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Die Krise der liberalen Intelligenz Zwischen Schuldgefühl und Bedeutungslosigkeit

Neben dem Hass der Wutbürger auf alles, was links, liberal und etabliert ist, gibt es einen Selbsthass der wissenschaftlichen und intellektuellen Kulturen. Zwar werden Toleranz, Teilhabe, Integration und Empathie gepredigt, aber die Kritiker dieser hehren Ideale werden gnadenlos exkommuniziert. In seinem Buch Homo Empathicus. Von Sündenböcken, Populisten und der Rettung der Demokratie zitiert der Linguist und Theologe Alexander Görlach dazu Ralf Dahrendorfs auf die Folgen der Finanzkrise von 2008 gemünzten Ausdruck »diffuser Volkszorn«. Solch ein Zorn tritt auch dort auf, wo eigentlich die Urteilskraft herrschen sollte, nämlich an den Universitäten. Angriffe auf die offene Gesellschaft sind dort nichts Ungewöhnliches, wie der von Wilhelm Hopf herausgegebene Sammelband Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ›Feinde‹ anhand zahlreicher Beiträge zeigt. Zugleich zeigen der Tagebuchautor Michael Rutschky und der Psychoanalytiker Carlo Strenger, dass auch erfolgreiche Intellektuelle innerlich zerrissen sind, weil die Wissenschaft nicht zu liefern vermag, was die Gefühle fordern.

Görlach diagnostiziert eine »Erosion des Glaubens an die Wissenschaft, an die Kraft des Faktischen« und setzt dem die Feststellung entgegen: »Jeder hat das Recht auf seine Meinung, aber nicht das Recht auf eine eigene Wirklichkeit.« Statt um persönliche Bildung scheint es allerdings immer mehr um Gruppen- und Tabubildung zu gehen, um Eigenwirklichkeiten, die sich nach außen hin strikt abgrenzen. »So fühlen sich einige Studenten schon verletzt«, schreibt der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes Bernhard Kempen im Vorwort zu Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ›Feinde‹, »wenn an einer Universität ein Professor oder eine öffentliche Person mit Thesen auftritt, die der eigenen politischen Auffassung zuwiderlaufen.«

Wer wie der Oxforder Moraltheologe Nigel Biggar 2017 in einem Beitrag für The Times unter dem Titel Don’t feel guilty about our colonial history über die positiven Seiten britischer Kolonialpolitik räsoniert, muss mit massiven Anschuldigungen, Beschimpfungen und Versuchen rechnen, zumindest seine akademische Existenz zu zerstören. Biggars Artikel bezieht sich wiederum auf den Fall des US-amerikanischen Wissenschaftlers Bruce Gilley, der sich bei einer vermeintlichen Apologie der »white supremacy« auf einen unverdächtigen Kronzeugen berufen hatte. Gilley zitierte Überlegungen aus dem Spätwerk des antikolonialistischen nigerianischen Romanciers Chinua Achebe, der die von ihm selbst »häretisch« genannte Anschauung vertrat, unter britischer Verwaltung habe in Afrika immerhin Ordnung geherrscht. Dass daraufhin Mitarbeiter der Zeitschrift Third World Quarterly, denen die Publikation von Gilleys Artikel vorgeworfen wurde, Gewalt angedroht wurde (»serious and credible threats of personal violence«), wäre unter britischer Kolonialherrschaft wohl nicht einmal in Nordamerika möglich gewesen.

Diese verdammten Eliten

Der Verleger des Lit-Verlags Wilhelm Hopf spricht in dem Sammelband vom »Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft« und verweist damit auf Hermann Lübbes Definition des Politischen Moralismus (1984). Dazu zähle »die rhetorische Praxis des Umschaltens vom Argument gegen Ansichten und Absichten des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität; statt der Meinung des Gegners zu widersprechen, drückt man Empörung darüber aus, dass er es sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern«. Die Tendenz, Diskussionen von Sachfragen durch Diffamierung von Personen zu ersetzen, lässt sich leicht auf ganze Personengruppen ausdehnen. So richtet der in Basel geborene und in Israel lehrende Psychoanalytiker Carlo Strenger den Blick auf Diese verdammten liberalen Eliten und verspricht zu erklären, »wer sie sind und warum wir sie brauchen«.

