisierung, also die Auslagerung von Grenzkontrollen auf das Territorium anderer Staaten. Konsulate von Transit- und Ankunftsländern kategorisieren seither Intention und Merkmale einer potenziell mobilen Person bereits vor einer Durch- oder Einreise und legen Reisebedingungen wie Zeitpunkt, Dauer und Sicherheitsleistungen fest. Menschen können abgewiesen werden, ehe sie aufgrund des Betretens eines Territoriums Rechte auf Prüfung eines Einreise- bzw. Asylgesuchs erwerben.

Die nach Kriegsbeginn 1914 im euro-atlantischen Raum durchgesetzte flächendeckende Pass- und Visumpflicht führte zu einer nachhaltigen Verlagerung von Grenzkontrollen (weit) vor die territorialen Grenzen. Eine Gegenbewegung aber setzte rasch ein: Staaten mit ähnlichen politischen und ökonomischen Interessen verzichteten gegenseitig auf Visa. Solche bilateralen Verständigungen waren eine der Voraussetzungen für eine multilaterale Abstimmung über den Verzicht auf Grenzkontrollen an den Binnengrenzen, wie er im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft seit 1957 diskutiert und schließlich im Schengenraum seit 1985 etabliert wurde.

Der Bedeutungsverlust der Binnengrenzen wiederum setzte Ende der 80er Jahre die Frage der Ausrichtung einer gemeinsamen Außengrenzpolitik auf die Agenda der Europäischen Gemeinschaft. Dass sie zu diesem Zeitpunkt an Gewicht gewann, war kein Zufall: Die damals aufkommende Idee der »Globalisierung« beinhaltete den Glauben an den Bedeutungsverlust des Nationalstaates. Eine Verdichtung weitweiter ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Beziehungen werde zu vermehrten, von den Nationalstaaten nicht mehr kontrollierbaren Rückkopplungen, Interdependenzen und Abhängigkeiten führen. Ein Element der Kompetenzerosion des Nationalstaates sei die (unausweichliche) Zunahme einer kontinentale Grenzen überschreitenden Migration. Sie könne nur durch eine vermehrte Überwachung der Grenzen eingedämmt werden. Angesichts der Dynamik dieses Prozesses der Globalisierung sei Eile geboten und eine intensivierte Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden anderer Staaten unabdingbar.

Diese veränderte Wahrnehmung von (globaler) Flucht und Migration in einem als globalisiert vorgestellten Zeitalter mündete in die Entwicklung von Konzepten eines nur in inter- und supranationaler Abstimmung möglichen weltweit wirksamen »Migrationsmanagements«. So trugen die Länder der 1992 gegründeten Europäischen Union mit dazu bei, eine globale migratorische Klassengesellschaft herzustellen: Bi- oder multilateral vereinbarte Visumfreiheit gilt als Mittel zur Förderung ökonomischer Beziehungen und als Symbol gegenseitigen Vertrauens unter den vertragschließenden Ländern, die ihren Ausdruck in einer Privilegierung des zwischenstaatlichen Personenverkehrs findet. Restriktive Visaregelungen hingegen vermögen beargwöhnte Gesellschaften und Personen auf Distanz zu halten. 2019 konnten Menschen aus Afghanistan oder dem Irak weltweit 30 Länder ohne Visum erreichen, solche aus Japan, Südkorea und Singapur hingegen 189.

Längst ist nicht mehr nur das Visum ein Instrument der Externalisierung. Eine »Digitalisierung des Grenzregimes« führte in der EU seit den frühen 90er Jahren zu immer schnellerer Verarbeitung immer mehr migrationsbezogener Daten. Die parallel aufgebaute Überwachung der Grenze vor der Grenzlinie durch Drohnen, Flugzeuge und Satelliten mündete in »e-borders«. Kooperations- und Assoziierungsabkommen mit anderen Ländern umfassten außerdem regelmäßig migrationspolitische Bestimmungen, die diese für Interessen der EU in die Pflicht nehmen: Bewegungen werden unterbunden, verlangsamt oder umgelenkt, sie werden voraussetzungsvoller und selektiver, der finanzielle Aufwand und die Risiken der Migration steigen. Vertragspartner sollen nicht nur Migrant:innen aufhalten, die als unerwünscht und »irregulär« gelten. Haben diese die EU-Grenzen bereits erreicht oder überschritten, verpflichten die Drittstaaten sich zur Rücknahme.

Zu solchen vielfältig verflochtenen und mit einem hohen materiellen und immateriellen Aufwand verbundenen Maßnahmen trat seit den 90er Jahren vermehrt das Einbeziehen internationaler Migrationsagenturen wie das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) oder die International Organization of Migration (IOM). Sie tragen dazu bei, im Auftrag der EU ein »non-entrée regime« zu realisieren. Oder sie errichteten Lager in räumlicher Nähe zu den Herkunftsregionen von Schutzsuchenden, die gegenwärtig etwa in Afrika mehr als 80 Prozent von ihnen beherbergen.

Wenngleich solche Lager Schutz und Unterstützungsleistungen mit sich bringen, tragen sie doch dazu bei, Schutzsuchende zu immobilisieren. Wer dem entkommen will, muss entweder in die Gewaltverhältnisse des Herkunftslandes zurückkehren oder trotz hoher Risiken und Kosten weiterwandern.

