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Ein Blick in Bücher über das Leben auf dem Land Zwischen Sehnsucht und Realität

»De Welt geiht ünner«, unkt Marret Feddersen in Dörte Hansens Roman Mittagsstunde von 2018, doch die Menschen in der nordfriesischen Provinz sind gegen solche Endzeitprophezeiungen ebenso resistent wie gegen die frohe Botschaft, die ihnen ein Pastor Ahlers zu verkünden sucht. Mittagsstunde ist der zweite von mittlerweile drei erfolgreichen Romanen, in denen sich die Autorin von einem traditionellen Obstbaugebiet im Süden Hamburgs (Altes Land, 2015) über ein Dorf in Nordfriesland bis auf eine namenlose Nordseeinsel (Zur See, 2022) vorgearbeitet hat.

Zum Erfolg dieser Bücher hat sicherlich auch die Sehnsucht abhängig beschäftigter Stadtmenschen nach einer Synthese von verlorenem Paradies und Homeoffice beigetragen, die durch den Lockdown während der Coronapandemie noch verstärkt wurde. Hinter den Romanen von Dörte Hansen aber steht nicht bloß der Hang zur Idylle, sondern wie in Juli Zehs Unterleuten (2016), Jan Brandts Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt (2019) und Christoph Peters’ Dorfroman (2020) eine Auseinandersetzung mit der Dichotomie von Stadt- und Landleben.

Der Wechsel vom Land in die Stadt gehört seit dem Beginn der Industrialisierung für viele Familien in Deutschland zu ihrer erzählten Familientradition, und in mancher Einwandererfamilie wurde dieser fundamentale Traditionsbruch noch durch einen radikalen Kultur- und Sprachbruch verstärkt. In den wachsenden Städten vereinte sich eine Vielzahl scheinbar homogener Lokal- und Regionalkulturen zu jener »Buntheit«, für die viele Menschen das Stadtleben schätzen, während andere dies eher als Zumutung empfinden.

So löst gerade die Stadt als Zuflucht heute eine neue Fluchtbewegung aus, die in Hansens Debütroman Altes Land aus dem hippen Altona ins Elbmarschgebiet zurückflutet und in ihrem jüngsten Werk Zur See inselfremde Sommerhauskäufer und Tagestouristen zur Expressentschleunigung auf die Insel treibt. Schon in Altes Land hat sie das »Bauerntheater« karikiert, das dort für Touristen inszeniert und mit alten, wurmaffinen Apfelsorten dekoriert wird. »Es war ein großes Missverständnis«, wird dieser Zustrom in Mittagsstunde kommentiert: »Die Leute aus der Großstadt suchten die Natur und das Ursprüngliche, und in den Dörfern wurde es gerade abgeschafft.«

Nachdem Generationen von ihnen den Launen der Natur ausgesetzt waren, haben Hansens Geestbewohner in den 60er Jahren den Spieß umgedreht: »Alles war auf einmal möglich: Flüsse gerade machen, Felder größer, Tümpel, Hecken, Unkraut weg, Erträge höher, Kühe besser, Kinder klüger.« Aber nicht nur wegen der Flurbereinigung geht die Welt von Gestern »ünner«. In Zur See erwartet der Ex-Kapitän Ryckmer Sander angesichts der Klimakatastrophe eine große Flut, die die Nordseeinseln vom Antlitz der Erde tilgen könnte.

Gemein ist diesen Romanen, dass sie selbst durch die Figurenperspektiven ihrer Romangestalten von außen auf die mit Dorf- und Inseloriginalen und plattdeutschen Sätzen dekorierte Welt schauen. Die neue Landlust scheint auch mit einem Rückzug aus der Vertikalen mehrstöckiger Stadthäuser ins Horizontale ländlicher Siedlungsformen verbunden zu sein, die der digitalen Arbeits- und Kommunikationswelt eine analoge, scheinbar bodenständigere Lebensweise gegenüberstellt.

Das traditionelle Land- und Dorfleben war durch einen geringen Grad an Arbeitsteilung gekennzeichnet, was heute den postmodernen Traum von einer autonomen und nachhaltigen Selbstversorgung beflügelt. Doch in der Praxis hieß das, dass Mann, Frau und Kinder dort mit fast allem zunächst einmal selbst fertig werden mussten oder kläglich scheiterten. Während Dorf-, Land- und Inselromane zur Sentimentalisierung des Verlorengehenden neigen, analysiert der 1962 geborene Sohn einer münsterländischen Viehbauerfamilie Ewald Frie in Ein Hof und elf Geschwister den Abschied vom bäuerlichen Leben auf weniger als 200 Seiten durchaus unsentimental.

Im Ganzen: »Mist«

Als Professor für Geschichte hat er seine Geschwister nach deren Erinnerungen befragt und Quellen zur Lokalgeschichte ausgewertet. Die meisten haben pädagogische Berufe ergriffen, und selbst der Hoferbe bringt das Landleben gelegentlich auf einen ebenso einsilbigen wie treffenden Nenner. Auf die Frage an seinen ältesten Bruder nach einer »Arbeit, die Du nicht gern gemacht hast, die richtig weh tat« lautet dessen Antwort: »Mist«. Neben dem Ausmisten nennt er auch das »Losschneiden der Flächen bei der Getreideernte« als Vorarbeit für den Einsatz des mechanischen Getreidebinders, die noch von Hand erledigt werden musste.

Die zunehmende »Penetranz der negativen Reste« (Odo Marquardt), derzufolge die Lösung von Problemen bei vielen Menschen nicht dazu führt, dass sie mit ihrer Gesamtsituation zufriedener sind, wirkt also auch in der Landwirtschaft, und Fries Buch zeigt anschaulich, dass sich die technische und soziale Entwicklung auf dem Lande für Bauernfamilien bisweilen gegenläufig entwickelte. So wurden Knechte und Mägde, die als Mitbewohner der Höfe früher die unangenehmeren Arbeiten erledigt hatten, im 20. Jahrhundert von Eleven und Landarbeitern ersetzt, an deren Stelle aufgrund der nach 1945 stark steigenden Löhne vielfach Familienmitglieder und Maschinen traten.

Pointiert schreibt Frie: »Erstmals wahrscheinlich seit dem beginnenden 18. Jahrhundert war unsere Familie Mitte der 1960er-Jahre allein auf dem Hof.« Das Idealbild vom ganzen Haus, das Ahnen und Enkel an einem Tisch und unter einem Dach vereinte, war hier ein relativ kurzlebiges Produkt sozialen Wandels, und Frie variiert auch das Bild vom Dorf als Bauerndorf. Als mittelständige Bauern verband seine Ahnen und deren weit verstreute Hofnachbarn wenig mit dem eher von Handwerk und Kleinbauern geprägten Dorfleben, was sich dadurch illustrieren lässt, dass im Münsterland die Dorfjungen im 20. Jahrhundert in den Fußball- und die standesbewussten Jungbauern in den Reiterverein gingen.

Vom Mistschaufeln kamen sie dadurch freilich nicht los. Eher im Gegenteil: Die Intensivierung sprich: Mechanisierung der Landwirtschaft führte auch zum Anwachsen der bewirtschafteten Flächen und des Viehbestands. Damit wuchs die Belastung durch Nebenarbeiten wie dem erwähnten Losschneiden, die sich noch nicht mechanisieren ließen. Noch in Fries Zeiten erkannte man Bäuerinnen, die wie seine Mutter nicht auf dem Feld mitarbeiten mussten, an ihrer hellen Haut und ihrem geraden Wuchs, während es Kleinbäuerinnen ging wie dem Vater des Autors – sie waren im Sommer braun und mit zunehmendem Alter buchstäblich krummgearbeitet. Was bei Hansen als Entfremdung von etwas Ursprünglichem erscheint, erweist sich in Fries Darstellung auch als Befreiung.

Sehnsucht nach dem Verlorenen

»Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied«, bilanziert Frie: »Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen.« Die von vielen Landwirten zunächst misstrauisch beäugten Zauberformeln dafür hießen BAföG und landwirtschaftliche Altersrente. Sie ermöglichten es seinen Eltern aufs Altenteil zu gehen, während noch Kinder in der Schule oder Ausbildung waren, und sie ermöglichte es denen wiederum, frei über ihren Berufsweg zu entscheiden. Könnte es ein größeres Lob für eine gelungene Sozialpolitik geben als dieses Resümee eines habilitierten Sohnes einer katholischen Bauerfamilie? »Für Mutter wie für ihre eben zitierte Schwester war es ein Segen, dass der Staat ihren Kindern die Spielräume schuf, die sie selbst in ihrer Jugend so vermisst hatten.«

»Die Zeit der Bauern ging zu Ende«, heißt es am Schluss von Mittagsstunde elegisch, aber das tut sie bereits seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, und seit jeher gab es die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Beethovens 1807/08 entstandene Sechste Symphonie beschwor das »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande«. Ihre Bezeichnung »Pastorale« weist zurück auf die früh- und vorchristliche heidnisch-vorbäuerliche Zeit der Hirten, über die jedoch schon in einem Psalm Davids ein göttlicher Krummstab regierte: »Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln./Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.« Wer allein von Gras und frischem Wasser zu leben vermag, wird sich dort wohlfühlen, bis dann der Winter kommt, der erste Zahnschmerz oder der böse Wolf.

Dörte Hansen entwickelt in ihren Romanen eine Vielfalt von Figurenperspektiven, um damit ein komplexes, aber rückwärtsgewandtes Bild vom Land- und Inselleben zu zeigen. Dagegen streben die Aussagen Fries und seiner Geschwister in alle Richtungen auseinander, ganz nach der Devise, dass hier jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle: »Bin ich ein Aufsteiger?«, fragt sich Frie: »Meine Wohnung ist viel kleiner als der Wohnbereich des Hofes meiner Eltern. Ich besitze kein Land, kein Haus, keine Tiere, keine Apfelbäume und keine Feuerstelle. Mein Vater war in den 1950er-Jahren ein angesehener Rinderzüchter mit Kühen auf DLG-Schauen, einer Parade von Ehrenurkunden nahe dem Hauseingang und stolzen Verkaufserlösen auf dem Zuchtviehmarkt. Ich habe einen Professorentitel und eine lange Publikationsliste. Läuft das nicht eher auf ein solides Unentschieden hinaus?«

Doch ließe sich das eine mit dem anderen nicht vereinen? Der Strukturwandel der Landwirtschaft bis hin zu deren Industrialisierung ist eine Folge der wachsenden Ansprüche einer wachsenden Zahl von Menschen. Der Natur aber, die den Städtern im Dorf so nah erscheint, war das schon immer egal: »Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch«, lautet deshalb der letzte Satz in Hansens Mittagsstunde.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland. C.H.Beck, München 2023, 191 S., 23 €. – Dörte Hansen: Zur See. Penguin, München 2022, 256 S., 24 €. – Dies.: Altes Land, Penguin, München 2020, 288 S., 12 €. – Dies.: Mittagsstunde. Penguin, München 2021, 336 S., 22 €.

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