Vor dem Hintergrund weltweit wachsender antiliberaler Tendenzen beschreibt Strenger seine liberalen Eliten als eine Gruppe universalistisch gebildeter, kreativer, mobiler und polyglotter Kosmopoliten, als »Anywheres«, denen die ortsgebundenen »Somewheres« zunehmend skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Das läge nicht zuletzt an einer gewissen Arroganz, mit der eloquente Hochgebildete sich gegenüber vermeintlich »provinziellen« Andersmeinenden verhielten. Bei aller Kritik an solchem Bildungsdünkel gelte doch: »In den Stamm der neuen liberalen Kosmopoliten wird niemand einfach so hineingeboren. Es handelt sich vielmehr um ein meritokratisches, auf Erfolg und erworbener Anerkennung beruhendes System.« Das, so darf man hinzufügen, noch dadurch geadelt wird, dass der Autor Carlo Strenger ihm selbst sich zugehörig fühlt. Ehrlicherweise müsste sein Buchtitel lauten: »Wir verdammten liberalen Eliten. Wer wir sind und warum ihr uns braucht«. Das aber würde die Gräben eher vertiefen als überwinden.

Zu den auf Basis von Erfahrungen aus seiner psychotherapeutischen Praxis konstruierten Fallbeispielen gehört auch das eines gefragten Soziologen, der sich gegenüber Strenger unter Tränen der Hochstapelei bezichtigt: »Ich bin davon überzeugt, dass dieses ganze Spiel, an dem wir beide teilhaben – Ihre Fachrichtung gehört auch dazu –, ein riesiger Hoax (eine Falschmeldung, die Red.) ist. Wir machen der Welt vor, dass wir die Phänomene, die wir angeblich analysieren, tatsächlich verstehen.« Zu solchem »Spiel« gehört auch der fahrlässige Umgang mit Analogien, wie ihn Strenger selbst demonstriert, wenn er ausführt, der Status der liberalen Eliten beruhe »mit Pierre Bourdieu gesprochen, weit stärker auf ihrem kulturellen als auf ihrem sozialen und ökonomischen Kapital«. Nach all der Arbeit, die sich Karl Marx mit der Arbeit am »Kapital« gemacht hat, erscheint es unangemessen, diesen Begriff, mit Bourdieu sprechend, leichtfertig aus der Ökonomie auf Kultur und Sozialforschung zu übertragen. Leider verfolgt Strenger den interessanten wissenschaftskritischen Ansatz seines fiktiven Patienten nicht weiter und vertieft sich lieber in dessen Familiengeschichte. Was dabei herauskommt, ist die Tragödie eines hochbegabten Kindes einer eher durchschnittlichen Familie, dessen Erfolg ihm quälende Schuldgefühle eingetragen hat: »Sie fühlen sich schuldig, weil Sie Ihren Eltern nicht die Freude gemacht haben, dankbar für Ihr gutes Leben zu sein, wie es Ihr Vater seinen Eltern gegenüber war.«

Neben dem Hochstapler-Syndrom diagnostiziert Strenger bei den Mitgliedern seines »Stammes« auch die »allzu menschliche Angst vor der Bedeutungslosigkeit« und vor der Aussicht »irgendwann spurlos von der Erdoberfläche zu verschwinden«. Umso schlimmer, wenn man sich selbst dabei beobachten kann.

Das Regiment der Vanitas

»So wollte er, das kann er aus vollem Herzen sagen, nie aussehen«, schrieb Michael Rutschky, am 14. Oktober 2005 in sein Tagebuch, nachdem er sein gealtertes Selbst – einen »Mann mit Bauch und schlaffem aufgedunsenen Gesicht« – im Spiegel erblickt hatte. Als posthum der dritte Band dieser Tagebücher veröffentlicht wurde, kam im engeren Umfeld des vormals gefragten Essayisten große Betretenheit auf. Gegen Ende, so der Titel, sei wie die Vorgängerbände »indiskret gegen jedermann, Freund und Feind« und steigere die Rücksichtslosigkeit seinen Freunden gegenüber bis zu einem Grad, den man »unwohlwollend« nennen könne. So der Herausgeber Kurt Scheel, der selbst zu diesen Freunden zählte, in seinem Vorwort. Was Rutschky in seinen Aufzeichnungen preisgibt, geht über schmerzhaften Realismus hinaus und hält die Verletzungen, welche die Wirklichkeit ihm und anderen zufügt, mit einer gewissen intellektuellen Befriedigung fest. »Das gehört zu der eigenen Alters- und Abschiedsrhetorik«, konstatiert er, als Scheel ihn einmal in weinseliger Laune lobt, mehr für einen Jungautor getan zu haben als er selbst: »Delegation, altruistische Abtretung. Man ahnt dahinter ziemlich viel Hass und Neid. Was Scheels Hass und Neid gegen R. angeht, so befindet dieser sich immer im Unklaren.«

»Das Bild, das man von Michael Rutschky hatte«, schreibt Scheel im Vorwort, »das Bild, das Michael Rutschky von sich selber hatte oder von dem er wollte, dass es die anderen von ihm haben, zerbricht in diesen späten Tagebüchern«. Selbst der zeitweise viel zitierte Name Rutschky (mit dem oft auch seine Frau Katharina gemeint war) hat im Tagebuch seinen Wohlklang verloren und ist darin zum mumienhaften Kürzel »R.« verdorrt: »Jörg Lau erklärte ihnen, welche Chancen der Irakkrieg bietet, und kein einziger Gedanke stammt von R.«, registriert Rutschky den geistigen Ablösungsprozess seines Erben. Michael Rutschky sei nicht gut gealtert, schreibt Scheel, der sich im Juli 2018 das Leben nahm, und so gleiche sein Schicksal dem manches Zeitgenossen, der »wohl ein bedeutender, aber kein prominenter Autor« gewesen war.

Mit seiner Selbstliterarisierung als R. reduziert sich Rutschky auf eine rudimentäre Identität, dem alles nach und nach verloren geht, was ihn einst ausgezeichnet, als Mann, Freund, Intellektuellen und väterlichen Inspirator gefragt und anziehend gemacht hat. Verloren ans Alter und an die Aktualität, deren Kehrseite die Kurzlebigkeit ist. Verloren endlich, weil sich jenes liberale publizistische Justemilieu der alten Bundesrepublik, das ihn und seine Frau Katharina als freischwebende Intellektuelle über Jahrzehnte hinweg getragen hat, auflöst. Mit der Privatisierung des Rundfunks beginnt die Herrschaft der Quote, und vollends mit dem Aufkommen des Internets wurde offenbar, dass sich die Qualitätspresse zu erheblichen Teilen aus dem Anzeigengeschäft finanziert hatte.

Gegen Ende beginnt 1996 mit der Betrachtung des Hauptes einer Toten, deren Identität erst viel später explizit bestätigt wird, als der Autor im Jahre 2006 den zehn Jahre zurückliegenden Tod seiner Mutter erwähnt. »Das Gesicht der Toten als Ganzes ist ihm schon entfallen«, lautet der erste Satz, »es war halt kein Ganzes mehr«. So stehen die Aufzeichnungen der mutterlosen Jahre von Anfang an unter dem Regiment der Vergeblichkeit. Die Literaturpreise, die R.s intellektuelle Lebensleistung öffentlich hätten besiegeln können, gehen immer an andere. Je tiefer R. gräbt, desto unappetitlicher wird es. Auf Hass und Neid folgen endlich Krankheit und Tod. Zu den Kränkungen, die Rutschky den ihm bis zuletzt Nahestehenden hinterlässt, zählt auch, dass ihre Liebe und Fürsorge den Ekel darüber nicht aufzuwiegen vermochten.

Alexander Görlach: Homo Empathicus. Von Sündenböcken, Populisten und der Rettung der Demokratie. Herder, Freiburg i. Br. 2019, 192 S., 18 €. – Wilhelm Hopf (Hg.): Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ›Feinde‹. Lit, Münster 2019, 320 S., 24,80 €. – Michael Rutschky: Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996–2009. Berenberg, Berlin 2019, 360 S., 24 €. – Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen. Edition suhrkamp, Berlin 2019, 171 S., 16 €.

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