Eine solche Re-Mobilisierung bildete eine der Voraussetzungen für die europäische Fluchtkonstellation 2015: Es kamen auch deshalb viele Schutzsuchende aus Syrien in die EU, weil sie in den Nachbarländern Jordanien, Libanon und Türkei, in die seit 2011 Menschen flohen, Mechanismen der Exklusion ausgesetzt waren: prekärer Aufenthaltsstatus, kaum Zugang zu Arbeit und Bildung, schwierige Wohnverhältnisse. Hinzu trat die Verminderung der Unterstützungsleistungen durch internationale Akteure seit 2014 und die Befürchtung zahlreicher Schutzsuchender, durch das Aufzehren mitgebrachter oder aus dem familiären Netzwerk zur Verfügung gestellter Ressourcen fortschreitend an Handlungsmacht zu verlieren.

Dass die Zahl der Asylanträge in der EU in den 10er Jahren erheblich anstieg, ist angesichts der geschilderten Bemühungen um eine Immobilisierung von Menschen weit vor den Grenzen erläuterungsbedürftig. Ein Erklärungsansatz verweist auf die Krise der Infrastrukturen der Externalisierung. Obgleich die EU ihre Grenzen auf andere Kontinente auszuweiten vermochte, kann sie dort nicht als hegemonialer Akteur auftreten. Drittstaaten (Nachbarländer in Ost- und Südosteuropa beziehungsweise in Nordafrika), die Teil der Infrastruktur der Externalisierung geworden waren und Kontroll- und Immobilisierungsaufgaben übernahmen, verhandelten beziehungsweise erstritten (gewichtige) Gegenleistungen (Visaprivilegien, ökonomische Vorteile, politische, finanzielle und technische Unterstützung).

Beschränkte Handlungsmöglichkeiten

In der Konstellation vermehrter Migration der frühen 10er Jahre (und damit erhöhter Leistungsanforderungen) in Verbindung mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, die gesellschaftliche Konflikte verschärfte (Beispiel »Arabischer Frühling«), begrenzten diverse Staaten die Kooperation oder waren dazu aufgrund von Bürgerkriegssituationen (Libyen) gar nicht mehr in der Lage.

Schließlich beschränkte die Finanz- und Wirtschaftskrise bei gleichzeitig höheren Anforderungen auch die Handlungsmöglichkeiten anderer Akteure der Externalisierung, so etwa dramatisch unterfinanzierter Agenturen wie das UNHCR oder das UN-Welternährungsprogramm. Ihre Leistungen in den Erstankunftsländern reichten, wie bereits erwähnt, nicht mehr für ein Mindestmaß an Versorgung und Unterbringung aus, was viele Menschen dazu bewegte, in Richtung Europa weiterzuziehen.

Daneben trat eine Krise der Infrastrukturen der Außengrenzsicherung der EU: Mittelmeeranrainerstaaten wie Griechenland oder Italien trafen die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise besonders hart. Eine wesentliche Reaktion auf vermehrte Ankünfte von Schutzsuchenden, die entsprechend der seit den 90er Jahren bestehenden Dublin-Verträge hätten Asylverfahren durchlaufen müssen, bestand in einer stillschweigenden Verweigerung der Kooperation: Anders als es die Dublin-Verträge vorsahen, erfassten griechische oder italienische Behörden neu eintreffende Schutzsuchende nicht in den entsprechenden EU-Datenbanken. Fortan wurden weder ihre Rechte geschützt noch ein Asylverfahren angestrengt.

Andernorts in der EU wiederum wurde die Legitimität von Externalisierung und restriktiver Außengrenzsicherung grundsätzlich infrage gestellt: Bis weit in das Jahr 2015 hinein ließ sich eine recht große Bereitschaft zur Aufnahme von Schutzsuchenden in Schweden oder Deutschland beobachten. Mitbestimmend dafür war eine auch angesichts der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt positive Zukunftserwartung. In Deutschland verstärkten die seit vielen Jahren laufenden breiten gesellschaftlichen Aushandlungen um den Fachkräftemangel und den demografischen Wandel ebenso die Neigung zur Vergabe von Mobilitätsoptionen wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und die Weigerung, Menschen, die als schutzbedürftig galten, an den Grenzen abzuweisen.

Seit 2016/17 erreichten zunehmend weniger Schutzsuchende die EU. Je länger prekäre Lebensverhältnisse und rechtliche Unsicherheit in Ankunftsländern vorherrschten, desto mehr verringerten sich ihre Handlungsmöglichkeiten. Hinzu trat der Neuaufbau beziehungsweise Ausbau der EU-Infrastrukturen zur Sicherung der (externalisierten) Grenzen seit Anfang 2016. Diese Infrastrukturen sind zwar nicht unsichtbar, in öffentlichen Debatten aber weit weniger präsent als Menschen in Bewegung.

Dass sie jederzeit außer Kraft gesetzt werden können, beweist die weitreichende Bereitschaft zur Aufnahme ukrainischer Schutzsuchender seit Ende Februar 2022: Sie werden als Opfer des Angriffskrieges Russlands verstanden, der zugleich als Angriff auf Werte und Interessen der EU wahrgenommen wird. Die damit verbundene gesellschaftliche Herstellung von Nähe gegenüber Schutzsuchenden (»nützlich«, »ungefährlich«) bildete die Voraussetzung für Solidarität. Durchaus möglich, dass die Folgen einer Verschlechterung der ökonomischen Verhältnisse in Europa wieder Distanzierungen und eine verminderte Aufnahmebereitschaft mit sich bringen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben